Wir gingen raus und spielten Fußball (eBook)
160 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11840-7 (ISBN)
Andreas Bernard, geboren 1969 in München, lehrt Kulturwissenschaften an der Leuphana-Universität Lüneburg und ist Autor von Sachbüchern über den Fahrstuhl als Ort der Moderne, die Geschichte der Reproduktionsmedizin und das Menschenbild der digitalen Kultur. Das bei Klett-Cotta erschienene Buch »Wir gingen raus und spielten Fußball« war für den Bayerischen Buchpreis nominiert. Andreas Bernard lebt in Berlin.
Andreas Bernard, geboren 1969 in München, lehrt Kulturwissenschaften an der Leuphana-Universität Lüneburg und ist Autor von Sachbüchern über den Fahrstuhl als Ort der Moderne, die Geschichte der Reproduktionsmedizin und das Menschenbild der digitalen Kultur. Das bei Klett-Cotta erschienene Buch »Wir gingen raus und spielten Fußball« war für den Bayerischen Buchpreis nominiert. Andreas Bernard lebt in Berlin.
1. Gummi
Der Sportplatz, auf dem ich das Fußballspielen gelernt habe, ist seit vielen Jahren verwaist. Niemand trifft sich mehr auf den beiden Steinfeldern, deren rötlicher Belag längst abgeblättert ist. Wenn ich heute noch an dieser Stelle vorbeikomme, in der Mitte eines weitläufigen Parks, bietet sich ein trostloses Bild. Die vier Eisentore sind irgendwann enger zusammengeschoben und neu montiert worden, um Platz zu schaffen für einen nachträglich errichteten Basketballkorb. Um dieses Gestänge herum stehen ein paar Jugendliche in hohen Sportstiefeln und werfen Bälle; ansonsten sind die Plätze unbesetzt, so leer wie ein ausgelassenes Schwimmbecken. Allenfalls sieht man einen Vater, der sich in eines der Tore gestellt hat und die unbeholfenen Schüsse seines kleinen Sohnes mit Absicht passieren lässt.
Als ich auf den Steinplätzen meine ersten Spiele machte, waren sie das lebendige Zentrum des ganzen Viertels. Der Ort wurde von allen nur der Abenteuer genannt, obwohl sein offizieller Name, auf grünen Tafeln am Eingang des Parks angebracht, ganz anders lautete. Jeden Tag nach dem Mittagessen fuhr ich mit dem Fahrrad die hügelige Strecke hinauf, bog nach rechts, wo die Bucht mit den Fußballfeldern lag, und vor der letzten Kurve, einem abschüssigen, von hohen Sträuchern umgebenen Fußgängerweg, stellte sich immer die bange Frage, ob auch genügend Spieler da sein würden. Kaum jemals wurde diese Hoffnung enttäuscht. Durch das Gebüsch hindurch erkannte ich die vielen beweglichen Silhouetten und die Fahrräder, die auf der Grasfläche rund um die beiden Steinplätze lagen. Meine Freude dann, wenn klar wurde, dass die Felder besetzt waren (genau umgekehrt wie später beim Flippern, wenn der Weg durch das Lokal von der Unsicherheit erfüllt war, ob der Apparat, der hinten im Gang zu den Toiletten stand, auch frei sein würde): Der Ort vibrierte, der Abenteuer machte seinem Namen alle Ehre, und am späteren Nachmittag konnte es sogar geschehen, dass Spieler für fünf oder sechs Mannschaften um die beiden Plätze herum versammelt waren und die Wartenden, wie Zuschauer auf einer Tribüne, auf den schrägen Grasflächen am Rand zusammensaßen.
