Wenn mein Herz erwacht (eBook)

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
240 Seiten
Francke-Buch (Verlag)
978-3-96362-853-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wenn mein Herz erwacht -  Jody Hedlund
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New York, 1857: Christine Pendletons verletzte Seele will sich nicht länger den Wunden der Vergangenheit hingeben. Stattdessen meldet sich die junge Frau als Freiwillige für den Dienst unter den verarmten Einwandererfrauen und Waisen in New York. Zusammen mit Guy Bedell, einem Geistlichen, der sich vor allem um das Seelenheil seiner anvertrauten Schäfchen kümmert, will sie den Ärmsten eine Perspektive aufzeigen. Dabei kommt ihr das beträchtliche Vermögen, das der Vater ihr hinterlassen hat, gerade recht. Wird es ihr gelingen, den sympathischen Geistlichen für ihre Ideen zu gewinnen?

Jody Hedlund lebt mit ihrem Mann, den sie als ihren größten Fan bezeichnet, in Michigan. Ihre fünf Kinder werden zu Hause unterrichtet. Die Zeit, die ihr neben dieser Tätigkeit noch bleibt, widmet sie dem Schreiben.

Kapitel 1

New York
Mai 1857

»Verlasst den sündigen Weg der Prostitution und lauft zu unserem himmlischen Vater, der euch mit Liebe in seinen vergebenden Armen aufnimmt.« Pastor Bedells Stimme übertönte das Schniefen und erstickte Weinen der Frauen, die dicht gedrängt auf den harten Bänken der Kapelle in der Centre Street saßen.

In der vordersten Reihe faltete Christine Pendleton die Hände auf ihrem Schoß und weinte innerlich über die Sittenlosigkeit, der diese Frauen Nacht für Nacht ausgesetzt waren. Obwohl sie seit einem Monat jeden Sonntag ehrenamtlich in der Kapelle mitarbeitete, litt ihr Herz jedes Mal, wenn sie die vielen Einwanderinnen sah, die in ein unmoralisches Leben hineingerutscht waren.

Als jemand an den Falten ihres schwarzen Rocks zupfte, blickte sie nach unten und sah, dass die schmutzigen Finger eines Kleinkinds, das hinter ihr auf dem Boden spielte, den Seidenstoff gepackt hatten. Die Hände waren nicht nur dreckig, sondern auch vom Schleim ganz schmierig.

»Nimm die Finger von der eleganten Dame!« Dem strengen Flüstern hinter Christine folgte ein Klaps auf die Hand des Kindes.

Der kleine Junge wimmerte und zog schnell die Hand von dem edlen Rock zurück.

»Das macht doch nichts.« Christine lächelte die junge Mutter an, die ein neugeborenes Baby in ihren dürren Armen hielt. Die Frau erwiderte ihr Lächeln nicht, sondern schaute Christine nur mit müden Augen an. Sie gab dem Baby, das sie im Arm hielt, einen leichten Klaps, obwohl der Säugling, der in ein zerschlissenes Tuch gewickelt war, während des gesamten Gottesdienstes keinen Ton von sich gegeben hatte. Christine hatte zwar keine Ahnung von Kindern, aber sie ging davon aus, dass Quengeln und Zappeln besser wären als diese Lethargie.

Das Kleinkind auf dem Boden blickte mit Tränen in den Augen zu ihr hinauf. Ihm lief die Nase ununterbrochen und der grünliche Schleim klebte ihm im Gesicht. Christine wollte gar nicht daran denken, was jetzt alles an ihrem Rock seine Spuren hinterließ.

»Hier.« Sie löste den verkrampften Griff um ihr Taschentuch und hielt es dem kleinen Jungen hin.

Seine klebrigen Finger berührten zögernd den Spitzenrand des Stoffes.

»Du kannst es haben«, flüsterte Christine.

Der Junge nahm das Taschentuch vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger. Das fleckenlose Weiß bildete einen starken Kontrast zu seinem Hemd, das wahrscheinlich irgendwann einmal weiß gewesen war, aber jetzt so grau war wie schmutziges Spülwasser. Seine Hose wurde von einer Schnur um die Taille gehalten und die Hosenbeine waren hochgekrempelt, da die Hose für ein viel größeres Kind gedacht war. Das war unübersehbar. Aus dem weiten Stoff ragten die Füße des Jungen wie dürre Zweige und seine Fußsohlen, die so schwarz waren wie Ruß.

