Ich werde leben (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
349 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77264-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ich werde leben -  Lale Gül
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Lale Gül hat einen autobiografischen Roman geschrieben: über das Aufwachsen eines muslimischen Mädchens im abgehängten Amsterdamer Westen, über Grenzen, Gebote, Loyalitäten einer ultrakonservativen Familie, über die Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben. Bei seiner Veröffentlichung bricht die Hölle los, und plötzlich steht sie zwischen Rechten, Linken und religiösen Fanatikern, im Kampf um die eigene Stimme ...

Ich werde leben erzählt in einer Sprache ohne Respekt von einer jungen Frau auf dem Schlachtfeld der Zugehörigkeiten, von ihrem Zickzackkurs entlang Familie, Glaube, Freiheit und unserer Gegenwart, vom modernen Kampf um Identität und Diversität im Abendland. Ein einzigartiges Zeugnis gegen die Kräfte der Unterdrückung, von welcher Seite auch immer.



Lale G&uuml;l, geboren 1997 in Amsterdam, studiert Niederl&auml;ndische Literatur und Kultur in ihrer Heimatstadt. Bis zu ihrem siebzehnten Lebensjahr besuchte sie eine Koranschule der Mill&icirc;-G&ouml;r&uuml;?-Vereinigung. Ihr Deb&uuml;troman <em>Ich werde leben</em> schoss nach Erscheinen auf Platz 1 der Bestsellerliste und l&ouml;ste eine landesweite Debatte aus. Lale G&uuml;l erhielt Morddrohungen und musste abtauchen.

2


Sich an den Gesetzen der türkischen Konservativen zu vergehen ist wohl das Schlimmste, was man Mutter antun kann. Sie versteht sich als deren Hüterin. Oma dagegen bricht mit allen Konventionen und auch ich verfüge dahingehend über Talent, daher haben Oma und ich, obwohl wir auch mal aneinandergeraten, ein enges Verhältnis; bei Streitigkeiten stellt sie sich schützend vor mich, nimmt, wenn irgend möglich, den Druck vom Kessel. Wenn meine Erzeuger mich terrorisieren, schließen wir die Reihen. Ich mache das genauso für sie. Auch unter Zeugen flucht Oma oder ruft den Tod an, und das stellt laut unserem Glauben eine entsetzliche Sünde dar. Leid ist mit »Würde, Geduld und Selbstbeherrschung« und so weiter zu erdulden, denn das ist laut Mutter »edelmütig«. Ein jeder hat also sein Kreuz zu tragen, nur ohne Kreuz dann. Den Tod darf man nicht anrufen, Allah allein bestimmt, wann deine Zeit gekommen ist. Leid ist Teil deiner Prüfung und von Gottes Plan. Inzwischen weiß ich, dass sich die besten Pläne durch ihre prinzipielle Unausführbarkeit auszeichnen.

»Er möchte sehen, ob du ohne Gejammer, ohne deinen felsenfesten Glauben an Ihn aufzugeben, Leid ertragen kannst.« Schon als Kind fiel es mir schwer, dieses Konzept zu verstehen. Wurden meine Fragen ihr lästig, sagte Mutter damals, ich sei zu jung, um es zu begreifen, aber mit den Jahren ist es nicht besser geworden, im Gegenteil. Einmal hat sie es mit einer Analogie erklären wollen: »In der Schule musst du doch auch Prüfungen schreiben, und obwohl die Lehrer alle richtigen Antworten verraten könnten, weigern sie sich, wie schwer es dir auch fällt, weil sie nämlich sehen wollen, ob du es eigenständig schaffst. So ist auch dieses Leben eine Prüfung durch Allah, bei der Er der Aufseher ist.«

Prüfung ganz sicher, vielleicht mehr im Sinne von Experiment. Schon als Kind war mir klar, dass der Vergleich hinkte, aber instinktiv beließ ich es dabei.

