Die Engel von Berlin (eBook)

Roman

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
352 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46220-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Engel von Berlin -  Hanna Lucas
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Ihre Freundschaft ist das Licht in der Dunkelheit: »Die Engel von Berlin« ist ein bewegender Roman über eine außergewöhnliche Frauen-Freundschaft, die Geschichte zweier Pfadfinderinnen zur Zeit des 2. Weltkriegs. 1931: Für die lebenslustige Martha aus London ist Berlin eine faszinierende Stadt. Die häusliche Annegret lernt die Engländerin am Alexanderplatz kennen, mit ihr soll sie eine Gruppe junger Pfadfinderinnen im Grunewald leiten. Obwohl die beiden Frauen kaum unterschiedlicher sein könnten, entsteht eine tiefe Freundschaft, die durch den Krieg und Annegrets Mann auf eine harte Probe gestellt wird. Während Annegret Kinder vor der Deportation zu retten versucht, unternimmt Martha in London alles, um ihrer Freundin zu helfen. Aber dann nehmen die Luftangriffe der Deutschen auf London zu und damit ändert sich die Sicht vieler Engländer. Voller Schuldgefühle, nicht mehr getan zu haben, kehrt Martha 1945 aus London ins zerstörte Berlin zurück, will helfen, diese Stadt wieder aufzubauen. Dabei sucht sie nicht nur nach ihrer verschollenen Freundin, sondern auch nach der einen Liebe, die sie über all die Jahre nicht vergessen konnte ... Kenntnisreich und hoch atmosphärisch führt Hanna Lucas? Roman ins Berlin der 30er und 40er Jahre und verwebt die Geschichte der Kinder-Transporte nach England mit einer Frauen-Freundschaft, die mehr als eine Prüfung zu bestehen hat zu einem großen, dramatischen Roman.

Kapitel 2


Berlin, Schöneberg, 2022, eine Woche zuvor
Laura

Dumpf drangen die Stimmen der Nachbarn durch die alte Wohnungstür ins Treppenhaus. Ich stand im vierten Stock. Gemurmel, mein Kopf dröhnte. Was machte ich hier vor verschlossener Tür mit meinen Koffern? Ich erinnerte mich an meinen Auszug vor fast zwanzig Jahren. Im Flur roch es muffig, ein Geruch, wie ihn Altbauten gewöhnlich ausströmen. Es war ein wunderschöner Altbau mit hohen Decken und Stuck. Eines jener Häuser in Berlin, die viel erlebt hatten. Ich stellte meine beiden Koffer ab. Meine Hände schmerzten. Wie schaffte sie das immer noch? So ganz ohne Aufzug.

Ich klingelte erneut, aber sie schien nicht da zu sein. Dabei hatte ich ihr am Telefon erzählt, dass ich kommen würde.

Die Haustür unten war offen gestanden. Vielleicht hatte sie die Klingel nur nicht gehört? Ich steckte meinen Schlüssel, den ich trotz all der Jahre immer noch besaß, ins Schloss, die Wohnungstür knarzte, der vertraute Duft von Kaffee strömte mir entgegen. Filterkaffee. Die besten Bohnen. »Guter Kaffee ist Gold wert«, sagte sie immer. »Besonders im Krieg, das hat meine Mutter immer gesagt«, fügte sie dann stets hinzu.

»Mama, bist du da?«, rief ich, legte meine Jacke ab, hing sie an den Kleiderhaken, hielt inne, horchte.

Stille. Die Wohnung roch nach ihrem Parfum, blumig und fein. Der lange Flur sah ordentlich aus wie immer. Murmeln hatte ich hier gespielt. In den Ritzen der Dielen rollten sie so schön. Aber immer spielte ich alleine. Spät hatte sie mich bekommen, wie Großmutter sie. Wie ich – fast ein Kind bekommen hätte mit Ende 30. Wieder drängten sich Tränen hervor, ich blinzelte sie weg. Betrat die Wohnküche, in der das alte beigefarbene Küchenbuffet stand. In der modernen Spüle eine leere Tasse. Wo konnte sie sein? Mir wurde kalt, meine Hände zitterten. Ich spürte die Erschöpfung der letzten Tage, ging die anderen Räume ab, dann in mein altes Jugendzimmer und blieb überrascht stehen. Mehrere Kisten und Kartons stapelten sich hier, standen herum, versperrten den Weg zu meinem Bett. Zum Gästebett, das es mittlerweile geworden war.

 

Letzte Woche rief sie mich an. Der Altbaukeller stehe unter Wasser, ob ich ihr helfen könne. Ich konnte wirklich nicht. Ich war beim Frauenarzt, tränenüberströmt.

Der Nachbar von gegenüber hatte ihr die Kisten, die man noch retten konnte, hochgetragen, erfuhr ich später von ihr per Textnachricht. Sie wirkte kurz angebunden.