»Ihr könnt euer Leben ändern«, sprach der Pastor weiter. »Es besteht Hoffnung. Ein besseres Leben ist möglich.«

Der Junge breitete das Taschentuch auf seinem Schoß aus und begann, mit dem Finger den gezackten Rand nachzufahren. Christine wartete darauf, dass die Mutter das Tuch nehmen und dem Jungen die Nase putzen würde, da er selbst offensichtlich nicht die Absicht hatte, das zu tun. Aber die junge Frau sah ihr Kind gar nicht an. Es war fast so, als hätte sie vergessen, dass der Junge überhaupt da war.

Hatten sie vielleicht beide noch nie ein Taschentuch gesehen?

Bei diesem beunruhigenden Gedanken drehte sich Christine wieder nach vorne und versuchte, sich auf Pastor Bedell zu konzentrieren, der hinter dem schlichten Predigtpult stand. Die Armut und das Elend dieses Ortes erdrückten sie erneut genauso wie an dem Tag, an dem sie den Pastor bei der Veranstaltung der Damen-Missionsgesellschaft hatte sprechen hören.

Er hatte sich so leidenschaftlich über die Nöte der Einwanderer in Lower Manhattan geäußert. Er hatte einige Situationen beschrieben, die er erlebt hatte: den Alkoholmissbrauch, die Diebstähle und die Verdorbenheit, die in dieser »teuflischen Hölle«, wie er diesen Stadtteil bezeichnete, überall anzutreffen waren. Obwohl er eigentlich gekommen war, um seinen Jahresbericht vorzustellen, hatte er seine Rede mit der Einladung an die Damen abgeschlossen, seine evangelistischen Bemühungen zu unterstützen und mit ihm die Armen zu besuchen.

Seit sie den Pfarrer gehört hatte, hatte Christine kaum mehr an etwas anderes denken können und sich von ihrem Kutscher schließlich zur Kapelle in der Centre Street fahren lassen. Selbstverständlich hatte ihr Besuch nichts mit Pastor Bedell selbst zu tun. Auch wenn die anderen Damen tuschelten, wie attraktiv der verwitwete Pastor aussehe, schenkte Christine solchem Gerede keine Beachtung. Mit ihren dreißig Jahren hatte sie sich längst damit abgefunden, für den Rest ihres Lebens allein zu bleiben. Sie hatte ihre Hoffnungen und Träume von einem Mann und Kindern begraben und sah keinen Sinn darin, sie neu zu beleben. Sie wollte doch nicht enttäuscht werden.

Außerdem hatte sie sich so viele Jahre rund um die Uhr um ihre Mutter gekümmert, dass sie keine Zeit für irgendetwas anderes gehabt hatte. Jetzt, da ihre Mutter gestorben war, wollte sie sich darauf konzentrieren, diesen bedauernswerten Seelen zu helfen und sich nicht von Gedanken an attraktive, unverheiratete Männer ablenken zu lassen.

»Ich flehe euch an, von euren Sünden zu lassen.« Das angespannte Gesicht des Pastors war ernst, er hatte die Stirn gerunzelt, aber seine Augen waren freundlich und mitfühlend. Er war ein eindrucksvoller Mann mit dem Körperbau eines Riesen – breite Schultern, kräftige Arme und ein breiter Oberkörper. Obwohl sein Erscheinungsbild Furcht einflößend war, strahlten sein zerzaustes weizenblondes Haar und seine Miene, die seine harten Kanten abmilderte, etwas Jungenhaftes aus.

Das Weinen in der Kapelle wurde lauter. Obwohl er freundlich und einfühlsam sprach, brachte er mit seinen klaren und eindringlichen Predigten die Frauen jede Woche zum Weinen. Wenn er die Frauen nur dazu bewegen könnte, ihren Lebensstil zu ändern!

Pastor Bedell schwieg einen Moment und beugte den Kopf. Seine kräftigen Hände umklammerten das Predigtpult. Man spürte, dass er von der tiefen Sehnsucht getrieben war, Gott möge diese Frauen anrühren.