Oma empfand Widerwillen gegenüber allem Gottesfürchtigen, auch wenn sie es nicht aussprach. Regelmäßig musste Mutter sie auf die Gebetszeit hinweisen, fünf Mal am Tag, also schwierig, sich jedes Mal zu entziehen. Beim Ramadan machte Oma auch nicht mit. Ihre Krankheit dient jetzt als Ausrede, aber es war mir nicht entgangen, dass sie früher schon im Geheimen schmatzte, schlürfte. Damit der Gesetzesbruch in unserem Fanatikerhaushalt verborgen blieb, wurde ich als Kind bestochen; von ihrer Grundrente gab sie sowieso nichts aus, Mutter kümmerte sich schon damals ums Essen und ihre Kleidung (Mutter kann gut schneidern), es war Schmiergeld über.

Lamentiert Oma, sagt Mutter verbissen, Oma habe Bittgebete zu verrichten oder Korankapitel zu rezitieren, das würde sicher helfen. Oma wird dann sauer und sagt nichts mehr, brodelt wie kurz vor dem Ausbruch. Es braut sich etwas zusammen unter ihrer Haut, ich sehe, wie es zuckt. Kürzlich sprang das Ventil auf: »Quatsch«, sagte sie gereizt, als Mutter ihr zum Beten riet. Die Hausdespotin setzte daraufhin mit lauten Gebeten ein, Gott möge die lästerlichen Worte, von Beelzebub eingeflüstert, vergeben, und ermahnte die Sünderin. Oma solle bloß aufpassen und ihr Herz mit Gottesfurcht füllen, im Jenseits müsse sie noch Rechenschaft ablegen für den Zorn, den sie auf sich gerufen habe. Und wenn man ihre Situation bedenke, sei dieser Moment schon gefährlich nah, es fehle ihr an Umsicht. Je älter man wird, desto mehr verliert das Zeitliche seinen ursprünglichen, rein theoretischen Charakter.

Während ich meine Tasche ablege und den Schlüsselbund auf den Schreibtisch werfe, sehe ich aus dem Augenwinkel Oma im Wohnzimmer sitzen. Es glüht, laut Thermometer 27 Grad. Sie trägt einen langen Blümchenrock, wie immer, und eine gestrickte Weste. Selbstverständlich hat sie ihr weißes Kopftuch auf. Ich kann mich nicht entsinnen, wann ich sie das letzte Mal ohne Kopftuch gesehen hätte, es scheint mit ihr verwachsen. Ältere Menschen legen es aus Gewohnheit fast nie ab, lediglich beim Duschen, obwohl es in den eigenen vier Wänden nicht getragen werden muss, jedenfalls wurde mir das auf der Koranschule so beigebracht, als ich dort jedes Wochenende meiner Kindheit und Jugend eine Extra-Ausbildung durchlief.

In der Praxis sind viele Dinge eher kulturell bedingt als durch die Heilige Schrift vorgegeben; die mir vermittelte Doktrin passt merkwürdigerweise gar nicht zum Leben der Muslime in meiner Umgebung, was ich als Jugendliche nur schwer begreifen konnte. Heute weiß ich, dass Heuchelei und Unstimmigkeiten einfach unentbehrlich sind für ein frommes Leben. Ich glaube, es gibt viel mehr Muslime als Menschen, die wahrhaftig an Allah glauben. Viel, viel mehr. Ein frommer Heide ist weniger unwahrscheinlich als ein frommer Muslim.

Zum Beispiel: Ein verzinsliches Geldgeschäft stellt eine unverzeihliche Sünde dar, trotzdem nehmen viele eine Hypothek oder ein Darlehen auf, einschließlich meiner Verwandten, die mir ihrerseits das Schänden unantastbarer Vorschriften vorwerfen. Meine Erzeuger würden es niemals gutheißen, wenn ich mit einem nur zum Glauben bekehrten Muslim nach Hause käme. Wer mit Pech umgeht, besudelt sich, lautet ihr Argument. Besser aus einem Holz geschnitzt sein. Auch übertrieben luxuriöse Prunk-und-Prahl-Hochzeitsfeiern haben in der reinen Lehre keinen Platz; dort wird für Einfachheit im irdischen Leben geworben und extravagante Ausgaben für weltlichen Tand sind verboten. Das Beten fünfmal am Tag ist eine ernste Verpflichtung, doch viele Muslime, vor allem Männer, kommen dem nicht nach.

