Aus tiefstem Herzen (eBook)
100 Seiten
S.Hirzel Verlag
978-3-7776-3254-4 (ISBN)
Erik Thomsen war bis vor ein paar Jahren geschäftsführender Gesellschafter des Familienunternehmens Lehmann und Voss (Chemie) in Hamburg (www.lehvoss.de).
Die Kunst der Beiläufigkeit
Zu den nostalgischen Klagen über die Gegenwart gehört gelegentlich auch die Feststellung, es werde nicht mehr erzählt. Die Erzählforschung als Teil der Folkloristik hat – begonnen mit den Brüdern Grimm und bis zum Gipfelplateau der 15-bändigen »Enzyklopädie des Märchens« – für die traditionellen Erzählformen so umfangreiche Ergebnisse vorgelegt, dass neuere Entwicklungen oft im Abseits blieben; und in der Bilanzierung durch Nicht-Fachleute wird der Rückgang oft noch stärker betont. Es wird nicht mehr erzählt – den Maßstab für diese Behauptung liefern romantische Bilder von Erzählrunden, die regelmäßig zusammenkamen, womöglich unter einem mächtigen Lindenbaum.
Kein Zweifel, es gab solche Zusammenkünfte, und es gab männliche und weibliche Erzählprofis, die lange Zeit einzelne Erzählkreise bedienten und beherrschten, die aber ihre Kunst zum Teil auch in Wanderungen von Ort zu Ort umsetzten. Außerdem gab es – meist nicht eigens organisiert – Erzählrunden auch in zwangsweise entstandenen Gruppen, etwa beim Militär oder in Kliniken. Und in der agrarisch bestimmten Gesellschaft fanden sich auch Wirtschaftszweige, in denen die Arbeit ganze Gruppen von Menschen zusammenführte, ohne dass sie von dröhnendem Lärm belästigt wurden. Zum Beispiel wurden Orte der Tabakbearbeitung und der Zigarrenherstellung als günstiges Erzählmilieu für die klassischen Erzählgattungen erkannt. Aber vor allem aus weniger extensiv industrialisierten Ländern kommen bis heute auch Belege dafür, dass sich das Repertoire nicht auf die klassischen Folklorestücke beschränkte, dass vielmehr auch persönliche Erlebnisse und moderne Geschichten erzählt wurden.
Die ungarische Forscherin Ilona Dobos hat dies schon in den 1960er Jahren festgestellt. Sie betont zwar, dass die Erzählerinnen und Erzähler aus einer Umgebung kamen, wo das Erzählen von Märchen als gewohnte Zerstreuung galt, dass sie aber auch mit Alltagsgeschichten auftraten. In einer von Dobos protokollierten Episode präsentiert eine Erzählerin wahre Geschichten, wie sie es nennt. Die Einleitung zu einer dieser Geschichten ist wörtlich zitiert: Ich will Ihnen eine sehr interessante Geschichte erzählen. Ich habe sie hier schon häufig erzählt. Nur weiß ich nicht, wie ihr Titel sein sollte, ›Die heimtückische Schwiegermutter‹ oder ›Die tapfere Schwiegertochter‹. Das ist sie selbst, und sie erzählt, dass ihr die Schwiegermutter nach dem Tod ihres Sohnes ein kleines Vermögen vorenthält. Die Erzählerin stellt also ihre Integrität heraus, scheut sich aber offenbar nicht, trotz der sehr persönlichen Note die Geschichte mehrfach in ihr Programm zu nehmen.
Ganz allgemein lässt sich feststellen, dass die Neuheit keine Bedingung für das Erzählen und den Erfolg des Erzählens ist. Von Kindern weiß man das; sie können geradezu süchtig werden nach einer bestimmten Geschichte, und das gilt auch für die Verlängerung in die Elektronik. Man kann beispielsweise unterstellen, dass es weltweit Millionen von Kindern gab und gibt, die sich die Weihnachtszeit nicht vorstellen können ohne die mehrfache Nutzung der in vielen Sendern bereitgestellten wunderschönen tschechischen Verfilmung einer Aschenputtel-Version. In abgeschwächter Form gilt dies aber auch für Erwachsene. Man denke nur an die Stammtische, an denen über lange Zeitstrecken die immer gleichen Personen zusammenfinden und Neuigkeiten austauschen, aber auch Geschichten am Leben halten. Grundsätzlich muss, was erzählt wird, nicht neu und unbekannt sein; es kann auch Gefallen erregen, indem es mit der Erinnerung der Zuhörenden zusammentrifft. Es stimmt auch nicht, dass man über einen Witz nur einmal lachen kann; wäre es so, müsste mancher Kabarettist in Rente gehen.
Die in dem ungarischen Beispiel vorgestellten ›gewachsenen‹ Erzählkreise, die in kleineren Orten oder Wohnquartieren für alle offen standen, gibt es bei uns kaum mehr, und sie dürften auch schon lange verschwunden sein. Das Bedürfnis einer gemeinsamen Unterhaltung durch Erzählungen wird aber hie und da in eigens organisierten Formen gedeckt – durch Angebote in Schulen, bei Erzählabenden von Jugendgruppen am Lagerfeuer, in speziellen Märchenkreisen. Auch besondere Wettbewerbe finden hin und wieder statt wie das Lügenbeutelfest in der kleinen schwäbischen Stadt Vellberg, wo allerdings überwiegend schriftlich fixierte Lügengeschichten vorgetragen werden. Außerdem gibt es Erzählrunden mit einer therapeutischen gruppendynamischen Funktion.
