Feldpost (eBook)
352 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-44447-4 (ISBN)
Mechtild Borrmann, Jahrgang 1960, verbrachte ihre Kindheit und Jugend am Niederrhein. Bevor sie sich als Schriftstellerin einen Namen machte, war sie u.?a. als Tanz- und Theaterpädagogin und Gastronomin tätig. Die Autorin ist mit zahlreichen renommierten Preisen, u.a. dem deutschen Krimipreis ausgezeichnet worden. Ihre Romane 'Trümmerkind', 'Grenzgänger' und 'Feldpost' standen monatelang unter den TOP 10 der Spiegel-Bestsellerliste. Mechtild Borrmann lebt als freie Schriftstellerin in Bielefeld.
Mechtild Borrmann, Jahrgang 1960, verbrachte ihre Kindheit und Jugend am Niederrhein. Bevor sie sich als Schriftstellerin einen Namen machte, war sie u. a. als Tanz- und Theaterpädagogin und Gastronomin tätig. Die Autorin ist mit zahlreichen renommierten Preisen, u.a. dem deutschen Krimipreis ausgezeichnet worden. Ihre Romane "Trümmerkind" und "Grenzgänger" standen monatelang unter den TOP 10 der Spiegel-Bestsellerliste. Mechtild Borrmann lebt als freie Schriftstellerin in Bielefeld.
Kapitel 2
Kassel, 1935
Die Mutter hatte darauf bestanden, dass sie zur Schule gingen. Am Abend zuvor hatte Albert noch argumentiert, dass er sich sowieso nicht auf den Unterricht konzentrieren könne, aber Katharina Kuhn ließ seine Einwände nicht gelten. »Euer Vater erwartet von uns, dass bis zu seiner Rückkehr alles seinen gewohnten Gang geht!«, hatte sie mit aller Entschiedenheit erklärt.
Adele und Albert meinten, spät dran zu sein, rannten von der Burgstraße zur Straßenbahnhaltestelle Wilhelmshöhe und kamen doch noch zeitig an. Albert litt an Asthma und rang nach Luft. Die Nacht war kalt gewesen, und die bewaldeten Berghänge, die die Stadt umgaben, waren in den aufsteigenden Frühnebeln nur zu erahnen. Die taufeuchte Morgenluft kühlte ihre erhitzten Gesichter, während sie auf die Straßenbahn warteten. Dietlind und Richard Martens wohnten in der Hupfeldstraße und würden am Bahnhof Wilhelmshöhe zusteigen.
»Sollen wir es ihnen sagen?«, fragte Adele ihren Bruder und schob die krause rötliche Haarsträhne, die sich immer aus ihrem Zopf löste, hinters Ohr. Mit den Kindern des Apothekers Martens waren sie seit Jahren befreundet. Albert war sechzehn, Richard ein Jahr älter, und beide gingen aufs Friedrichsgymnasium. Adele und Dietlind waren fünfzehn und besuchten die katholische Mädchenschule Engelsburg. Auch die Eltern waren freundschaftlich verbunden. Familie Martens war oft im Hause Kuhn zu Gast gewesen. Man hatte sonntags gemeinsame Ausflüge unternommen, und zweimal waren sie sogar zusammen im Urlaub auf Borkum gewesen, aber seit Hermann Martens in die NSDAP eingetreten war, war die Verbindung der Eltern abgekühlt.
»Ich werde mit Richard sprechen. Vielleicht kann sein Vater rauskriegen, wo sie Vater hingebracht haben«, entschied Albert und warf seine lederne Schulmappe lässig von der rechten in die linke Hand. Albert war groß und dürr, und seine Bewegungen wirkten oft ein wenig ungelenk, so als habe er seine langen Arme und Beine nicht ganz unter Kontrolle.
Als Dietlind und Richard am Wilhelmshöher Bahnhof zustiegen, sah Adele an ihren Blicken, dass sie bereits davon gehört hatten. Trotzdem war da diese kleine, freudige Aufregung, die sie seit Wochen empfand, wenn Richard sie mit seinen blauen Augen ansah.
Im Waggon wurde geraucht. Albert vertrug den Qualm nicht, deshalb stellten sie sich wie immer hinten auf die offene Plattform des letzten Straßenbahnwaggons.
»Tut mir so leid«, flüsterte Richard, legte die Hand kurz auf Alberts Schulter und strich dann Adele tröstend über den Oberarm. Sie spürte die Wärme seiner Hand durch den Ärmel ihrer Strickjacke und blickte verlegen zu Boden.
