Auf der Straße heißen wir anders (eBook)
240 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11833-9 (ISBN)
Laura Cwiertnia wurde 1987 in Bremen-Nord geboren und wuchs in einer deutsch-armenischen Familie auf. Sie hat in Köln und dem spanischen Granada studiert, heute ist sie Redakteurin bei der ZEIT. »Auf der Straße heißen wir anders« ist ihr literarisches Debüt.
Laura Cwiertnia wurde 1987 in Bremen-Nord geboren und wuchs in einer deutsch-armenischen Familie auf. Sie hat in Köln und dem spanischen Granada studiert, heute ist sie Redakteurin bei der ZEIT. »Auf der Straße heißen wir anders« ist ihr literarisches Debüt.
Karla
Sie war zu schwer für das Leben. Die Träger heben den Sarg auf das Podest, und für einen Moment hängt er schräg in der Luft. Mit aller Kraft müssen sie sich gegen das schwere Holz stemmen, damit es ihren Händen nicht entgleitet. Schweiß perlt ihnen von der Stirn. Dabei ist dieser Frühlingstag nicht einmal besonders warm, schon gar nicht hier in der Friedhofskapelle. Seit meine Großmutter ihre Wohnung nicht mehr verließ, hat sie zugenommen. Es war, als würde die Schwerkraft sie in eine neue Form pressen. Auf dem Metermaß wurde sie kleiner, während die Waage immer neue Kilogramm anzeigte. »Wenigstens eine Sache, die in meinem Leben geklappt hat«, sagte meine Großmutter, wenn Tante Yeva sie beim Mittagessen in den runden Bauch stupste. Mit diesem Augenzwinkern, das für wenige Sekunden den ernsten Blick aus ihrem Gesicht wischte. Aber nie ganz. Sie war zu schwer für das Leben. Und nun sogar für den Tod.
Endlich steht der Sarg neben der Kanzel. Der schwarze Lack lässt das weiße Kreuz auf dem Deckel leuchten wie einen Wegweiser. Nicht zu übersehen und nur schwer zu vergessen. Ob sie sich deshalb diesen Sarg gewünscht hat, ganz oben auf ihrer Liste? Als der Priester ihn öffnet, sind sie deutlich zu sehen. Ihre krummen Beine. Die Augen in den tiefen Höhlen. Jede Falte ein Beweis für all das Gepäck, das meine Großmutter mit sich herumgetragen hat.
Der Priester beginnt zu sprechen. Die lange Kutte wippt im Takt seiner Worte. Die spitze Kapuze, der goldene Umhang, fein bestickt mit purpurfarbenen Rosen. Prunk aus einer anderen Zeit, der ihm eine Ernsthaftigkeit verleiht, die jeden Moment ins Komische zu kippen droht. Nur, dass mir an diesem Tag nicht zum Lachen zumute ist. Seine Worte sind laut und so durchdringend, dass ich den Blick nicht von ihm abwenden kann. Ich verstehe die Sprache nicht, und doch lässt mich das Gebet nicht los. Hayr Mer, Vater unser, Punkt acht auf der Liste meiner Großmutter. Die Liste. Vierzehn Unterpunkte für eine traditionelle armenische Beerdigung, notiert auf dem Notizblock des Taxiunternehmens, für das mein Vater arbeitet. In ihren kleinen Druckbuchstaben, die aussehen wie gemalt. Jede Linie ein kleines Kunstwerk, für das sie sich viel Zeit genommen hat. »Da ist deine Oma am Ende verrückt geworden, Karla.