Die Hochzeitsgabe (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021
480 Seiten
btb Verlag
978-3-641-29368-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Hochzeitsgabe - Geraldine Brooks
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Neuauflage des New-York-Times-Bestsellers, erscheint parallel zum neuen großen Roman der Pulitzerpreisträgerin
Hanna, eine junge, angesehene Buchrestauratorin, wird 1996 von Sydney in das vom Bürgerkrieg zerrissene Sarajevo gerufen. Sie soll dort die kostbare Sarajevo-Haggadah, eine jüdische Handschrift aus dem 15. Jahrhundert, untersuchen. In der Bibliothek angekommen, trifft sie auf den zurückhaltenden moslemischen Museumsleiter Ozren, der das Buch vor der Zerstörung gerettet hat. Er irritiert und fasziniert sie gleichermaßen. Und je mehr sich Hanna auf einer Spurensuche, die sie durch ganz Europa führt, mit der Schrift und ihrer geheimnisvollen Geschichte beschäftigt, desto mehr wird sie auch mit ihrer eigenen Vergangenheit und Herkunft konfrontiert. Die Entdeckung ihrer eigenen Wurzeln lässt sie schließlich einen mutigen Schritt wagen.

Geraldine Brooks wurde 1955 in Sydney geboren und bereiste elf Jahre lang als Auslandskorrespondentin des Wall Street Journal die Welt. 2006 erhielt sie für ihren Debütroman 'Auf freiem Feld' den Pulitzerpreis. 'Das Pesttuch' avancierte zum internationalen Bestseller und wurde in 25 Sprachen übersetzt. Ihre Bücher sind allesamt New-York-Times-Bestseller. Geraldine Brooks lebt auf Martha's Vineyard, Massachusetts.

II


So oft ich auch schon mit seltenen, schönen Dingen zu tun hatte – das Gefühl der ersten Berührung ist immer noch eine besonders eindringliche Erfahrung, eine Kombination aus Stromschlag und dem Streicheln des Hinterkopfs eines Neugeborenen.

Seit einem Jahrhundert hatte kein Konservator dieses Manuskript angefasst. Die Styroporformen standen bereit. Ich zögerte eine Sekunde – ein hebräisches Buch, also gehörte der Rücken nach rechts – und legte es darauf.

Solange man es nicht aufschlug, forderte das Manuskript ein ungeschultes Auge zu keinem zweiten Blick heraus. Zunächst war es klein, passend für den Gebrauch am PessachFestmahlstisch. Der unauffällige Einband stammte aus dem

19. Jahrhundert und war fleckig und abgestoßen. Ein so prächtig illustrierter Kodex wie dieser hatte ursprünglich bestimmt eine kunstvoll gearbeitete Bindung gehabt. Man bereitet keinen Hummer Thermidor zu und serviert ihn dann auf einem Pappteller. Der Buchbinder hatte womöglich Blattgold und Silberprägung verwendet, vielleicht Intarsien aus Elfenbein oder Perlmutt. Diese Handschrift war in ihrem langen Leben aber wahrscheinlich oft neu gebunden worden, das letzte Mal, von dem wir mit Sicherheit wussten, in den 1890ern in Wien. Leider hatte der österreichische Buchbinder sie in diesem Fall fürchterlich misshandelt, das Pergament stark beschnitten und den alten Einband ganz entfernt – etwas, was heutzutage niemand, vor allem kein Profi, der für ein großes Museum arbeitet, mehr tun würde. Unmöglich zu sagen, welche Informationen dadurch verloren gegangen waren. Er hatte das Manuskript in simple Pappdeckel gebunden, bedruckt mit einem unpassenden türkischen Blumenmuster, das mittlerweile ausgeblichen und verfärbt war. Nur die Ecken und der Rücken bestanden aus Kalbsleder, und das war dunkelbraun und abgeschabt, sodass der Rand der grauen Pappe darunter sichtbar wurde.

Ich strich mit dem Mittelfinger leicht über die rissigen Ecken. Die würde ich in den nächsten Tagen verstärken. Als mein Finger der Pappkante folgte, bemerkte ich etwas Ungewöhnliches. Der Buchbinder hatte zwei Rillen und einige kleine Löcher in den Rand gestanzt, in die sich ein Paar Schließen hätten fügen lassen. Es waren aber keine Schließen vorhanden. Ich machte mir im Geiste eine Notiz, der Sache nachzugehen.

