Die Beichte (eBook)

Roman
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2022 | 1. Auflage
192 Seiten
Atlantik Verlag
978-3-455-01415-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Beichte -  Georges Simenon
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 Hinter den Kulissen der Ehe meiner Eltern  Als der sechzehnjährige André Bar mit seiner Freundin Francine durch Nizza bummelt, wird er zufällig Zeuge, wie seine Mutter ein Stundenhotel verlässt. Auch Madame Bar hat ihren Sohn gesehen. Hat sie eine Affäre? Von einem Moment auf den anderen gerät die Ehe aus den Fugen. Die Eltern versuchen, den entsetzten Sohn zu beschwichtigen - und ziehen ihn damit bloß immer tiefer in die Geschichte ihrer Ehe. Dabei will André einfach nur seine Ruhe haben. Neu übersetzt von Sophia Marzolff

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

Cover
Verlagslogo
Titelseite
Erster Teil
Zweiter Teil
Über Georges Simenon
Impressum

2


Es war etwa halb elf, als er die Schritte seines Vaters auf der Treppe hörte. Er befand sich gerade in seiner vertrauten Bauchlage auf dem Boden, mit dem Kinn in der Armbeuge. Er hatte fast die ganze erste Philippika wiedergelesen und vor ein paar Minuten, nachdem er das Buch zugeklappt hatte, eine Schallplatte aufgelegt, auf der ihm die dumpfen Klänge des Schlagzeugs gefielen. Während er zuhörte, blätterte er in einem Comicheft.

Sein Vater tauchte nicht häufig bei ihm auf, aber manchmal, wenn nur sie beide im Haus waren, kam es vor, dass Lucien Bar langsam die Treppe in den zweiten Stock hinaufstieg.

Er klopfte nicht an, verweilte aber immer, vielleicht aus Diskretion, noch einen Moment vor der Tür, und dann redeten sie in der Regel nur wenig. Es ergab sich nie ein längeres Gespräch; nur ein paar belanglose Sätze, zwischen denen lange Pausen lagen.

An diesem Abend hatte André zunächst den Impuls, sein Comicheft zuzuschlagen und schnell wieder den Demosthenes zur Hand zu nehmen, denn er sagte sich, wenn sein Vater ihn beim Lernen vorfand, würde er sich wieder zurückziehen. Doch dann verharrte er lieber regungslos, wartete etwas nervös ab, und als die Tür aufging, streckte er den Arm nach dem Plattenspieler aus, um die Musik anzuhalten.

»Störe ich dich?«

»Ich hab schon vor einer Weile mit dem Lernen aufgehört.«

Sein Vater, der genauso verlegen war wie er, zögerte noch, sich in den alten Sessel zu setzen, von dem André den roten Samt abgezogen hatte, sodass nur noch blasses Leinen zu sehen war.

»Hattest du einen schönen Tag?«

»Er war in Ordnung.«

»Und dein Ausflug nach Nizza?«

André fürchtete eine ganz bestimmte Frage, so als könnte man ihm den Vorfall in der Rue Voltaire am Gesicht ablesen, und tatsächlich folgte die behutsame, fast scheu hervorgebrachte Erkundigung:

»Irgendjemand Bekanntes getroffen?«

Inzwischen hatte Lucien Bar sich in den Sessel gesetzt, wo er eine seiner schlanken Zigarren rauchte, die er sich für den Abend aufhob, denn er konnte tagsüber ja nicht seine Patienten einnebeln. Auch im Wohnzimmer rauchte er nicht, weil seine Frau Zigarrengeruch verabscheute.

»Ich habe Francine getroffen.«

»Francine Boisdieu?«

»Ja. Sie kam gerade aus einer Schule in der Rue Paradis, einer Schule für Buchhaltung und Fremdsprachen.«

»Ihr Vater hat mir davon erzählt.«

War er mit einem Hintergedanken hochgekommen? Beschäftigte ihn etwas anderes als die Tochter seines Freundes? Jedenfalls schien er erleichtert zu sein, dass sich das Gespräch vorerst auf neutralem Terrain bewegte. Einen Moment saß er nur schweigend da, mit gedankenverlorenem Blick.