Genau sechs Tage war das nun her. Sechs Tage und 22 Stunden.

Ich ging zu meinem Teenagerbett, zog die gehäkelte Überdecke ab. Schnell kroch ich unter die Daunendecke und rollte mich zusammen. Der Duft meiner Kindheit umgab mich, fühlte sich geborgen an. Konnte man Düfte erinnern? Ich schlang die Arme um meinen Körper und sehnte mich nach meinem Kind.

»Es tut mir leid, das Herz schlägt nicht mehr«, hatte er gesagt. Ich hatte nicht damit gerechnet. Dachte, ich bin eine gesunde Frau. Gut, fast 40, aber das ist doch normal heutzutage. Spätgebärend hatten sie mich genannt. Dabei hatte ich noch nicht geboren. Risikogruppe. Ich wurde beäugt wie schwer krank. Dabei war ich schwanger, glücklich und voller Vorfreude. Angefüllt mit Liebe, wie ein Glas mit Honig. Mit einem Schlag war es umgeschüttet worden. Aber nicht zerbrochen, nicht ausgelaufen, zum Glück. Der Honig ist klebrig und fest und hält in mir. Und jetzt weiß ich nicht mehr wohin mit all meiner Liebe.

»Ich hoffe, Sie sind nicht alleine?«, hatte der Arzt noch gesagt. Zu den Untersuchungen war Alex nie mitgekommen, weil er immer genau dann einen wichtigen Klienten hatte.

»Tapfer sein«, erinnerte ich mich an die Worte meiner Mutter. »Wir Frauen schaffen alles. Auch alleine.«

Nun lag ich hier und war mir nicht sicher, ob ich es schaffen würde. Ein sensibles Kind hatten sie mich immer genannt. Meine Mutter, die Nachbarn. Meinen Vater gab es nur auf einem unscharfen Foto, mehr Familie hatte ich nicht. Und, nein, mutig war ich noch nie gewesen, woher auch? Wie sollte ich es plötzlich sein?

So sehr hatte ich mir dieses Baby, meine eigene kleine Familie, gewünscht. Viel mehr als Alex, das war immer klar gewesen. Ich hatte ihn überredet, ihm von der Vorstellung von uns zu dritt vorgeschwärmt. Zu lange hatten wir die Zeit als Paar genossen. Unser Geld für teure Kleidung und Urlaube in Miami, Kanada, Mexiko, auf Kuba und den Seychellen ausgegeben. »Mit Kind wirst du das alles nicht mehr machen können«, hatte er gesagt. »Und deinen Job musst du dann auch an den Nagel hängen.«

Dort hing er jetzt bereits. Zu früh hatte ich in der Agentur stolz verkündet, schwanger zu sein. Den Anschlussvertrag hatte ich nicht mehr bekommen.

 

Mein Blick fiel auf etwas Weißes, Gehäkeltes, das auf dem Nachttisch lag. Daneben die Häkelnadel und der Rest Baumwolle. Ein Babymützchen. Ich nahm es in die Hand, strich mit meinen Fingern über das Rippmuster. Es fühlte sich fest und kühl an. Es hätte das Kleine sicher gut vor Zugluft geschützt. Meine Mutter hatte angefangen, für mein Baby zu häkeln, durchfuhr es mich. Sie hatte sich so gefreut. Mehr, als sie es zeigen konnte. Ich hatte es ihr bei meinem letzten Besuch schon nach acht Wochen gesagt, der eigenen Mutter konnte man es doch sagen, dachte ich, auch wenn man sonst nicht losplatzen durfte mit der freudigen Neuigkeit. Das bringt nur Unglück, hatte eine Freundin einmal behauptet. Doch ich hatte es nicht geschafft. Bis zur zwölften Woche stillzuschweigen und es für mich zu behalten. Kurz vor dem Frauenarzttermin habe ich meinen engsten Freundinnen von meinem Baby erzählt. Anne hat schon ältere Kinder, hatte sich mit mir gefreut, mich in den Arm genommen und sich vorsichtig nach Alex erkundigt. »Wie hat er es denn aufgenommen, dass du schwanger bist?« Und auch Melanie hatte gefragt: »Wollte er wirklich ein Kind?« Sie haben es alle gespürt. Hatte er nur Ja gesagt aus Angst, mich sonst zu verlieren?

»Er hat sich gefreut«, hatte ich erwidert und versucht, meiner Stimme einen festen Klang zu geben. Dabei hatte ich sein Gesicht vor Augen, das Freude zeigte, die aber nicht echt aussah. Erneut fuhr ich mit dem Finger über die gehäkelte Babymütze. Spürte die Struktur des Musters. Ich fühlte mich leer, ausgehöhlt, wie eine Hülle. Fünf Jahre waren Alex und ich zusammen. Und erst jetzt merkte ich, dass auf ihn, auf seine Liebe, kein Verlass war. Dass ich mit meinem Kind auch unsere Liebe verloren hatte.

