Knecht, allein (eBook)

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
318 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77215-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Knecht, allein - Gerbrand Bakker
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Der Schriftsteller Gerbrand Bakker leidet an Depressionen und wegen der verschriebenen Antidepressiva an Libidoverlust. Eine Sexologin rät ihm, eine love map zu erstellen. Er folgt ihrem Rat und verzeichnet in Knecht, allein, seiner persönlichen Liebeskarte, alle im weitesten Sinne zur Geschichte seines Liebens gehörenden Erinnerungen. Er schreibt von einem Roadtrip nach Griechenland, einer Wanderung in Wales, von Gesprächen mit Freunden und den Nachbarn in der Eifel - und sucht in diesen Erinnerungen nach einem möglichen Auslöser seines depressiven Weltverlusts.

Knecht, allein liefert psychologische Einsichten in das Leben und Lieben eines Depressiven, wie man sie in dieser Ehrlichkeit und Klarheit selten liest. Der »Sprachhandwerker« Gerbrand Bakker umkreist sein Selbstverhältnis zu seiner Krankheit, sucht fast fiebrig nach den geeigneten Worten, um die Leere zu greifen, und begegnet ihr zugleich mit einer besonderen Lakonie, mit Humor und Freimut.



Gerbrand Bakker, 1962 in Wieringerwaard geboren, ist Autor und Gärtner, hin und wieder auch Eisschnelllauftrainer. Für seine Romane, die in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurden, hat er zahlreiche Preise erhalten. Bakker lebt in Amsterdam und in der Eifel.

37


Eifel. Die Öfen brennen, der in der Küche summt und knackt. Wenn man sich gut fühlt, legt man sich auf eine der Küchenbänke und schließt die Augen. Hin und wieder hört man dann ein Auto vorbeifahren, es klingt nach Nässe. Die Straße ist die ganze Nacht schneefrei gehalten worden, mit viel Lärm und rotem Blinklicht, das durch mein Schlafzimmer streifte. Ungefähr fünfhundert Meter von meinem Haus gibt es ein Salzdepot. Dieses Stück ist immer als Erstes an der Reihe. Gestern habe ich frisches Vogelfutter ausgestreut und Meisenknödel aufgehängt. Heute sind alle wieder da, einschließlich des Eichelhähers, der in drei, vier Anflügen den ganzen Futtertisch leert. Manchmal versucht er, einen Meisenknödel mit einem einzigen Ruck abzureißen. Das schafft er nicht. »Häher« gibt lautmalerisch den Ruf des Vogels wieder, man vergleiche den volkstümlichen niederländischen Namen schreeuwekster, wörtlich Schreielster. Ich bin kurz vor acht aufgestanden. Weil ich aus dem Bett wollte. Das ist lange nicht mehr vorgekommen. Frühstück im grauen Morgenlicht.

Chemische Kriegführung. Dieser Begriff ist mir gestern plötzlich in den Sinn gekommen, seltsamerweise aber in der englischen Form: chemical warfare. Was sich in den vergangenen Monaten abgespielt hat, war weniger der Kampf gegen eine Depression als der Kampf gegen eine durch ein Medikament verursachte Depression. Macht das die Sache noch schlimmer als ohnehin? Nun ja, teilweise war es für die Wut verantwortlich, über die ich bereits geschrieben habe. Heute begreife ich nicht, warum ich im September, als ich doch spürte, dass etwas ganz und gar nicht gut lief, die Tabletten nicht abgesetzt habe. Ich nahm eine Vierteltablette und kroch auf den Knien über die Steinchen in der Einfahrt, um Unkraut zu jäten – weil ich irgendetwas tun wollte, in Bewegung bleiben wollte. Mir war klar, dass es am Escitalopram lag. Ich wusste, dass so etwas vorkam; wenn ich recht informiert war, sogar mehr oder weniger regelmäßig: Zuerst geht es einem schlechter, dann besser. Das ist der Grund, weshalb ich im September nicht aufgehört habe. Ich begreife es also doch.

