Das wahre Motiv (eBook)

Kriminalroman | Der zweite Band der historischen Krimireihe | »Mit vielen kuriosen Details und furiosem Finale.« BR24, Kultur

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
352 Seiten
Harpercollins (Verlag)
978-3-7499-0374-0 (ISBN)

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Das wahre Motiv - Uta Seeburg
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München, 1895: Major Wilhelm Freiherr von Gryszinski ermittelt wieder im Dienste der Königlich Bayerischen Polizeidirektion. Ein junger Mann wird ermordet, seine Leiche in einer kunstvollen Pose drapiert, die an die Gemälde der klassischen Mythologie erinnert. Die Ermittlungen führen nach Schwabing. Das Künstlerviertel mit seinen rauschenden Festen und lockeren Moralvorstellungen gilt als das Babylon Bayerns, und der preußische Ermittler findet sich plötzlich in der Welt der Maler, Musen und Möchtegerne wieder. Als weitere Leichen gefunden werden, ist Gryszinski klar, dass er einen Mehrfachmörder jagt, der jederzeit erneut zuschlagen kann.

Zum ersten Band der Reihe:

»Mit fundierten historischen Details, viel Witz und Lust am Erzählen entwirft Uta Seeburg ein wunderbar pittoreskes Bild der bayrischen Hauptstadt und ihrer Bürger im auslaufenden 19. Jahrhundert. [...] Ein wunderbar gelungener Auftakt zu einer neuen Serie, auf deren Folgebände man sich jetzt schon freuen darf.«Buchkultur



Uta Seeburg ist Berlinerin und lebt in München. Sie arbeitete bereits als Werbetexterin, Drehbuchautorin und Redakteurin, widmet sich aber heute ausschließlich der Schriftstellerei. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin wohnt mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter in Haidhausen.

1.

»Was kannst Du, was kein anderer kann?«

(Franz von Lenbach, Leitsatz)

Gryszinski bestaunte diese kleine Welt. Der Laden, der hauptsächlich aus einem gewaltigen Warenregal bestand, war in hellen Sandfarben gestrichen. An den Seiten lugte eine bereits verblassende Tapete hervor, die ländliche Szenen zeigte: Eine ältere Frau klopfte ein Daunenkissen am Fenster aus, ein Mann hatte einen Schubkarren gegriffen, auf seinem Rücken trug er eine erlegte Gans, ein junges Mädchen molk eine Kuh. Oben schloss eine Bordüre in Form einer bunten Girlande das Bild ab. Das mächtige Regal enthielt lauter Schubladen, auf die silberne Schilder in der Form von Wimpeln genagelt worden waren, deren Inschriften stolz verkündeten, welche Köstlichkeiten sich dahinter verbargen. Neben den weniger aufregenden Erbsen und Linsen lockten süße Rosinen, getrocknete Feigen und Bonbons, bis endlich, auf der anderen Seite des Regals, die Welt der Kolonien die Gedanken beflügelte und Gryszinskis empfängliche Zunge kribbeln ließ, mit Cacao, Chocolade, Vanille und Kaffee. Vor diesem Regal der Herrlichkeiten stand, einem Wall gleich, ein Tresen, auf dem wiederum eine überdimensionierte Waage thronte, die der Justitia alle Ehre gemacht hätte, hier aber von einem freundlich lächelnden Krämer bedient wurde, dessen dünner Schnurrbart Gryszinski an einen windigen Ober im Kaffeehaus denken ließ. Dem Mann reichte der Tresen bis zum Kinn, und auch der Besen, der an die Wand des Ladens gelehnt war, überragte ihn deutlich. Just in dem Moment, der Gryszinski diesen Fehler im Bild erkennen ließ, fuhr eine Faust wie die Hand Gottes von oben in den Krämerladen, angelte nach dem wehrlosen Männlein und fegte dabei die Waage rücksichtlos vom Tisch, wobei sich Reis und Mandeln, die in den Waagschalen gelegen hatten, über den Boden ergossen.

»Fritzi!«, rief Gryszinski und kniff seinem einjährigen Sohn scherzhaft ins Ohr. »Pass auf!«

Der kleine Junge lachte aufgeregt und streckte seinem Vater die ergaunerte Holzfigur entgegen, während Gryszinski die Schubladen des Puppenladens öffnete und Mandeln und Reis zurücksortierte. Er hob seinen Blick zum Fenster des Kinderzimmers. Eine kahle Birke klopfte mit knöchernen Fingern an die Scheibe. Der Februar im Jahre 1895 hatte soeben begonnen, wirklich die unangenehmste Zeit des Jahres, über die man am besten nicht zu viele Worte verlor.