Nachdem ich die Formen so verschoben hatte, dass sie den Buchrücken stützten, klappte ich den Einband auf und beugte mich weit vor, um die eingerissenen Vorsatzblätter zu untersuchen. Ich würde sie mit Weizenkleister und Stücken passenden Leinenpapiers reparieren. Ich entdeckte sofort, dass die Leinenfäden, die der Wiener Buchbinder verwendet hatte, ausgefranst waren und kaum noch hielten. Das bedeutete, dass ich die Bögen würde auseinander nehmen und neu heften müssen. Ich atmete tief ein und blätterte die Seite zu der eigentlichen Handschrift um. Auf sie kam es an; sie würde zeigen, was vier harte Jahre ihr, die fünf Jahrhunderte überlebt hatte, angetan hatten.

Im Licht des Schnees flammten Farben auf. Blau: intensiv wie das eines Hochsommerhimmels, gewonnen durch das Zermahlen des kostbaren Lapislazuli, der von den Bergen Afghanistans mit einer Kamelkarawane nach Europa getragen worden war. Weiß: pur, sahnig, opak. Weniger strahlend und komplexer als das Blau. Damals wurde es sicher noch nach der Methode hergestellt, die die alten Ägypter erfunden hatten. Man bedeckt Bleistangen mit dem Bodensatz abgestandenen Weins und schließt sie in einen Schuppen voller Tierkot. Ich hatte das im Gewächshaus meiner Mutter in Bellevue Hill schon selbst ausprobiert. Sie hatte eine große Lieferung Dünger erhalten, und ich konnte nicht widerstehen. Die Säure in dem zu Essig vergorenen Wein wandelt das Blei in Bleiacetat um, das sich seinerseits mit dem von dem Dung freigesetzten Kohlendioxid zu weißem Bleikarbonat verbindet, PbCO3. Meine Mutter kriegte natürlich einen Anfall und konnte sich ihren preisgekrönten Orchideen wochenlang nicht mehr nähern.

Ich blätterte um. Wieder blendender Glanz. Die Illuminationen waren wunderschön, doch ich erlaubte mir nicht, sie als Kunstwerke zu sehen. Noch nicht. Zunächst musste ich ihre Chemie verstehen. Da war Gelb, hergestellt aus Safran. Diese prächtige Herbstblume, crocus sativus linnaeus, bei der jede Blüte nur drei winzige Stempelfäden enthält, galt damals und für sehr lange Zeit als kostbares Luxusgut, und obwohl wir heute wissen, dass die satte Farbe von einem Karotin stammt, dem Crocin, dessen Moleküle aus 44 Kohlenstoff-, 64 Wasserstoff- und 24 Sauerstoffatomen bestehen, können wir nach wie vor keinen gleichwertigen synthetischen Ersatz herstellen. Da waren Malachitgrün und Rot, jenes intensive so genannte »Wurmrot« – tola’at schani auf Hebräisch –, gewonnen aus auf Bäumen lebenden Schildläusen, die zerquetscht und in Lauge ausgekocht wurden. Später, als Alchimisten lernten, ein ähnliches Rot aus Schwefel und Quecksilber zu erzeugen, nannten sie die Farbe immer noch »kleiner Wurm« – vermiculum. Manche Dinge ändern sich nicht: auf Englisch heißt sie noch heute »vermilion«.

Veränderung. Sie ist der große Feind. Büchern ergeht es am besten, wenn Temperatur, Luftfeuchtigkeit, die ganze Umgebung beständig bleiben. Drastischere Veränderungen als diese kann ein Manuskript kaum erleben: umgelagert unter extremen Bedingungen und ohne Vorbereitung oder Vorsichtsmaßnahmen, enormen Temperaturschwankungen ausgesetzt. Ich hatte Angst gehabt, die Seiten könnten geschrumpft, die Pigmente abgeplatzt sein. Aber die Farben waren erhalten, so rein und lebhaft wie an dem Tag, an dem sie aufgetragen worden waren. Im Unterschied zu dem Blattgold auf dem Buchrücken, das abgeflockt war, wirkte das Gold der Abbildungen frisch und leuchtend. Der Mann, der sie vor fünfhundert Jahren gemalt hatte, hatte sein Handwerk definitiv besser beherrscht als der neuzeitliche Wiener Buchbinder. Auch Blattsilber entdeckte ich, allerdings grau und oxydiert, wie zu erwarten gewesen war.

»Werden Sie das ausbessern?« Es war der dünne junge Mann aus dem Museum, der auf eine deutlich verfärbte Stelle zeigte. Er stand zu nahe daran. Da Pergament Fleisch ist, können menschliche Bakterien es beschädigen. Ich verlagerte meine Schulter so, dass er seine Hand zurückziehen und einen Schritt nach hinten treten musste.

»Nein«, sagte ich. »Auf keinen Fall.« Ich schaute nicht auf.