« Als Tante Yeva uns erzählte, wie sie meine Großmutter reglos im Bett gefunden hatte, schüttelte sie ununterbrochen den Kopf. Die Liste hatte auf dem Nachttisch gelegen. Angeleuchtet von der kleinen Stehlampe. Ich suchte das Gesicht meiner Tante nach einem Lächeln ab. Einem Hinweis, dass sie ahnte, was diese Liste zu bedeuten hatte. Meine Großmutter ist nie in die Kirche gegangen, nicht seit ich mich erinnern kann. In Bremen-Nord gibt es gar keine armenische Gemeinde. Zwar sprach sie manchmal von einem Gott, aber nur, weil er sie noch immer nicht erhört hatte. Das silberne Kreuz um ihren Hals hielt ich für eine Gewohnheit, die meine Großmutter einmal um-, aber nie wieder abgelegt hat. Doch auf den Lippen meiner Tante war kein Lächeln zu finden. Stattdessen kniff sie die Augen zusammen. »Sie weiß, gegen einen letzten Wunsch können wir nichts machen.« Mein Vater nickte schweigend. Seit der Arzt den Totenschein meiner Großmutter unterschrieben hat, sind seine Sätze auf einzelne Worte geschrumpft, begleitet von einem Brummen. Auf der Eichenbank in der Friedhofskapelle spüre ich seinen Ellenbogen in meiner Seite. Doch es kommt kein Stoß, kein aufmunternder Spruch. Mit dem kleinen Ring im rechten Ohr und den Bartstoppeln, rau wie Schmirgelpapier, sieht mein Vater zwar auch an diesem Tag aus wie ein Pirat, allerdings wie einer, der an Land gegangen ist und den sicheren Boden unter den Füßen verloren hat. Daran ändert auch das schwarze Sakko nichts, das er heute statt seiner blauen Bomberjacke trägt.
Für einen Moment hört der Priester auf zu sprechen. Mit der Hand winkt er über seine linke Schulter. Ein anderer Mann, ebenfalls in einer schwarzen Kutte, bückt sich hinunter zu einem CD-Player und drückt einen Knopf. Die ersten Töne einer Melodie, tief und langgezogen. Erst einmal habe ich ein Duduk gehört, diese Flöte aus Aprikosenholz, die der armenischen Musik ihren traurigen Klang verleiht. Der Priester öffnet den Mund. Er hat noch gar nicht begonnen zu singen, als meine Großtante Karine hinter mir zu wimmern beginnt. Seine tiefe Stimme erklingt, und da steigen plötzlich auch mir Tränen in die Augen. Es ist, als ob die Melodie von der Kanzel hinein in mein Inneres strömt. Zu dem kleinen Fleck hinter meinen Rippen, wo es sticht, seit ich von dem Tod meiner Großmutter erfahren habe. Der Vorghormia, auch das Gebet war auf der Liste meiner Großmutter vermerkt. »Natürlich, keine Beerdigung ohne Herr erbarme dich«, sagte der Priester, als ich ihm den Titel am Telefon vorlas. In der Kapelle hebt er nun die Stimme. Ich habe die Worte noch nie gehört, kann sie nicht einmal aussprechen und doch kommen sie mir erstaunlich vertraut vor. Wie der Rest meiner Familie sitze ich sonst nie in einem Gottesdienst, schon gar nicht in einem armenischen. Aber als ich dieses Gebet höre, atme ich zum ersten Mal seit Tagen wieder richtig durch.