»Abgesehen von dem Abendessen, zu dem wir sie diesen Winter eingeladen haben, und ihrer Gegeneinladung vor drei Wochen habe ich Francine das letzte Mal gesehen, als sie erst wenige Monate alt war …«

Wieder hing er schweigend seinen Gedanken nach.

»Dabei waren ihr Vater und ich früher enge Freunde. Er ist der Sohn eines Landarztes, der in der Nièvre oder im Massif Central praktizierte, genau weiß ich es nicht mehr. Als sein Vater starb, stand er auf einmal ohne irgendetwas da und hat deshalb mehrere Monate bei uns zu Hause das Zimmer mit mir geteilt …«

Warum beschwor Lucien Bar diese Erinnerungen herauf? Einerseits fühlte sich André geschmeichelt, andererseits verstimmte es ihn. Er mochte es nicht, wenn er sich mit Dingen beschäftigen musste, für die er sich nicht zuständig fühlte. Vielleicht ahnte er, dass es seinen Seelenfrieden bedrohte? Oder empfand er das Mitteilungsbedürfnis seines Vaters als Schwäche?

Wenn seine Mutter beim Essen pausenlos redete, machte ihm das nichts aus, weil sie nichts Privates erzählte. Ihre Worte gaben nur Dinge der Außenwelt wieder, Bilder, die man flüchtig auf der Straße aufschnappte, oder Geschichten, die in der Zeitung standen.

Bei seinem Vater war es anders. Warum, wusste André selbst nicht.

Zwar gab er nichts von sich preis, ließ sich nicht zu Vertraulichkeiten hinreißen. Er äußerte Sätze, die beiläufig klangen. Doch André hatte das Gefühl, dass sie seine geheimen Sorgen offenbarten.

»Er war damals schon lange verwitwet und führte das ruhige, arbeitsame Leben eines Landarztes … Edgard und ich machten gerade unsere Zulassungsprüfung für Medizin, als er durch ein Telegramm erfuhr, dass man seinen Vater an einem Apfelbaum im Garten erhängt gefunden hatte …«

André sah keinen Zusammenhang. Das war keine Geschichte, die grundlos aus der Vergangenheit auftauchte. Warum kam der Vater auf einmal an und redete von Leuten, die sein Sohn kaum kannte?

»Man hat nie herausgefunden, warum er es getan hat … Später hat Edgard mir erklärt, das sei oft so bei Erhängten. Die meisten Selbstmörder lassen einen Brief zurück, in dem sie ihre Beweggründe darlegen. Bei denen, die sich erhängen, kommt das selten vor … Vielleicht war es ja dieser plötzliche und unerklärliche Tod, der Edgard Boisdieu dazu bewogen hat, sich für das Fachgebiet Neurologie zu entscheiden …«

Er verstummte, suchte im Zimmer nach einem Aschenbecher, um seinen Zigarrenstummel auszudrücken, fand aber nur eine Untertasse. Nachdem er einmal stand, setzte er sich nicht wieder. Seinen Gesten und Bewegungen war anzusehen, dass er sich nicht wohl in seiner Haut fühlte. Er war hier im Reich seines Sohnes, der immer noch auf dem Boden saß und die Hände um die Knie geschlungen hatte.

»Falle ich dir zur Last?«

»Aber nein, Papa.«

»Edgard meinte, sie habe den gleichen Charakter wie ihre Mutter.«

»Francine?«

»Ja, er hat mir viel von ihr erzählt, als wir bei ihnen waren. Der Vater von Madame Boisdieu, Professor Vennes, ist der beste Neurologe, den wir gegenwärtig in Frankreich haben, vielleicht sogar der beste Europas. Er ist vor drei, vier Jahren emeritiert, nachdem er die neurologische Abteilung in der Salpêtrière geleitet hatte, und er wird immer noch aus aller Welt konsultiert.«

Ab und zu warf André Bar seinem Vater einen verstohlenen Blick zu und nahm dessen wachsendes Unbehagen wahr. Warum war er in die Mansarde gekommen? Warum hatte er sein kleines Labor verlassen, wo er so in seinem Element war? Und woher kam dieses Bedürfnis zu reden, Belanglosigkeiten zu erzählen?

