Unser Teil der Nacht (eBook)

Roman
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2022 | 1. Auflage
832 Seiten
Tropen (Verlag)
978-3-608-11865-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unser Teil der Nacht -  Mariana Enriquez
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»Eine begnadete Schriftstellerin. Eindrücklich, dunkel und poetisch.« Patti Smith Dunkelheit und Licht, Grausamkeit und Liebe. Eine große Familiensaga in einem von Extremen geprägten Land. Mariana Enriquez führt uns durch die verschlungene Geschichte Argentiniens, hin zu den Abgründen der Macht. Eine einzigartige Vater-Sohn-Geschichte, in der doch die Frauen alle Fäden in der Hand halten. Ein Vater und sein Sohn fahren quer durch Argentinien, als wären sie auf der Flucht. Wohin wollen sie? Vor wem fliehen sie? Es sind die Jahre der Militärjunta: Menschen verschwinden spurlos, überall lauert Gefahr. Juan versucht, seinen Sohn Gaspar vor dem Schicksal zu schützen, das ihm zugedacht ist, seit seine Mutter unter ungeklärten Umständen gestorben ist. Bei einem Unfall, der vielleicht keiner war. Wie sein Vater soll Gaspar einem Geheimbund, genannt der Orden, als Medium dienen, der mit grausamen Ritualen dem Geheimnis des ewigen Lebens auf die Spur kommen will. Doch der Preis ist hoch und der körperliche und geistige Verfall schnell und unerbittlich, wie Juan weiß. Unser Teil der Nacht ist eine Reise durch 40 Jahre argentinische Geschichte, auf den Spuren der Verführungen und Verbrechen der Macht. Eine große Geschichte, die Enriquez so poetisch, lakonisch und episch erzählt, dass sie noch lange nachhallt. »Mariana Enriquez erzählt mit der Wucht eines Güterzugs.« Dave Eggers

Mariana Enriquez, geboren 1973 in Buenos Aires, machte ihren Abschluss in Journalismus und sozialer Kommunikation. 2021 stand sie auf der Shortlist des International Booker Prize. Ihre Werke gewannen zahlreichen Preise und sind in viele Sprachen übersetzt. Für 'Unser Teil der Nacht' erhielt sie 2019 den Premio Herralde, den wichtigsten Preis für spanischsprachige Literatur.

Mariana Enriquez, geboren 1973 in Buenos Aires, machte ihren Abschluss in Journalismus und sozialer Kommunikation. 2021 stand sie auf der Shortlist des International Booker Prize. Ihre Werke gewannen zahlreichen Preise und sind in viele Sprachen übersetzt. Für "Unser Teil der Nacht" erhielt sie 2019 den Premio Herralde, den wichtigsten Preis für spanischsprachige Literatur. Silke Kleemann, geboren 1976, lebt als literarische Übersetzerin, Lektorin und Autorin in München. Sie übersetzt hauptsächlich Romane und Lyrik aus dem Spanischen, u.a. Juan Filloy, Marina Perezagua, Katixa Agirre und Ariel Magnus. Für ihre Übersetzungen wurde sie mit dem Bayrischen Kunstförderpreis ausgezeichnet.

»Enríquez entwirft hier einen ganzen Kosmos der finsteren Macht, gruselig und reizvoll in seinem Detailreichtum«
Bettina Steiner, die Presse, 14. Mai 2022

»Enríquez' Roman ist nicht nur eine Familiensaga der anderen Art, sondern auch ein düsteres und zugleich erhellendes Epos über ihre Heimat Argentinien.«
Victoria Eglau, SWR 2, 08. Mai 2022

»Mariana Enriquez nimmt uns mit in die gewaltvolle Geschichte Argentiniens und die albtraumhaften Abgründe der Macht.«
Buch-Magazin, März 2022

»›Unser Teil der Nacht‹ zeigt, wie vielschichtig und erkenntnisreich ein dezidierter Genreblick sein kann – und dass die Horrorliteratur viel über die Realität erzählen kann.«
Sonja Hartl, Büchermagazin, August/September 2022

»Mariana Enríquez [schlägt] einen weiten erzählerischen Bogen von den 1050ern bis in die 1990er Jahre und liefert ein beeindruckendes gesellschaftspolitisches Panorama Argentiniens. […] Es gehört zum Besten, was die reichhaltige argentinische Literatur derzeit zu bieten hat.«
Florian Schmid, Neues Deutschland, 15. April 2022