Die Telefonnummer des Priesters habe ich von Talin bekommen, einer Armenierin, die ich vor Jahren kennengelernt habe. Ich erinnere mich, wie sie mich damals fragte, woher meine Eltern stammen. An ihren forschenden Blick, als würde sie gleich ein Notizbuch aus ihrer Tasche holen. Zum ersten Mal sagte ich nicht: »Mein Vater ist Armenier, aber er stammt aus der Türkei.« Ich brauchte auch nicht zu einer Erklärung ansetzen: »Früher haben dort viele Armenier gelebt, also vor dem Völkermord.« Zu Talin sagte ich bloß: »Mein Vater kommt aus Istanbul«, und sie nickte. Zum Abschied gab sie mir ihre Nummer. Und obwohl ich sie nie angerufen habe, antwortete sie mir schon nach wenigen Minuten auf meine Nachricht. »Frag mal bei Priester Minassian nach, für eine Beerdigung fährt der schon mal ein paar hundert Kilometer in eine andere Stadt.« Tatsächlich. Ohne, dass wir ihn darum bitten mussten, rief der Priester bei der evangelischen Gemeinde in unserer Nähe an und vereinbarte den Termin in der Friedhofskapelle. Er brachte den Gebetstext mit, die Musik. Alles, wie meine Großmutter es notiert hatte. »Deine Oma will uns nur ärgern«, hatte Tante Yeva gesagt, als sie mir die Liste in die Hand drückte. Ihre Finger zerknitterten das Papier. Behutsam strich ich es wieder glatt. »Vielleicht will sie uns aber auch nur helfen?« Für mich waren die Punkte auf der Liste Wegmarken, sie sollten uns durch den Tag führen, falls wir selbst nicht mehr sahen, wo es lang geht.
Hinter meinem Rücken knistert es. Tante Yeva kramt in ihrer schwarzen Tasche mit den Glitzerpailletten. Dann zieht sie eine Handvoll Walnüsse hervor und steckt sie in den Mund. Ausgerechnet Tante Yeva, die zuhause nur fettarmen Joghurt und Lightprodukte im Kühlschrank stehen hat, kaut auf der Beerdigung ihrer Mutter, ohne die Hand vor den Mund zu nehmen. Der Priester singt lauter. Kratzige Konsonanten, einer an den anderen gehängt, zu einer langen Gebetsformel. Wie ein dichter Schal schnürt sie sich um meine Ohren, während aus kleinen goldenen Gefäßen Weihrauch in meine Nase zieht. Die Männer, die eben noch den Sarg durch die Halle geschleppt haben, tragen sie im Gang auf und ab, während sich der Rauch langsam im Raum verteilt. Die Kapelle ist klein und doch wirkt sie mit all den leeren Sitzreihen an diesem Tag erstaunlich geräumig. In den Jahren, in denen meine Großmutter nicht mehr vor die Tür ging, sind die Menschen in ihrem Leben weniger geworden, bei ihrer Beerdigung sind wir auf eine Handvoll zusammengeschrumpft. »Hätten wir eine größere Familie, wäre uns das nicht passiert.« Ein Satz, den meine Großmutter in den vergangenen Jahren oft vor sich hinmurmelte. Wenn mein Vater sie so reden hörte, unterbrach er sie jedes Mal. »Iss lieber noch was, Mayrig.« Mama, das war eines der wenigen armenischen Worte, die auch ich verstand.
Tante Yeva hat aufgehört zu kauen und hält uns ihre Handtasche hin. Mein Vater rührt sich nicht, auch ich greife nicht hinein. Schließlich beugt meine Tante sich bis zum Ende der Eichenbank, hinüber zum Rollstuhl meiner Großtante Karine. Wie meiner Großmutter ist es Karine gelungen, weit über neunzig Jahre alt zu werden und alle Männer aus unserer Familie zu überleben, bis auf meinen Vater. Die meiste Zeit des Tages verbringt sie in einem orthopädischen Sessel im Altersheim, fünfzig Kilometer entfernt in Niedersachsen. An diesem Tag aber hat Großtante Karine darauf bestanden, dass die Pflegerin ihr das schwarze Kostüm anzieht und mein Vater sie mit dem Taxi hierher in die Kapelle fährt. Seit ihr Mann Vartan vor zwölf Jahren gestorben ist, hat Großtante Karine jeden Tag ...
Erscheint lt. Verlag | 19.2.2022 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Armenien • Bremen • Familienroman • Gastarbeiter • Identität • Klasse • Migration • Muttersprache • Rassismus • Soziales Milieu • Türkei • Völkermord • Wurzeln • Yerewan |
ISBN-10 | 3-608-11833-0 / 3608118330 |
ISBN-13 | 978-3-608-11833-9 / 9783608118339 |
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Größe: 3,5 MB
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