Der schmale Raum war bis auf das Licht, das durch die schmutzigen vorderen Fenster eindringen konnte, unbeleuchtet. Die Wände waren weiß getüncht, der Holzboden sauber geschrubbt. Trotzdem war der Raum dunkel und der widerliche, süßliche Geruch von Alkohol erfüllte die Luft. Er mischte sich mit den Ausdünstungen der vielen ungewaschenen Frauen, die auf so engem Raum beieinandersaßen.

»Herr Pfarrer«, sagte eine Stimme aus dem hinteren Teil des Raums.

Seit Christine angefangen hatte, die Gottesdienste in der Kapelle zu besuchen, hatten die Frauen während der Gottesdienste nie ein Wort gesprochen. Deshalb drehte sie sich jetzt zusammen mit allen anderen um, um zu sehen, wer so kühn war, den Pfarrer bei seiner Predigt zu unterbrechen.

In der hintersten Reihe stand eine groß gewachsene Frau auf. Ihr marineblauer Rock war zerschlissen, ihr mit Rüschen verziertes Mieder war voller Flecken. Der Schnitt des Stoffes und die Verarbeitung verrieten, dass ihre Kleidung früher von guter Qualität gewesen war, ein Zeugnis dafür, wie tief die Frau gefallen war. Ihr Haar war zu einem Knoten zurückgebürstet und ihr Gesicht war genauso aschfahl und hager wie das der anderen Frauen.

»Entschuldigen Sie, Herr Pfarrer«, sagte die Frau mit einem leichten Akzent, »aber Sie predigen jede Woche, dass wir unser Leben ändern müssen. Ich sitze jede Woche hier und bete dafür, dass ich das auch schaffe …« Ihr versagte die Stimme und sie wischte sich mit schmutzigen Fingern die Tränen von der Wange. »Sie brauchen uns nicht zu beschreiben, wie glücklich wir früher waren und wie erbärmlich wir jetzt sind oder wie elend wir in der Ewigkeit sein werden. Das alles wissen wir selbst. Zeigen Sie uns lieber eine Möglichkeit, wie wir auf anständige Weise unseren Lebensunterhalt verdienen können. Dann geben wir dieses Leben sofort auf. Wenn wir eine andere Chance hätten, um nicht zu verhungern, würden wir sie sofort ergreifen.«

Die anderen Frauen begannen zustimmend zu nicken und ein leises Murmeln setzte ein. Einige richteten sich auf. Andere riefen: »Ja.« Diese plötzliche Energie war unerwartet und sprach in Christine die gleiche Sehnsucht an, die Pastor Bedells leidenschaftliche Predigt an jenem Tag bei der Damen-Missionsgesellschaft in ihrem Herzen geweckt hatte.

Diese Frauen brauchten Hilfe. Dringend. Aber sie waren, ähnlich wie Motten in einem Lampenschirm, in ihren Lebensumständen gefangen. Selbst wenn sie noch so kräftig mit den Flügeln schlugen, gab es für sie kein Entkommen.

Vor dem Gottesdienst hatte Christine gehört, wie die Frauen flüsternd von zwei Schwestern erzählt hatten, die ihre Arbeit verloren hatten und nichts Neues fanden. Statt ihren Körper zu verkaufen, um sich vor dem Hungertod und der Obdachlosigkeit zu retten, hatten sie sich gebadet und ihre besten Kleider angezogen. Dann hatten sie Gift getrunken, sich auf ihr Bett gelegt, sich an den Händen gehalten und waren eingeschlafen. Für immer.

Während der ganzen Predigt ging Christine das Bild von diesen zwei Schwestern nicht aus dem Kopf. Und jetzt schrie ihr Herz laut, dass die Einwanderinnen unbedingt andere Optionen brauchten als die Prostitution oder den Tod. Pastor Bedell wusste doch bestimmt eine Lösung für ihr Dilemma.

...

Erscheint lt. Verlag 1.2.2022
Übersetzer Silvia Lutz
Sprache deutsch
Original-Titel An Awakened Heart
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte Almosen • Auswanderer • Diakonie • Einwanderer • Glaube • Gott • Kleindeutschland • Liebe • Nähen • New York • praktische Nächstenliebe
ISBN-10 3-96362-853-7 / 3963628537
ISBN-13 978-3-96362-853-5 / 9783963628535
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