»Berauschend!« The New York Times Book Review

»[W]ohl eines der ungewöhnlichsten Bücher in diesem Frühjahr, das von Inka Marter und Silke Kleemann ins Deutsche übertragen wurde.«
Marius Müller, Buch-Haltung, 28.Februar 2022

»[E]chter Page-Turner mit hohem Suchtfaktor.«
Ulf Heise, MDR Kultur, 23. Februar 2022

»Letztendlich ist ›Unser Teil der Nacht‹ moderner Horror wie er sein soll: tief in den Genre-Klassikern verwurzelt und doch mit einer ganz eigenen, klischeefreien Stimme, die auch zahlreiche brisante Themen nicht ausspart. Ein literarisches (Horrer-)Meisterwerk!«
Tim Lemke, Virus, 15. Juli 2022

»Ein Mix aus magischem Realismus, alternativen Familienentwürfen und argentinischer Geschichte. Atemberaubend!«
Tobias Börner, Emotion, April 2022

»Mariana Enríquez traut sich etwas. Sie […] überführt eine große erzählerische Tradition des 20. mit Wucht und Intensität […] in die Erzählkultur des 21. Jahrhunderts.«
Hans Trotha, Deutschlandfunk, 19. Mai 2022

»Große Kunst des Erzählens und zugleich auch exzellente Unterhaltung.«
Ulrich Noller, WDR 5, 20. Mai 2022

»Mariana Enríquez hat die Gabe, Türen zu einer dunklen Welt zu öffnen, die den Schrecken der Realität spiegelt, steigert und transponiert. Aus Genre-Elementen macht sie Literatur, die Ansprüche stellt und erfüllt.«
Martin Ebel, Süddeutsche Zeitung, 25. Oktober 2022

»Argentinien, das Land, das uns Jorge Luis Borges geschenkt hat, bietet eine erstaunliche Menge außergewöhnlicher Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Mariana Enriquez gehört definitiv dazu.« The Times

So viel Licht an diesem Morgen und ein klarer Himmel, nur vereinzelte weiße Flecken auf dem freundlichen Blau, und die ähnelten eher Rauchspuren als Wolken. Es war schon spät und er musste losfahren und dieser heiße Tag würde genauso sein wie der nächste: Wenn es regnete und die Feuchtigkeit vom Fluss und die drückende Schwüle über Buenos Aires kämen, würde er es nie schaffen, die Stadt zu verlassen.

Juan schluckte ohne Wasser eine Tablette, um den Kopfschmerz abzuwehren, den er noch nicht spürte, und ging ins Haus, um seinen Sohn zu wecken, der nur mit einem Laken zugedeckt schlief. Wir fahren, sagte er und schüttelte ihn ganz leicht. Der Junge wachte sofort auf. Ob andere Kinder auch so leicht schliefen, so wachsam? Wasch dir das Gesicht, sagte er und strich ihm behutsam den Schlaf aus den Augen. Es war keine Zeit zum Frühstücken, das konnten sie unterwegs tun. Er nahm die Taschen, die er schon vorbereitet hatte, und schwankte kurz zwischen mehreren Büchern, bis er sich entschloss, noch zwei weitere einzupacken. Er sah die Flugtickets auf dem Tisch, noch hatte er diese Möglichkeit. Er konnte sich hinlegen und auf den Flug in ein paar Tagen warten. Um der Trägheit nicht nachzugeben, zerriss er die Tickets und warf sie in den Müll. Unter dem langen Haar schwitzte er im Nacken: In der Sonne würde es unerträglich werden. Er hatte keine Zeit, das Haar zu schneiden, suchte aber dennoch in den Küchenschubladen nach der Schere. Als er sie fand, legte er sie in dieselbe Plastikdose, in der er die Tabletten, das Blutdruckmessgerät, die Spritze und ein paar Verbände aufbewahrte, seine Erste-Hilfe-Grundausstattung für die Reise. Auch sein schärfstes Messer und den Beutel mit der Asche, die er endlich benutzen würde. Er füllte die Sauerstoffflasche, er würde sie brauchen. Im Auto war es kühl, das Kunstleder hatte über Nacht nicht allzu viel Hitze gespeichert. Er hob die Picknick-Kühlbox mit Eis und zwei Flaschen Mineralwasser auf den Vordersitz. Sein Sohn musste hinten sitzen, obwohl er ihn lieber neben sich gehabt hätte; aber das war verboten und er durfte keinen Ärger mit der Polizei oder dem Militär bekommen, die die Landstraßen brutal überwachten. Ein Mann allein mit einem Jungen konnte verdächtig wirken. Die Staatsgewalt war unberechenbar und Juan wollte Zwischenfälle vermeiden.