Dietlind erklärte leise und mit Vorwurf in der Stimme: »Vater hat gesagt, dass es ja mal so kommen musste.«
Albert ging über die Bemerkung hinweg und wandte sich an Richard. »Weiß dein Vater, wo sie ihn hingebracht haben?« Richard schüttelte den Kopf. »Aber er hat versprochen, dass er sich darum kümmert.«
Am Adolf-Hitler-Platz verließen sie die Bahn. Ein Stück gingen sie noch schweigend nebeneinander, dann bogen die Jungen in die Wolfsschlucht zum Friedrichsgymnasium ab, während die Mädchen weiter die Wilhelmstraße entlang zur Engelsburg schlenderten. Dietlind erzählte vom vergangenen Abend beim Bund Deutscher Mädel und schien schon vergessen zu haben, dass Adele andere Sorgen hatte.
»Fräulein Lange hat gesagt, wenn du ständig fehlst, kannst du am Kaiserplatz nicht dabei sein.« Sie machte eine kleine Pause, und als Adele nicht reagierte, fügte sie an: »Das wäre doch schade, findest du nicht?«
In der Stadt war man überall mit den Vorbereitungen der Reichskriegertage des Kyffhäuserbundes beschäftigt, die am ersten Juliwochenende stattfinden sollten. Am Kaiserplatz wurde eine große Tribüne für die Ehrengäste gebaut. Man erwartete über zweihunderttausend Kriegsveteranen, und seit Wochen probten die Jungen und Mädchen der Hitlerjugend gemeinsam den perfekten Fahnenaufmarsch für die Abschlussveranstaltung. Adele war es egal, ob sie dabei sein würde. Es machte ihr sowieso keinen rechten Spaß, denn Richard und Albert machten nicht mit. Richard war Schwimmer. Er hatte die Schulmeisterschaften im 1500-Meter-Freistil gewonnen und war von den Veranstaltungen der HJ freigestellt. Er sollte an den Deutschen Jugendmeisterschaften teilnehmen, und sein Training hatte Vorrang. Albert hatten sie ausgemustert, weil er zu groß war und beim Schwenken der Fahnen ständig aus dem Rhythmus kam.
»Du störst das einheitliche Bild«, hatte Fräulein Lange gesagt, die für die Choreografie zuständig war.
Albert hatte den Enttäuschten gemimt und erst auf dem Nachhauseweg erleichtert zu seiner Schwester gesagt: »Gott sei Dank habe ich das Theater hinter mir!«
Dietlind redete ohne Punkt und Komma, während sie das letzte Stück der Wilhelmstraße mit Adele zurücklegte. Die hörte schon gar nicht mehr zu, war mit ihren Gedanken bei den Ereignissen vom Vortag.
Am späten Nachmittag hatte das Telefon geklingelt. Um diese Zeit war es für gewöhnlich der Vater, der aus seiner Spedition am anderen Ende der Stadt anrief. Albert hatte beim ersten Läuten grinsend gesagt: »Ich wusste es! Vater möchte, dass wir das Abendessen um eine Stunde verschieben.«
Die Mutter war lachend aufgestanden und hinüber ins Arbeitszimmer des Vaters gegangen, wo das Telefon stand.
»Oder nein, warte«, hatte Albert ihr nachgerufen, »er wird sagen, wir sollen mit dem Essen nicht auf ihn warten.«
Katharina Kuhn war lange nicht ins Esszimmer zurückgekommen, wo Adele und Albert mit Hausaufgaben beschäftigt waren. Nach einer Viertelstunde war Adele durch die Eingangshalle ins Arbeitszimmer gegangen, um nach ihr zu sehen. Die Mutter hatte in der Sitzecke in einem der Ledersessel gesessen und wie blind vor sich hin gestarrt. Als sie Adele endlich wahrnahm, hatte sie gesagt: »Das war Herbert Lenz aus der Buchhaltung. Sie … sie haben euren Vater abgeholt.«
Adele hatte sich in den Sessel der Mutter gegenüber fallen lassen.
»Aber warum denn?«, hatte sie ungläubig gefragt.
Katharina Kuhn hatte hilflos die Schultern gehoben und nicht geantwortet. Ganz still war es im Zimmer gewesen. Man hatte nur das gleichmäßige Ticken der alten Standuhr gehört, die links von Vaters Schreibtisch stand und die er sonntags, vor dem Kirchgang, mit dem kleinen Flügelschlüssel aufzog, der auf dem Kaminsims lag.
In Adeles Kopf war alles durcheinandergegangen, wieder und wieder hatte sie gemeint, Hermann Martens zu hören, wie er vor zwei Jahren zu ihrem Vater sagte: »Glaub mir, Gerhard, das nächste Mal kommst du nicht so glimpflich davon!«
Der Vater war kein Freund der NSDAP, und daraus hatte er nie einen Hehl gemacht. Vor zwei Jahren, im März 1933, hatten innerhalb weniger Tage an allen öffentlichen Gebäuden die Hakenkreuzfahnen geweht. SS und SA verschleppten wahllos Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftler und Juden in die Gaststätte Bürgersäle in der Oberen Karlsstraße. Sie wurden verhört, misshandelt, und etliche kamen ins Gefängnis. Als Gerhard Kuhn erfuhr, dass einer seiner langjährigen Mitarbeiter verhaftet worden war, war er zur Polizei gegangen, um herauszufinden, was man dem Mann vorwarf, aber er hatte keine Auskunft bekommen. Stattdessen hatte man ihm unverhohlen gedroht.