Außerdem erinnerte ich mich, dass es mir schon einmal – vor zwei Jahren? – eine, vielleicht auch zwei Wochen lang genauso ergangen war, weil ich eine Äußerung meines damaligen Hausarztes wörtlich genommen hatte: »Wenn Sie wieder anfangen wollen, tun Sie es ruhig mit voller Ladung.« Das ging offensichtlich nicht. Damals konnte ich Witze darüber machen, ich sagte zu Freunden und Bekannten, es sei doch ein Glück, dass ich auf dem Beipackzettel gelesen habe, die Einnahme könne Suizidneigungen auslösen, und genau das sei der Grund, dass bei mir keine Neigungen dieser Art auftreten: Weil ja auf dem Beipackzettel davon die Rede sei, würden mich solche Gedanken nicht erschrecken.

Nach Scherzen war mir jetzt nicht zumute. Wenigstens schaffte ich es, mir selbst immer wieder zu sagen, dass das, was mir geschah, in erster Linie durch ein Medikament verursacht wurde, auf das ich sehr schlecht reagierte. Ich stellte mir die Tablette als eine Art Paracetamol vor, das nicht wirkte. Schade. Also Zähne zusammenbeißen. Schmerzen sind nicht angenehm, aber meistens von vorübergehender Natur. Um noch einmal auf meinen Darm zurückzukommen: Natürlich habe ich die Morphinpumpe nicht benutzt. Die Schmerzen, die ich nach der Operation hatte, waren so unvergleichlich viel harmloser als die davor, dass allein der Anblick der Mauersegler, die unbekümmert vor dem Fenster des Onze Lieve Vrouwe Gasthuis vorbeisausten, schon ausreichte, um sie zu betäuben. Zwei Monate später hätte ich alles dafür gegeben, die von mir verschmähte Morphinpumpe neben meinem Sofa stehen zu haben.

Irgendwann während der vergangenen nebligen Monate kam es mir so vor, als würde sich alles, woran ich in meinem Leben je gelitten habe, zusammenballen. Diese große Ähnlichkeit mit dem ersten Mal, mit der Leeuwarden-Zeit – die ich in Jasper und sein Knecht geschildert habe. Tagsüber nicht da sein zu wollen, die Dunkelheit zu lieben, die Nacht. Abends ruhelos durch die Gegend zu radeln und in fremde Häuser zu schauen; sich dadurch ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit verschaffen zu wollen und gleichzeitig beim Anblick dieser Familien, dieses Lebens hinter geschlossenen Türen und großen Fenstern ohne Vorhänge, einen Kloß im Hals zu haben vor lauter Beklemmung und Angst. Dissoziation. Ich habe für die Leser einmal bei Wikipedia nachgesehen: »Dissoziation bezeichnet das (teilweise bis vollständige) Auseinanderfallen von psychischen Funktionen, die normalerweise zusammenhängen. Betroffen von dissoziativer Abspaltung sind meistens die Bereiche Wahrnehmung, Bewusstsein, Gedächtnis, Identität und Motorik, aber manchmal auch Körperempfindungen (etwa Schmerz und Hunger).« An sich nicht weiter schlimm, wenn es einem ohne besondere Ursache geschieht, zum Beispiel, wenn man sich sehr konzentriert mit etwas beschäftigt und plötzlich sozusagen aufschreckt und merkt, dass fünf Stunden vergangen sind. Tatsächlich geht es mir oft so, wenn ich im Garten arbeite. Dann können Stunden vergehen, bevor ich denke: Müsste ich nicht mal wieder etwas essen? Das kennt vermutlich jeder. Wenn es aber Teil einer Krankheit ist, wird es zum Problem.

Außerdem Panikanfälle, große Angst, Zwangsvorstellungen; plötzlich wieder – genau wie früher – aus dem Zug springen zu wollen, weil man es im Zug nicht aushält, wobei dieses »es« reichlich vage ist. Was halte ich denn nicht aus? Den Raum? Die Leute? Die Geschwindigkeit? Die Aussicht? Kurz und gut, alles, was ich in meinem Leben je erlebt habe, die depressiven Phasen selbst, aber auch Abwehrreaktionen gegen Depressionen, weil die Abwehrmechanismen immer noch besser als die Depressionen waren, all das kam in den vergangenen Monaten zusammen. Sogar Tics im Gesicht, fast wie damals, als ich ein kleiner Junge war und ständig wie ein Kaninchen mit der Nase zuckte.