Aber auch sonst wird erzählt. Es fällt nur wenig auf, weil die Unauffälligkeit zur Stilform der heutigen Erzählvorgänge gehört. Die Erzählungen sind eingebettet in Gespräche; es sind – in der linguistischen Benennung – konversationelle Erzählungen. Das heißt nicht nur, dass ein Rahmen gegeben ist, in dem vor und neben der Erzählung auch andere Äußerungen zur Geltung kommen, sondern auch, dass sich das Erzählen nach diesem Rahmen richten und dass die Erzählung in diesen Rahmen passen muss. Die Beiläufigkeit des Erzählens ist dabei nicht nur ein Faktum, sondern eine Norm. Eine junge Frau brachte dies in einem Bericht über das Erzählen in einem Kreis von Jugendlichen klar zum Ausdruck: Manchmal, wenn wir zusammensitzen, merke ich: der will unbedingt noch eine Geschichte loswerden. Aber er darf natürlich nicht einfach drauf los erzählen, er muss eine gute Gelegenheit abwarten. Oder, so kann man hinzufügen, er oder sie muss eine gute Gelegenheit schaffen.
Dazu gibt es Taktiken, stilistische Tricks, die den Gestus der Beiläufigkeit bewahren und doch auf das volle und alleinige Recht zum Erzählen zielen. Mit einer literarischen Erzählpassage über das Erzählen lässt sich dies vorführen. Christoph Hein veröffentlichte 1984 in der DDR »Das Wildpferd unterm Kachelofen« als Kinderbuch; aber es ist auch ein Buch für Jugendliche und Erwachsene mit allerhand bunten Geschichten. Ein Kapitel handelt vom Clochard Panadel, der als leidenschaftlicher Erzähler vorgestellt wird:
Nichts liebte Panadel der Clochard mehr, als über das Leben zu plaudern. Wann immer er eine Gelegenheit sah, erzählte er eine Geschichte darüber. Und er erzählte sie auch, wenn keine Gelegenheit da war. Er war durch die Welt gekommen und hatte dies und das erlebt, worüber man reden könnte, und er redete gern. Und wie alle Geschichtenerzähler war er der Ansicht, seine Erfahrungen könnten der Jugend von Nutzen sein. (…) Wenn der Clochard etwas erzählen wollte, so pflegte er zuvor seltsame, kleine Bemerkungen von sich zu geben, von denen er annahm, dass sie Interesse weckten. So brachte er es fertig, an einem schönen Sommertag, während alle am Strand des Flusses lagen, sich in der Sonne wärmten und vom Schwimmen ausruhten, plötzlich zu verkünden: ›Geteiltes Leid ist halbes Leid.‹ Oder er sagte: ›Das ist nun bald sechzig Jahre her.‹ Oder auch: ›Das wird die Nadel aus der Rille reißen.‹ Einmal rief er sogar voll Inbrunst: ›London – das Mekka jedes jungen Anwärters auf finanziellen Erfolg.‹
Mit solcherlei Unsinn versuchte er, Aufmerksamkeit zu erregen. Und sobald einer unüberlegt, weil schläfrig, fragte: ›Was willst du damit sagen?‹, fand Panadel eine gute Gelegenheit, über das Leben zu erzählen und begann: ›Nun, das ist eine lange Geschichte. Aber da du mich so dringlich darum bittest, will ich sie dir erzählen. Also, hör zu, es war folgendermaßen.‹ Und dann erzählte er und erzählte.
Bei Christoph Hein mündet die Geschichte in die Feststellung, dass sich alle langweilten, dass allen der Sonntag verdorben war – außer dem Clochard. Dieser einseitige Befund ist aber keineswegs zwingend. Auch das beiläufige Erzählen kann die Zuhörenden in seinen Bann schlagen, und der Trick des Clochards, der mit einer merkwürdigen Aussage einen Köder auswirft, ist nicht der einzige mögliche Weg.
Eine Systematik des Beiläufigen kann nicht entwickelt werden, weil sich die Vielfalt der Erzählsituationen dem verweigert. Aber immerhin lassen sich einige häufiger vorkommende Darbietungsformen mit ihren zugehörigen Eröffnungsstrategien herausarbeiten. Versuchsweise verwende ich für die Gliederung die drei Stichwörter Aktualisierung, Assoziation und Apologie.
Aktualisierung: Interessante kleine Geschichten werden gespeichert, wandern ins Repertoire, werden bei der Neuaufnahme aber näher an die Gegenwart herangerückt – was als aktuell vorgestellt wird, findet im Allgemeinen mehr Aufmerksamkeit als längst Vergangenes. In Stuttgart gab es vor einigen Jahren eine große Razzia in einer ›Sauna‹ – einer Sauna mit Anführungszeichen. Erzählenswert wurde die Aktion dadurch, dass offenbar einige vornehme Herren halbnackt aus dem Etablissement flohen. Zufällig hörte ich die Geschichte zweimal in einem gewissen Zeitabstand vom selben Mann, der sie aber in beiden Fällen als ganz aktuelle eigene Beobachtung stilisierte. Die zeitliche Nähe, zudem oft verbunden mit der örtlichen Nähe, ist ein Magnet für potenzielles Publikum, und sie bietet eine gute Chance, Gespräche in die Bahn einer Erzählung zu lenken.
Assoziation: Noch besser und leichter funktioniert dies, wenn sich das Gespräch bereits in einem Themenkreis bewegt, zu dem eins der Beteiligten auch eine Geschichte parat hat. Ein Beispiel für die assoziative Fortsetzung: Zu einer Debatte über Erfahrungen mit Verkehrsstau können in einem kleinen Kreis fast alle ihre Erfahrungen beitragen; aber manchmal kann einer oder eine auf ein ungewöhnliches Erlebnis zurückblicken,...
Erscheint lt. Verlag | 25.4.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
ISBN-10 | 3-7776-3254-6 / 3777632546 |
ISBN-13 | 978-3-7776-3254-4 / 9783777632544 |
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