»Aber Sie sind doch Restauratorin; ich dachte …«

»Konservatorin«, berichtigte ich ihn. Das Letzte, was ich mir in diesem Moment wünschte, war eine lange Diskussion über die Philosophie der Buchkonservierung. »Sehen Sie«, sagte ich, »Sie sind hier anwesend; mir wurde erklärt, dass das notwendig ist, aber es wäre mir lieb, wenn Sie mich bei der Arbeit nicht unterbrechen.«

»Ich verstehe«, begegnete er meiner Schroffheit mit sanfter Stimme. »Aber Sie müssen mich auch verstehen: Ich bin der Kustos, verantwortlich für dieses Buch.«

Kustos. Es dauerte eine Minute, ehe ich begriff. Dann drehte ich mich um und starrte ihn an. »Sie können doch nicht Ozren Karaman sein, der das Buch gerettet hat?«

Sajjan, der UNO-Vertreter, sprang auf. »Entschuldigung, ich hätte Sie einander vorstellen müssen. Aber Sie waren so erpicht darauf, mit der Arbeit anzufangen, dass ich – Dr. Hanna Heath, darf ich Ihnen Dr. Ozren Karaman vorstellen, Chefbibliothekar des Nationalmuseums und Professor für Bibliothekswissenschaft an der Nationaluniversität von Bosnien.«

»Ich – tut mir leid, das war unhöflich von mir«, sagte ich.

»Ich hatte gedacht, als Kurator einer so bedeutenden Sammlung wären Sie viel älter.« Ich hatte auch nicht damit gerechnet, dass ein Mensch in seiner Position ganz so leger gekleidet war. Er trug eine abgewetzte Lederjacke über einem zerknitterten weißen T-Shirt. Seine Jeans waren ausgefranst. Sein Haar – wilde Locken, weder gekämmt noch zurechtgestutzt – fiel ihm über eine Brille, die über der Nase mit Klebeband repariert war.

Er zog eine Augenbraue hoch. »In Ihrem fortgeschrittenen Alter haben Sie natürlich allen Grund, das anzunehmen.« Seine Miene blieb dabei völlig ernst. Er war wohl genau wie ich erst Anfang dreißig. »Ich würde mich aber sehr freuen, Dr. Heath, wenn Sie sich einen Moment Zeit nehmen, mir zu erklären, was Sie vorhaben.« Er warf Sajjan einen Blick zu, als er das sagte, und der sprach Bände. Die UNO war der Meinung, sie täte Bosnien einen Gefallen damit, diese Arbeit zu finanzieren, damit die Haggadah angemessen präsentiert werden konnte.

Wenn es jedoch um nationale Schätze geht, will keiner, dass Außenstehende das Sagen haben. Ozren Karaman fühlte sich eindeutig übergangen. In diese Sache wollte ich mich keinesfalls hineinziehen lassen. Ich war hier, um mich um ein Buch zu kümmern, nicht um das verletzte Ego eines Bibliothekars. Trotzdem hatte er ein Recht darauf zu erfahren, warum die UNO jemanden wie mich ausgesucht hatte.

»Den Umfang meiner Arbeit kann ich erst abschätzen, wenn ich das Manuskript gründlich durchgesehen habe, aber die Sache ist folgende: Ich werde weder chemikalische Ausbesserungen noch eine umfassende Restauration vornehmen. Ich habe zu viele Artikel geschrieben, die diesen Ansatz kritisieren. Ein Buch in den Zustand zurückzuversetzen, in dem es bei seiner Entstehung war, bedeutet mangelnden Respekt vor seiner Geschichte. Ich finde, man muss es so akzeptieren, wie es einem von früheren Generationen überliefert wurde, weil Beschädigungen und Gebrauchsspuren diese Geschichte gewissermaßen widerspiegeln. Ich sehe meine...

Erscheint lt. Verlag 24.12.2021
Übersetzer Almuth Carstens
Sprache deutsch
Original-Titel People of the Book
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 15. Jahrhundert • 20.Jahrhundert • Abenteuerroman • Buch • Buchrestauratorin • Bürgerkrieg • eBooks • Entscheidung • Europa • Frau • Gegenwartsliteratur • Geheimnis • Geheimnis in der Vergangenheit • Handschrift • Historische Romane • Identität • Liebe • Liebesgeschichte • Liebesromane • Manuskript • Restauration • Roman • Romane • Sarajevo • Spurensuche • Vergangenheit • Wurzeln • Zuneigung
ISBN-10 3-641-29368-5 / 3641293685
ISBN-13 978-3-641-29368-0 / 9783641293680
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