Einmal habe ich deshalb beim Therapeuten das Wort »Heimsuchung« gebraucht. Warum diese Heimsuchung? Klar, die Tabletten; und es war ein Warum wie das Warum, wenn jemand viel zu früh und eigentlich vermeidbarerweise gestorben ist. Ein unbeantwortbares. Besser, man fragt nicht, denn es bringt nichts. Was ich durchmachte, empfand ich als Heimsuchung. Ich könnte nicht sagen, von wem oder was, ich meine: von wem auferlegt, durch was verursacht. Man kann eine Heimsuchung als schwere Belastung oder großes Problem sehen, und man kann sie als etwas sehen, womit man umzugehen lernen muss, worauf man eine Antwort finden muss, als ein Etwas, durch das man sich durchkämpfen muss, um auf der anderen Seite gestärkt (?) hervorzukommen. War es eine Kombination mehrerer Faktoren? Sechsundfünfzig Jahre und nicht mehr »rankommen« (Boudewijn de Groot), was das Schreiben von Romanen angeht. Sechsundfünfzig Jahre und sich innerhalb kurzer Zeit aus einem sexuellen Wesen mit einem Körper in ein geschlechtsloses Wesen verwandeln. »Ist das nicht auch beruhigend?«, fragte meine Verlegerin Eva Cossee, als wir eines Nachmittags im Marcella, dem Café an der Ecke, Oude Genever tranken. Sie versuchte mir zu helfen, das ist mir klar, aber nein, ich empfand und empfinde es nicht als »beruhigend«. Es beunruhigt mich.

38


Anfang Oktober übernachteten wir in einer riesigen Ferienwohnung irgendwo in Kroatien. Es könnte am 6. gewesen sein. Nicht weit von Dubrovnik, ich glaube, das Dorf hieß Doli. Ganz in der Nähe wird Kroatien von einem Korridor durchschnitten, der zu Bosnien und Herzegowina gehört; wenn Bosnier Strandurlaub im eigenen Land machen wollen, steht ihnen dafür ein etwa fünf Kilometer langer Küstenstreifen zur Verfügung. In der Ferienwohnung hätten zwanzig Personen Platz gehabt. Wir waren zu dritt. Hinter dem Haus standen Kiefern, dazwischen blühten wilde Alpenveilchen. Es herrschte eine seltsame Stimmung, Pauline arbeitete wie besessen an ihrem neuen Buch, das kurz vor der Fertigstellung stand, Henk war geistesabwesend und fühlte sich sehr von Fliegen belästigt, weshalb er schließlich abrupt aufstand und verschwand. Ich hatte das Gefühl, dass sich die beiden abgesprochen hatten. Dass man mich mit Absicht von etwas ausschloss. Weil wir am nächsten Tag nicht weit fahren mussten, hatten wir abgemacht, uns am Morgen Zeit zu lassen. Pauline arbeitete...

Erscheint lt. Verlag 27.3.2022
Übersetzer Andreas Ecke
Sprache deutsch
Original-Titel Knecht, alleen
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amsterdam • Antidepressiva • Autobiografie • Depression • Echte Bäume weinen nicht • Eifel • Erinnerungen • Europäischer Übersetzerpreis 2016 • Homosexualität • Humor • Independent Foreign Fiction Prize 2013 • Jasper und sein Knecht • Knausgard • Knecht alleen deutsch • Libidoverlust • Liebe • Lovemap • neues Buch • Niederlande • Orden von Oranien-Nassau 2023 • Schriftstellerdasein • Sexualtherapie • Therapie • Tod • Trauer • Verlust
ISBN-10 3-518-77215-5 / 3518772155
ISBN-13 978-3-518-77215-7 / 9783518772157
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