Übermannt von den vielen Gedanken, die nicht aufhören wollten, um mein Kind und Alex zu kreisen, wieder und immer wieder, gab ich nach, schloss meine Augen und hoffte auf einen Moment der Ruhe. Diese Unruhe machte sich wieder in mir breit. Wie die letzten Jahre immer häufiger. Seit sechs Tagen bekam ich oft keine Luft mehr, mein Herz raste, so wie jetzt. Ich zog die Decke höher und versuchte, ruhig und tief zu atmen.

 

»Da bist du ja schon«, drang die Stimme meiner Mutter zu mir. Ich musste geschlafen haben, schlug die Augen auf. Wie spät war es? Meine Mutter stand in ihrem leichten Sommermantel vor mir, blickte mich mit großen, mitleidigen Augen an. Unter dem Mantel trug sie einen Rock und eine Bluse, war gekleidet wie eine vornehme ältere Dame. Sie setzte sich nicht zu mir, strich mir nicht über den Kopf.

»Es geht vorbei«, sagte sie und versuchte, tröstend zu klingen. »Alles geht vorbei. Dein Alex war auch nicht das Gelbe vom Ei.«

Ich schlug die Decke zurück, setzte mich auf, fuhr mir übers Gesicht. Sie mochte noch keinen meiner Männer. Zugegeben, besonders lange hatten meine Beziehungen nie gehalten. Immer wieder war ich Single gewesen. Aber Alex, da dachte ich, den mochte sie. Weil er sie wie eine Dame behandelte.

»Möchtest du frischen Bohnenkaffee?«, unterbrach sie die Stille. Ein »Gerne« entwich meinen Lippen.

»Der hilft immer«, fuhr sie fort. »Und ich habe Nusskranz für uns gekauft.«

Beim Bäcker war sie. Natürlich.

»Den magst du doch so, der baut dich wieder auf«, sagte sie und ging in den Flur, eine Tüte raschelte.

»Schön wäre es«, flüsterte ich.

 

Wir saßen in der Wohnküche, am Tisch neben dem beigefarbenen Küchenbuffet, und aßen schweigend. Die Porzellantassen klirrten beim Abstellen auf der Untertasse. Der Kaffee schmeckte mir zu stark. Ich fühlte mich schwach. Konnte sie mich nicht einfach mal in den Arm nehmen? Die Pendeluhr tickte.

»Ich kann nicht mehr«, sagte ich schließlich, ohne darüber nachzudenken. »Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.«

»Unsinn«, erwiderte Mama. »Merke dir eines, Laura, es geht immer weiter. Du bist stark, stärker, als du denkst.«

»Ich fühle mich aber nicht so.«

»Glaube mir. Auch ohne ein eigenes Kind kannst du glücklich werden. Und vielleicht klappt es ja noch irgendwann.«

Ich sah sie an. Ihre hellblauen Augen wirkten trüb, ihre beinahe durchsichtige Haut zeigte zarte Falten. Wann war meine Mutter nur so gealtert?, dachte ich. Sie wurde vergesslich in letzter Zeit, das hatte sie selbst gesagt, und ich hatte es auch schon bemerkt.

Fast trotzig schüttelte ich den Kopf. »Du wohnst hier in deiner Wohnung in Schöneberg und bekommst nicht mit, wie es draußen zugeht. Es gibt so viele einsame Menschen, auch in meinem Alter, und so wenige, die beziehungsfähig sind. Und vermutlich bin ich selbst es auch nicht.«

»Für...

Erscheint lt. Verlag 1.3.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2. Weltkrieg • 2. Weltkrieg Romane • 3. Reich • Berlin • Deportation • Deutsche Nachkriegsgeschichte • dramatische Romane • Drittes Reich • Drittes Reich Romane • Familienschicksal • Fotografie • Fotografin • Frauenfreundschaft • Frauenfreundschaft Roman • Frauenroman • Freundinnen • Freundschaft • Geschichte der Pfadfinder • Große Liebe • Hanna Lucas • Historischer Liebesroman • historische romane 20. jahrhundert • historische Romane Berlin • Historische Romane Deutschland • Historische Romane / Judentum • historische Romane Nachkriegszeit • Judentum • Judenverfolgung • jüdische Kinder • Jüdisches Leben • Lebenshunger • Liebesgeschichte • London • Mut • Nachkriegsdeuschland • Nachkriegszeit Deutschland • Nationalsozialismus • Nationalsozialismus Roman • Nazideutschland • Pfadfinder • Pfadfinderinnen • Roman 3. Reich • Romane für Frauen • Roman Freundinnen • Roman Freundschaft • Starke Frauen • Widerstand • Widerstand im 3. Reich • Widerstand im Dritten Reich • Widerstand NS Zeit
ISBN-10 3-426-46220-6 / 3426462206
ISBN-13 978-3-426-46220-1 / 9783426462201
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