Die beste Ankunftszeit, gegen zwei Uhr, war die kurze Phase, in der den verschiedenen Fraktionen, die noch auf ein Tor spielten oder unschlüssig in der Mitte herumstanden, klar wurde, dass nun genügend Leute für ein richtiges Spiel beisammen waren. Eine andere Spannung erfüllte plötzlich den Platz, und die losen, unabhängig voneinander gekommenen Gruppen gingen aufeinander zu:
»Wollen wir ein Spiel machen?«
»Gut, wer wählt?«
Es gelang mir nicht oft, diesen Moment abzupassen. Meistens war schon ein Spiel im Gange, wenn ich am frühen Nachmittag auf die Steinplätze kam, und ich erinnere mich an die Überwindung, die es kostete, mich an den Rand zu stellen und einem Spieler, der mir wie eine Autorität auf dem Feld vorkam, nach einer Weile die Frage zuzurufen: »Entschuldigung, kann ich vielleicht noch mitspielen?« oder »Braucht ihr vielleicht noch einen?« Diese Worte, die Refrains meiner Kindheit, habe ich unzählige Male ausgesprochen: auf Freibadwiesen, auf den Höfen von Landgaststätten, wenn die Eltern nach dem Essen noch länger sitzen bleiben wollten, oder auf improvisierten Fußballfeldern am Urlaubsort. Anfangs zögerte ich oft lange, aus der Angst heraus, eine abschlägige Antwort zu bekommen. Doch es geschah fast nie, dass meine Bitte wirklich zurückgewiesen wurde. Nur hörte ich regelmäßig, dass ich erst einen Zweiten finden müsse, weil die Mannschaftsstärken durch mich ins Ungleichgewicht geraten würden. Ich gewöhnte mir deshalb an, vor dem Fragen die Spieler auf dem Platz zu zählen. Ergab sich eine ungerade Zahl, rief ich meinen Satz mit etwas größerem Mut, und wenn ich dann aufs Feld kam, erwartete ich den ersten Pass, das erste Dribbling mit einer Mischung aus Unsicherheit und der Hoffnung, dass ich meinem Ballgefühl schon trauen könnte.
Ich habe kaum einzelne Gesichter vor Augen, wenn ich an die erste Zeit auf dem Abenteuer denke – eher ein Gewimmel von Oberkörpern, von dem ich als einer der Jüngsten auf dem Feld, einen Kopf kleiner als die anderen, ständig umgeben war. Nur zwei besonders auffällige Spieler sind mir noch in Erinnerung, damals kamen sie mir wie ausgewachsene Männer vor: der eine, Hansi, klein und wendig, mit blondem Flaum über der Oberlippe und einem ärmellosen T-Shirt im Muster der amerikanischen Flagge, der andere ein bulliger, immer lächelnder Türke namens Direk. (Ich baute mir eine Eselsbrücke, um mir den fremd klingenden Namen zu merken: wie Derrick aus dem Freitagabend-Krimi, nur mit vertauschten Vokalen.) Beide konnten sich ganz allein durch die gegnerische Mannschaft dribbeln, und manchmal schoben sie am Ende dem mitgelaufenen Sechs- oder Siebenjährigen großzügig den Ball zu, damit er ins leere Tor schießen konnte.
Direk kam meistens in Anzug und eleganten Schuhen auf den Platz, legte Sakko und Hemd auf einen der Steinhocker neben den Tischtennisplatten und spielte in jener Kluft, die ich später noch oft bei älteren türkischen Spielern (und nicht den schlechtesten) gesehen habe: mit Unterhemd, Anzughose und schwarzen Slippers. Die dünne Sohle seiner Schuhe sorgte dafür, dass er eher über den Platz rutschte als lief, aber seinem unglaublichen Ballgefühl konnte das nichts anhaben. Direk umspielte die mit akkuraten Sportschuhen ausgerüsteten Gegner, ließ den letzten Verteidiger ins Leere laufen, schlitterte ein, zwei Meter und schob mir vor dem hinauslaufenden Torwart den Ball zu. Nachdem ich das Tor erzielt hatte (das nur noch »Formsache« gewesen war, wie ein Kommentator gesagt hätte), kam er im verschwitzten Unterhemd über der auberginefarbenen Hose auf mich zu, legte mir grinsend den Arm um die Schulter, und der herbe Geruch, der in der Luft lag, war für mich das Zeichen der erwachsenen, arrivierten Fußballwelt.