Natürlich kann man sich fragen, was denn nun die eine Gotteslehre ist; Lesarten gibt es unzählige, damit will ich niemanden langweilen, doch ich beziehe mich hier auf meine, unsere Lehre, wie ich sie auf der Koranschule der islamischen Gemeinschaft Millî Görüş gelernt habe, wo ich von meinem sechsten bis siebzehnten Lebensjahr hinmusste, unter Zwangsherrschaft der Potentatin Karbunkel, auch Mutter genannt, Verkörperung des Bösen, Nesttyrannin, eine Krankheit, gegen die kein Kraut gewachsen ist, eine vom Scheitel bis zur Sohle mit Groll gegen mich erfüllte Frau, Anstifterin aller Verwüstungen und Urheberin meiner Tragödie. Der Name eines Menschen sollte eigentlich von seinen Taten abgeleitet sein.

Geht es um Luxus, Geld oder ein Leben im Wohlstand, also um in der Lehre scharf kritisierte oder vollkommen nebensächliche Angelegenheiten, kokettiert man um die Wette. Für Festlichkeiten wird kein Aufwand gescheut, die Frauen frönen ihrer Abhängigkeit von Soaps über verbotene Liebschaften im türkischen und arabischen Fernsehen (bei den Türken eingekauft und übersetzt), Jugendliche laufen in unbezahlbaren Markenklamotten durch die Gegend, trotz mickrigem Gehalt der Erzeuger und Behausung im Elendsviertel. Als ich einmal auf der Amsterdamer Shoppingmeile P.C. Hooftstraat herumlief, war meine halbe Nachbarschaft da, obwohl sie und ihre Familien noch viel Monat übrig haben, wenn das Geld aufgebraucht ist, jedenfalls nach meinem Kenntnisstand. An Zahltagen erlebe ich regelmäßig, wie sich Kollegen, kaum ist der Regalauffüllerlohn auf dem Konto eingegangen, eine Jacke von Canada Goose, eine Vuitton-Tasche, einen Gucci-Gürtel, eine Bomberjacke oder Schuhe von Isabel Marant, Balenciaga oder Alexander McQueen bestellen, obwohl sie danach keinen Euro mehr für ein Pausenbrot übrig haben. Die Jugend hört Drill Rap von Hautfarben-Buddys, die ein aggressives, promiskuitives, kriminelles und nihilistisches Leben predigen. Beim Rap wird das mit Losungen aus der Glaubenslehre kombiniert, eine giftige Mischung, die mein Fassungsvermögen übersteigt, vor allem, wenn man bedenkt, dass Musik laut Lehre sowieso verboten ist. Wie Regen und Wind einzeln gut zu ertragen sind, in Kombination aber nervtötend wirken, sind Menschen, die die Lehre mit der Beweihräucherung von Straßenkultur und Kriminalität verbinden und einer Art Gangster-Islam anhängen, wirklich von der allerschlimmsten Sorte. Viele legen sich systematisch auf die Sonnenbank, weil Blässe in unserer sozialen Schicht ein No-Go ist: Leicht gebräunte Haut ist das Maximum an Vornehmheit. Sogar Mädchen mit...

Erscheint lt. Verlag 11.4.2022
Übersetzer Dania Schüürmann
Sprache deutsch
Original-Titel Ik ga leven
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Frauen im Islam • Islam • Islamisches Familienleben • Mädchen im Islam • Muslima • neues Buch • orthodoxer Islam • Selbstbestimmung • ST 5235 • ST5235 • suhrkamp taschenbuch 5235
ISBN-10 3-518-77264-3 / 3518772643
ISBN-13 978-3-518-77264-5 / 9783518772645
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