Gaspar, rief er, ohne die Stimme zu sehr zu heben. Da er keine Antwort bekam, ging er ins Haus, um nach ihm zu sehen. Der Junge versuchte sich die Schnürsenkel seiner Turnschuhe zu binden.

»Was ist das denn für ein Chaos«, sagte Juan und bückte sich, um ihm zu helfen. Sein Sohn weinte, aber er konnte ihn nicht trösten. Gaspar vermisste seine Mutter, sie hatte diese Dinge ohne nachzudenken gemacht: ihm die Nägel schneiden, Knöpfe annähen, ihn hinter den Ohren und zwischen den Zehen waschen, ihn vor dem Rausgehen fragen, ob er Pipi gemacht hatte, ihm zeigen, wie man die Schnürsenkel zu einer perfekten Schleife band. Juan vermisste sie auch, wollte an diesem Morgen aber nicht mit seinem Sohn weinen. Hast du alles, was du mitnehmen willst, fragte er ihn. Wir kommen nicht zurück, um irgendwas zu holen, nur damit du Bescheid weißt.

Seit Langem war er nicht mehr so viele Kilometer gefahren. Rosario hatte immer darauf bestanden, dass er wenigstens einmal pro Woche fuhr, um nicht aus der Übung zu kommen. Juan war das Auto zu klein, wie ihm fast alles zu klein war: die Hosen zu kurz, die Hemden zu eng, die Stühle unbequem. Er sah nach, ob der Straßenatlas vom Automobilclub im Handschuhfach lag, und fuhr los.

»Ich habe Hunger«, sagte Gaspar.

»Ich auch, aber wir halten fürs Frühstück an einem ganz tollen Ort. In einer Weile, in Ordnung?«

»Wenn ich nicht esse, muss ich kotzen.«

»Und ich kriege Kopfschmerzen, wenn ich nicht esse. Halt durch. Nur eine Weile. Sieh nicht aus dem Fenster, sonst wird dir wirklich übel.«

Er selbst fühlte sich schlechter, als er zugeben wollte. Seine Finger kribbelten und er erkannte die sprunghaften Herzschläge der Arrhythmie in der Brust. Er setzte sich die Sonnenbrille auf und bat Gaspar, ihm das Märchen zu erzählen, das er am Abend zuvor gelesen hatte. Mit seinen sechs Jahren konnte Gaspar schon sehr gut lesen.

»Weiß nicht mehr.«

»Tust du wohl. Ich habe auch schlechte Laune. Versuchen wir, das zusammen zu ändern, oder haben wir die ganze Reise über Scheißlaune?«

Gaspar lachte, weil er »Scheiß« gesagt hatte. Dann erzählte er ihm von einer Waldkönigin, die singend zwischen den Bäumen spazieren ging, und alle hörten ihr gern zu. Eines Tages kamen Soldaten und sie hörte auf zu singen und wurde Kriegerin. Sie wurde geschnappt und verbrachte die Nacht im Gefängnis und floh, und um zu fliehen, musste sie den Wächter töten, der sie bewachte. Da niemand glauben wollte, dass sie stark genug war, um ihn zu töten, weil sie nämlich sehr dünn war, wurde sie als Hexe beschuldigt und verbrannt, gefesselt an einen Baum, der angezündet wurde. Aber am Morgen fanden sie statt der Leiche eine rote Blüte.

»Einen Baum mit roten Blüten.«

»Ja, einen Baum.«

»Hat dir die Geschichte gefallen?«

»Weiß nicht, sie hat mir Angst gemacht.«

»Der Baum heißt Ceibo oder auch Korallenbaum. Hier gibt es nicht so viele, aber wenn ich einen sehe, zeige ich ihn dir. Nicht weit vom Haus deiner Großeltern gibt es ganz viele davon.«

Im Rückspiegel sah er Gaspar die Stirn runzeln.