Unterhalb der Steinfelder, am Ende des Abhangs, der zum Gelände des Fußball- und Hockeyclubs führte, gab es noch einen kleinen Sportplatz mit rotem Gummibelag und richtigen Handballtoren. Dieser Platz war immer leer, und weil er keinen sichtbaren Zugang hatte und von einem hohen Zaun umgeben war, hielt ich ihn lange Zeit für einen Teil des Vereins oder vielleicht auch der dahinterliegenden Schule. Ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam, dass ich dort zu spielen begann. Im Unterschied zum Abenteuer, dessen Eröffnungsdatum auf den Tafeln am Parkeingang eingraviert ist, hat dieser Ort, an dem ich dann viele Jahre lang jeden Tag verbrachte, in meiner Erinnerung keinen Ursprung. Vielleicht hing die Abkehr von den Steinfeldern damit zusammen, dass ich kurz nach meinem siebten Geburtstag (laut der Ausweiskarte, die ich aufbewahrt habe, ab September 1976) im Fußballverein Mitglied wurde und dadurch bei jedem Training den Gummiplatz im Blick hatte. Es gab natürlich doch eine unscheinbare Eingangstür, und wahrscheinlich haben ein paar Spieler irgendwann damit angefangen, sich vor dem Training dort zu treffen.
Was ich aber noch genau weiß: Von den Steinfeldern hinunter auf den Gummiplatz zu wechseln, kam einer Beförderung gleich. Anstelle der losen Zusammensetzung oben, manchmal nur zu sechst oder siebt, manchmal zu zwanzigst, mit älteren und jüngeren Spielern, guten und schlechten, deutschen und ausländischen, bildete sich hier sofort eine einheitliche Gruppe von Fußballern. Wir waren alle ungefähr im selben Alter, anfangs vielleicht zwischen neun und elf, und bis auf wenige Ausnahmen Vereinsspieler beim benachbarten Club oder den anderen, etwas kleineren, die es in unserem Stadtteil gab. Niemand kam zufällig vorbei, es fehlte die Laufkundschaft wie auf dem Abenteuer, was sicher mit der Abgeschlossenheit des Platzes zu tun hatte, eingebettet zwischen dem großen Vereinsareal auf der einen Seite und dem mit Bäumen bewachsenen Abhang auf der anderen.
Ab Viertel nach zwei während der Schulzeit, in den Ferien schon morgens um neun, trafen auf dem Gummi, wie der Ort bei uns hieß, fast ein Jahrzehnt lang die gleichen Spieler zusammen: Harald, Christian, Stefan, Rainer, Oliver, Jürgen, Martin, Frank; wenig später kamen Thomas, Michael, Wolfgang, Jan, Norbert, Peter, Jörg und ein weiterer Oliver hinzu. Der Klang der Namen und ihrer geläufigen Abkürzungen (»Harry«, »Michi«, »Oli«; Christian und Thomas wurden nur mit ihren Nachnamen »Jonas« und »Huber« gerufen), diese graue, aber solide DIN-Norm männlicher Vornamen der späten sechziger und frühen siebziger Jahre: Im Nachhinein kommt es mir so vor, als wäre die Stabilität der Gemeinschaft sogar ein wenig auf diese Namen zurückzuführen, als hätten sie in ihrer Biederkeit ein verlässlicheres ...
Erscheint lt. Verlag | 19.2.2022 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | BRD • Erinnerung • Erinnerungen • Fußball • Fußballfans • Jugend • Nostalgie |
ISBN-10 | 3-608-11840-3 / 3608118403 |
ISBN-13 | 978-3-608-11840-7 / 9783608118407 |
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Größe: 3,3 MB
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