André war drauf und dran, ihm zu sagen:

»Nur Francine interessiert mich. Nicht ihre Eltern und Großeltern.«

Der erhängte Landarzt irgendwo in Mittelfrankreich war ihm ebenso gleichgültig wie der Professor im Ruhestand, so berühmt und aktiv dieser trotz seines Alters auch sein mochte.

»Hast du auch etwas gehört?«

»Nein.«

»Mir war, als wäre die Tür unten zugefallen.«

»Hat Mama sich doch noch entschlossen auszugehen?«

»Sie ist zu Natacha gegangen.«

Ein längeres Schweigen setzte ein. Diese Momente der Stille fürchtete André noch mehr als die langen Reden.

»Verzeih, dass ich dich hier langweile. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja! Wir sprachen über Francine, und so kam ich darauf, dass ich ihren Vater und Colette – so heißt ihre Mutter – schon kannte, als sie ungefähr so alt waren wie ihre Tochter jetzt.«

»War sie hübsch?«

»Colette? Sie sah ähnlich aus wie Francine. Genauso reizend. Sie war blitzgescheit, und wenn ich mich recht entsinne, bereitete sie sich aufs Staatsexamen in englischer Literatur vor. Ob sie es bestanden hat, weiß ich nicht, denn ich verlor die beiden aus den Augen.«

Und immer wieder diese Schweigepausen, die Beklommenheit verursachten, als hätten sie eine verborgene Bedeutung.

»Was ich sagen wollte … Wir haben uns zwanzig Jahre lang nicht gesehen. Ich wusste gar nicht, dass sie geheiratet hatten, denn als wir drei noch studierten, hat er ihr nicht den Hof gemacht. Noch vor einem halben Jahr hatte ich keine Ahnung, dass sie nur fünfundzwanzig Kilometer entfernt von uns in Nizza leben und Kinder haben.«

Er lächelte schüchtern, als wollte er sich für seine ständigen Abschweifungen entschuldigen.

»Na! Ich glaube, du würdest gern in Ruhe gelassen werden …«

»Ach was. Du wolltest noch etwas sagen …«

»Wie? … Ich weiß schon gar nicht mehr … Ich dachte wohl über die Menschen und ihre Lebenswege nach … Zum Beispiel hätte Edgard Boisdieu, wenn er gewollt hätte, heute Professor an der Pariser Universität sein können, wo er vermutlich den Posten und die Reputation seines Schwiegervaters geerbt hätte …«

Mehr aus Mitleid fragte André:

»Und warum blieb er nicht in Paris?«

»Zum einen, vermute ich, wollte er dem Vorwurf entgehen, dass er die Position seiner Heirat verdankte. Zum anderen ist er ein sturer, kompromissloser Charakter, der mit seiner direkten Art in den offiziellen Kreisen angeeckt wäre. Bei der täglichen Praxisarbeit gewinnt er ebenso viele Erkenntnisse wie auf einer großen Klinikstation.«

Das klang falsch. Nicht in einem strengen Sinne falsch, aber André war überzeugt, dass sein Vater halbherzig über Dinge sprach, die nur entfernt seine wahren Gedanken betrafen.

»Er ist ein guter Kerl, und ich glaube, er ist glücklich, sofern es wirklich glückliche Menschen gibt … Aber ich stehle dir nur deine Zeit …«

»Ich wollte jetzt sowieso schlafen gehen.«

»Francine vergöttert ihre Mutter bestimmt, oder?«

»Sie hat vor allem von ihrem Vater gesprochen. Sie lernt Steno und Buchhaltung, weil sie hofft, sein Sekretariat zu übernehmen.«

Jetzt geriet er ins Erzählen, was ihn selbst überraschte.

»Eigentlich hätte sie...

Erscheint lt. Verlag 4.6.2022
Reihe/Serie Die großen Romane
Übersetzer Sophia Marzolff
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Adoleszenz • Affäre • Aufwachsen • Coming of Age • Ehebruch • Eltern • Familie • Familiendrama • Familiengeheimnisse • Familiengeschichte • Gesellschaftsroman • Jugend • Maigret • Schicksal • Unterhaltungsliteratur
ISBN-10 3-455-01415-1 / 3455014151
ISBN-13 978-3-455-01415-0 / 9783455014150
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