Major Wilhelm Freiherr von Gryszinski – er war, obwohl nur Reserveoffizier der preußischen Armee und dazu auch noch ausgerechnet in München wohnhaft, aufgrund besonderer Verdienste um sein Vaterland einen Dienstgrad höher geklettert – überließ Fritzi der Kindsmagd Anneliese und ging hinüber in den Salon. Es war früh am Morgen, und er würde gleich in Richtung Polizeidirektion aufbrechen müssen, wo er als kriminalistischer Sonderermittler tätig war. Doch zunächst wollte er etwas überprüfen, eine Sache, die ihn seit Wochen nicht losließ. Er und seine Frau Sophie lebten seit ihrer Übersiedlung aus Berlin in einer hübschen Mietwohnung in der Liebigstraße im Münchner Stadtteil Lehel. Sie teilten sich die Beletage mit ihrem Sohn Friedrich, dessen Kindermädchen und der Haushälterin Aloisia Brunner, einer grimmigen Oberbayerin mit der seltenen Gabe, sich völlig lautlos durch die Räume zu bewegen – eine Eigenschaft, die Gryszinski nicht selten peinliche Schreckensmomente beschert hatte, wenn die Brunner plötzlich wie eine dunkle Erscheinung direkt hinter ihm aus dem Boden gewachsen war. Allerdings hatten er und die Haushälterin über das letzte Jahr hinweg eine spezielle Beziehung entwickelt. Nicht zuletzt die Tatsache, dass Gryszinski heimlich das ärmliche Heim der Brunner’schen Schwester bezuschusste, hatte ihm so einige Privilegien beschert, zu denen es auch gehörte, dass er abends unbehelligt in die Küche schlendern und seine Nase in ihre brodelnden Töpfe stecken durfte, was er außerordentlich gerne tat und sonst niemandem gestattet war. In diesem Moment allerdings widerstand er dem Duft von heißem Mokka und im Ofen aufgehenden Hefegebäck, der aus der Küche strömte, auch wenn es ihn seine gesamte Selbstbeherrschung kostete.

Der Salon lag noch im Halbdunkel, nur eine der neuen elektrischen Stehlampen warf ihr künstliches Licht auf Sophies Diwan, über den ein weicher persischer Teppich gebreitet war. Daneben ein zierliches Teetischchen, das unter einem Berg von Romanen schnaufte. Schon einige Male war das Möbelstück krachend umgekippt, und zwar immer dann, wenn jemand unvorsichtigerweise einen der Bücherstapel schwungvoll hochgenommen und damit das komplizierte Gleichgewicht dieses babylonischen Bücherturms gestört hatte. Gryszinski umrundete, unwillkürlich den Atem anhaltend, das Zeugnis von Sophies Lesewut. Vor Wochen war ihm zum ersten Mal aufgefallen, dass ein auffälliges rotes Lesezeichen tagelang immer an derselben Stelle in einem Band von Balzac steckte. Auch die anderen Lesezeichen, insgesamt fünfzehn an der Zahl, die über verschiedene Bücher auf dem Teetisch verteilt waren, hatten ihre Wanderungen durch die Seiten nicht antreten dürfen. Tatsächlich schienen die Bücher ihre Position überhaupt nicht zu ändern. Als ihm das einmal klar geworden war, hatte er begonnen, die Sache zu beobachten, voll stummer Geduld. Nach Wochen musste er konstatieren: Keines der Bücher wurde offenkundig überhaupt nur berührt, als sei Sophies fieberhaftes Verlangen nach Lektüre ganz plötzlich erloschen. Dafür, was noch viel seltsamer war, zeigte das kleine Stehpult in der Küche, auf dem das Haushaltsbuch lag, deutliche Hinweise darauf, dass seine Gattin hier neuerdings viel Zeit verbrachte. Er sah dort ein täglich frisch aufgefülltes Tintenfass, bekritzelte Zettelchen und auch mal eine Gabel, ein Bratenmesser oder anderes Silberzeug, das sie offenbar in Gedanken schnell gegriffen und zur Markierung zwischen die Seiten des dicken Buches geschoben hatte. Sogar ein paar tintenverschmierte Fingerabdrücke hatte er eines Abends auf der Tischplatte bemerkt, die am nächsten Tag allerdings wieder verschwunden waren, vermutlich hatte die Brunner die Spuren gelöscht. Das alles beschäftigte Gryszinski sehr: Warum kümmerte Sophie sich plötzlich so intensiv um den Haushalt? Notierte offenbar mit Feuereifer ihre häuslichen Ausgaben? Schrieb sich vielleicht sogar Kochrezepte auf? Was für andere Ehefrauen wohl ein normaler Zustand gewesen wäre, hatte für seine eigene Gattin nie gegolten, und er war damit einverstanden gewesen. Noch viel merkwürdiger allerdings war, dass sie so wirkte wie immer. Sie war zufrieden und etwas zerstreut, mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, die er immer zu kennen geglaubt hatte.