»Wie, es gibt viele davon?«

»Das ist eine Legende, ich habe dir schon erklärt, was eine Legende ist.«

»Dann gibt es das Mädchen gar nicht?«

»Sie heißt Anahí. Vielleicht gab es sie, aber die Geschichte mit den Blüten wird erzählt, um an sie zu erinnern, nicht, weil das wirklich so passiert ist.«

»Ist es jetzt wirklich passiert oder nicht?«

»Beides. Ja und nein.«

Er sah gern, wie Gaspar ernst wurde und sogar wütend, wie er sich auf die Lippen biss und eine Faust öffnete und schloss.

»Werden Hexen immer noch verbrannt?«

»Nein, heute nicht mehr. Aber es gibt auch nicht mehr viele Hexen.«

An einem Sonntagmorgen im Januar war es leicht, aus der Stadt rauszukommen. Schneller, als er erwartet hatte, blieben die Hochhäuser zurück. Dann auch die niedrigen Häuser und die aus Blech in den Armenvierteln der Randgebiete. Und plötzlich tauchten die Bäume und Felder auf. Gaspar schlief schon und Juans Arm wurde von der Sonne verbrannt wie bei einem normalen Vater an einem Wochenende mit Sport und Ausflug. Aber er war kein normaler Vater, die Leute merkten das manchmal, wenn sie ihm in die Augen sahen, wenn sie eine Weile mit ihm sprachen, irgendwie erkannten sie die Gefahr: Er konnte nicht verbergen, was er war, so etwas konnte man nicht verstecken, nicht allzu lange.

Er parkte vor einer Bar, die heiße Schokolade und Hörnchen anpries. Es gibt Frühstück, sagte er zu Gaspar, der sofort aufwachte und sich die riesigen blauen, ein wenig abwesenden Augen rieb.

Die Frau, die die Tische sauber machte, machte den Eindruck, als wäre sie die Besitzerin und noch dazu umgänglich und geschwätzig. Sie sah sie neugierig an, als sie sich weit weg vom Fenster in die Nähe des Kühlschranks setzten. Ein Junge mit einem Spielzeugauto in der Hand und sein zwei Meter großer Vater, dem das blonde Haar bis auf die Schultern reichte. Sie wischte ihren Tisch ab und nahm die Bestellung auf einem Notizblock auf, als wäre der Laden voll. Gaspar wollte eine heiße Schokolade und süßes Gebäck mit Dulce de Leche; Juan bestellte ein Glas Wasser und ein Käse-Sandwich. Er nahm die Sonnenbrille ab und schlug die auf dem Tisch liegende Zeitung auf, obwohl er wusste, dass die wichtigen Nachrichten nicht in die Presse kamen. Da stand nichts über die Geheimgefängnisse, und auch nichts über die bewaffneten Auseinandersetzungen in der Nacht, die Entführungen oder die geraubten Kinder. Nur Berichte über die Mini-WM in Uruguay, die ihn nicht interessierte. Normalität vorzutäuschen war manchmal schwierig, wenn er zerstreut war, wenn er so unheilbar traurig und besorgt war. In der vergangenen Nacht hatte er wieder versucht, Verbindung mit Rosario aufzunehmen. Er schaffte es nicht. Sie war nirgendwo, ihm gelang es nicht, sie zu spüren, sie war auf eine Art gegangen, die er einfach nicht begreifen oder akzeptieren konnte.

»Mir ist heiß«, sagte Gaspar.

Der Junge schwitzte, sein Haar war feucht, die Wangen gerötet. Juan berührte ihn am Rücken. Sein T-Shirt war völlig durchnässt.

»Warte hier auf mich«, sagte er und ging ein trockenes T-Shirt aus dem Auto holen. Dann nahm er ihn mit auf die Toilette, um ihm den Kopf nass zu machen, den Schweiß abzutrocknen und ihm das T-Shirt...

Erscheint lt. Verlag 19.2.2022
Übersetzer Inka Marter, Silke Kleemann
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2666 • 80er Jahre • 90er Jahre • Argentinien • argentinische Geschichte • Buenos Aires • David Bowie • Desaparecidos • Diktatur • Familiensaga • Horror • Korruption • Liebesbeziehung • London • Matriarchat • Militärdiktatur • Militärjunta • Mystik • Okkultismus • Patti Smith • Roadnovel • Roadtrip • Roberto Bolaño • Swinging Sixties • Vater-Sohn-Beziehung • Verschwundene
ISBN-10 3-608-11865-9 / 3608118659
ISBN-13 978-3-608-11865-0 / 9783608118650
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