»Ich gebe Ihnen einen guten Rat«, hatte einer der Polizisten gesagt, »hauen Sie ab, sonst werden Sie Ihrem Mitarbeiter schon bald Gesellschaft leisten.«
Einen Tag später hatte Gerhard Kuhn bei einem Treffen mit Geschäftsfreunden empört davon berichtet, hatte von »Skandal« und »Rückfall in die Barbarei« gesprochen, und am nächsten Morgen war er, kaum dass er das Haus verlassen hatte, verhaftet worden.
Katharina, Adele und Albert hatten gar nicht mitbekommen, was sich vor der Tür zugetragen hatte. Ganz leise war das vor sich gegangen. Erst als jemand aus der Spedition durchläutete und fragte, ob der Chef noch hereinkäme, hatte Katharina Kuhn gesehen, dass der Wagen ihres Mannes, ein DKW F1, noch in der Einfahrt stand, und war unruhig geworden. Gegen Mittag hatte sie, außer sich vor Sorge, Hermann Martens angerufen. Der saß im Stadtrat und hatte Kontakte. Er war abends vorbeigekommen und wusste zu berichten, dass man den Vater wegen »verleumderischer Äußerungen gegen Führer und Reich« zum Verhör geholt hatte.
Zwei Tage war er damals fort gewesen. Zwei Tage, in denen die Mutter Himmel und Hölle in Bewegung setzte. Sie telefonierte mit Freunden und Geschäftspartnern des Vaters und bat Hermann Martens, der Gründungsmitglied der NSDAP in Kassel war, seinen Einfluss geltend zu machen. Ausschlaggebend war wohl letztlich, dass die Spedition Kuhn eine angesehene Firma mit über dreißig Mitarbeitern war. Gerhard Kuhn war bei den Kasseler Unternehmern geachtet, und es hatten sich viele Fürsprecher gefunden.
Mit einer Platzwunde am Kopf und Prellungen am ganzen Körper brachte Martens ihn zwei Tage später nachts heim. Katharina Kuhn hatte Adele und Albert zurück in ihre Zimmer geschickt, aber sie waren an der Treppe der Eingangshalle stehen geblieben und hatten gelauscht. Die Mutter weinte.
Hermann Martens hatte gesagt: »Du darfst in der Öffentlichkeit so nicht reden, Gerhard. Denk doch an deine Familie. Andere sitzen wegen solcher Äußerungen im Zuchthaus Wehlheiden, und beim nächsten Mal – da kannst du sicher sein – wirst du nicht so glimpflich davonkommen.«
Der Vater hatte seinen Rat befolgt. Gleich am nächsten Tag hatte er Adele...
Erscheint lt. Verlag | 2.11.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2.Weltkrieg • 2. Weltkrieg • Adele • Auswandern • Auswandern Portugal • beste historische romane • Bestseller-Autorin • biografische Romane • Buch 2.Weltkrieg • bücher wahre begebenheit • Bücher wie Trümmerkind • Buch für Großeltern • Buch für Oma und Opa • buchgeschenk weihnachten • deutsche Autorin Zeitgeschichte • deutsche Spannungsautorin • Drittes Reich Romane/Erzählungen • entartet • Enteignung • Feldpost • Feldpostbrief • Feldpost Soldaten • Flucht • frauen im nationalsozialismus buch • geschenke für großeltern • geschenke für oma • geschenke großeltern weihnachten • Geschenk Oma Weihnachten • Geschenk Weihnachten • Grenzgänger • gute historische Romane • Hausverkauf • Historische Romane • historische romane 20. jahrhundert • historische Romane 2. Weltkrieg • historische Romane Bestseller • Historische Romane Deutschland • historische romane wahre begebenheit • Homosexualität • Homosexuell • Jaffa Road • Kassel • Mechthild Borrmann • Mechtild Borrman • Nationalsozialismus Roman • Nazideutschland • Nazis • Nazis Roman • romane 2 weltkrieg • Romane 2. Weltkrieg • Romane nach wahren Begebenheiten • Romane nach wahren Geschichten • romane zeitgeschichte • Romane Zweiter Weltkrieg • Roman wahre Begebenheiten • Schuld • Spannungsroman • SPIEGEL-Bestseller • Stay away from Gretchen • symbolischer Hausverkauf • Symbolisch Haus • Tagebuch • Trümmerkind • Vertreibung • wahre Begebenheiten • Wilhelmshöhe • Zeitgeschichte • Zeitgeschichte 2. Weltkrieg • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-426-44447-X / 342644447X |
ISBN-13 | 978-3-426-44447-4 / 9783426444474 |
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