»Ach, hier bist du, Willi«, riss der Gegenstand seiner forensischen Forschungen ihn aus seinen Überlegungen. Sophie stand im Türrahmen und musterte ihn nicht weniger beobachtend. »Suchst du etwas?«

»Ah, nein, ich stand hier nur«, erklärte er hastig. »Ich hab nichts gesucht, gar nichts.«

»Außer vielleicht deinen Kopf?«, gab sie zurück, machte ein paar Schritte auf ihn zu und gab ihm einen liebevollen Kuss, was ihn noch mehr aus dem Konzept brachte als die verräterischen Lesezeichen. Das Pendel der Repetieruhr im Esszimmer holte eben schnarrend aus, um zum zweiten Mal, jeden subtilen Missklang zwischen den Eheleuten mit der Lautstärke einer Dampfmaschine übertönend, die volle Stunde zu schlagen. »Du musst los«, sagte sie und strich ihm übers Haar, bevor sie sich zum Flur wandte.

Immer noch in Gedanken stapfte Gryszinski langsam die Stufen hinunter, die direkt in die großzügige Kutschendurchfahrt führten. Auch dieser schenkte er kaum Aufmerksamkeit; ein Fehler, wie sich herausstellen sollte, denn er bemerkte erst im letzten Augenblick die Droschke, die im mörderischen Tempo herangerauscht kam und ihn zu einem unwürdigen Hechtsprung in Richtung des rettenden Treppenabsatzes zwang. »Herrschaftszeiten!«, entfuhr es ihm zu seiner eigenen Überraschung, während er sich schwer atmend ans Treppengeländer klammerte.

Neben seiner Beförderung durch den preußischen Staat hatte ihn auch die Königlich Bayerische Polizeidirektion mit einigen neuen Privilegien ausgestattet. Dazu gehörte eine eigene Dienstkutsche, die ihm rund um die Uhr zur Verfügung stand und von einem Burschen namens Gustav Apfelböck gelenkt wurde, der leider nur zwei körperliche Zustände kannte: an die Kutsche gelehnt herumlungernd, während er auf seinen Dienstherrn wartete, oder galoppierend, als ob er einer der apokalyptischen Reiter wäre. Einmal hatte er sogar den königlichen Mehrspänner des Prinzregenten von der Ludwigstraße abgedrängt – Gryszinski war sich da allerdings nicht ganz sicher; sie waren so gerast, dass er das Wappen der Wittelsbacher am Sitzkasten nur schemenhaft hatte erkennen können. Gryszinski revanchierte sich für diesen alltäglichen Anschlag auf sein Leben, indem er, wenn auch nicht absichtlich, seine Droschke einfach regelmäßig vergaß. Jetzt allerdings war dieses Teufelsgefährt mehr als präsent, und er stieg mit immer noch klopfendem Herzen ein. Zeternd sprang ein Zeitungsjunge aus dem Weg, als sie aus der Ausfahrt schossen.

Die zweite Neuerung war womöglich noch tiefgreifender. Seit Kurzem besaß die Familie Gryszinski, als die Ersten in ihrer Straße, einen eigenen Telephonanschluss. Man hatte den schwarzen Apparat, der eine geisterhafte Stimme von überallher durch ein Kabel transportieren konnte, im Flur aufgestellt, damit man Gryszinski jederzeit von allen Münchner Polizeiwachen aus erreichen konnte. Anstatt einfach irgendeinen rangniedrigen Gendarmen zu schicken, wie es eigentlich, fand Gryszinski, bislang hervorragend funktioniert hatte. Nun stand es also da, dieses Sinnbild der...

Erscheint lt. Verlag 24.5.2022
Reihe/Serie Gryszinski-Reihe
Gryszinski-Reihe
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Historische Kriminalromane
Schlagworte 19. Jahrhundert • Babylon Berlin • Bayern • bücher krimi • Der falsche Preuße • Der nasse Fisch • Deutsche Autoren • Gryszinski • historischer Krimi • Historischer Kriminalroman • Jahrhundertwende • Krimi • Kriminalroman • Krimi Roman • Kunst • Maler • Malerei • Mord • München • Schwabing • Sherlock Holmes • Volker Kutscher
ISBN-10 3-7499-0374-3 / 3749903743
ISBN-13 978-3-7499-0374-0 / 9783749903740
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