Pawels Briefe (eBook)
208 Seiten
Hoffmann und Campe (Verlag)
978-3-455-01282-8 (ISBN)
Monika Maron, geboren 1941 in Berlin, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der Gegenwart. Sie wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik nach Hamburg und lebt seit 1993 wieder in Berlin. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane und mehrere Essaybände. Ausgezeichnet wurde sie mit diversen Preisen, darunter der Kleistpreis (1992), der Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Homburg (2003), der Deutsche Nationalpreis (2009), der Lessing-Preis des Freistaats Sachsen (2011) und der Ida-Dehmel-Literaturpreis (2017). Bei Hoffmann und Campe erschienen zuletzt der Essayband Was ist eigentlich los? (2021) und der Roman Das Haus (2023).
Monika Maron, geboren 1941 in Berlin, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der Gegenwart. Sie wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik nach Hamburg und lebt seit 1993 wieder in Berlin. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane und mehrere Essaybände. Ausgezeichnet wurde sie mit diversen Preisen, darunter der Kleistpreis (1992), der Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Homburg (2003), der Deutsche Nationalpreis (2009), der Lessing-Preis des Freistaats Sachsen (2011) und der Ida-Dehmel-Literaturpreis (2017). Bei Hoffmann und Campe erschienen zuletzt der Essayband Was ist eigentlich los? (2021) und der Roman Das Haus (2023).
Cover
Verlagslogo
Titelseite
Seit ich beschlossen habe, [...]
Am 30. November 1930 meldete [...]
Über die Jahre zwischen [...]
Editorische Notiz der Autorin
Biographie
Impressum
Am 30. November 1930 meldete das Neuköllner Tageblatt: »Gestern kam es an drei verschiedenen Stellen Neuköllns zu Plünderungen von Geschäften durch Erwerbslose. Gestohlen wurden 9 Brote und 14 Würste.«
Überfälle auf Kartoffelwagen, Plünderungen von Bäckereien und Lebensmittelgeschäften, Krawalle im Arbeitsamt, dem »Hungerpalast« in der Sonnenallee, gehörten zum Neuköllner Alltag. In seinem Jahresbericht für 1931 befindet der Schularzt 11 % der Schulentlassenen für körperlich nicht berufsfähig. Der Neuköllner Rotfrontkämpferbund war mit 3000 Mitgliedern die stärkste Ortsgruppe in Deutschland. 1933 waren 33 % der Neuköllner Erwerbstätigen arbeitslos; der Reichsdurchschnitt betrug 25,9 %.
Als Hella vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war, führten ihre Brüder sie in die Arbeiterbewegung ein und nahmen sie mit in den »Mercedes-Palast« in der Hermannstraße, wo nach dem Kinoprogramm oft politische Veranstaltungen stattfanden. Im »Mercedes-Palast« hat Hella zum ersten Mal Ernst Busch gehört, begleitet von Hanns Eisler, und Erich Weinen rezitierte: »Vom Alexanderplatz kommt Gas heran …« Hella erinnert sich an Ernst Buschs Stimme als die eindringlichste, die sie je in ihrem Leben gehört hat. Seine Lieder, sagt sie, hätten ihr politisches Denken nachhaltig beeinflusst, das »Lied vom bescheidenen Radieschen, außen rot und innen weiß« zum Beispiel, das auf die Sozialdemokratie zielte und das auf ihre Politik heute noch genau so passt wie damals, sagt Hella. Immer, wenn sie irgendwelche Sympathien für die Sozialdemokraten empfinde, fiele ihr das Lied vom bescheidenen Radieschen ein, und alle Sympathie sei wieder dahin.
Die Geschichte von Ernst Busch und den Sozialdemokraten hat Hella mir nicht erzählt, sondern aufgeschrieben, und als ich sie las, war sie nicht dabei, wodurch uns der Streit erspart blieb. Eigentlich haben wir uns schon vor fünfzehn Jahren versprochen, über Politik nicht mehr zu streiten, was, wie Hella behauptet, dazu geführt hat, dass ich alles sagen darf und sie nichts. Ich hätte sie aber anrufen müssen, um ihr zu widersprechen, und allein die Sekunde, die ich brauche, um nach dem Telefon zu greifen, enthält genügend Zeit, alle möglichen Sätze von Hella und alle möglichen Sätze von mir mit einem gedanklichen Zirkelschlag zu umkreisen und zu wissen, dass nichts gesagt werden kann, was nicht schon gesagt wurde. Hella glaubt an den Klassenkampf, und ich glaube an den Klassenkampf nicht. Also nehme ich es einfach hin, dass Hella die Sozialdemokraten für bescheidene Radieschen hält, obwohl sie wenigstens einem von ihnen viel verdankt: dem Dr. Kurt Löwenstein, der von 1921–33 Stadtrat für das Neuköllner Volksbildungswesen war.
Neukölln muss ein besonderer Ort in Berlin gewesen sein; in Neukölln gab es nicht nur die meisten Rotfrontkämpfer und Arbeitslosen, sondern auch mehr Kirchenaustritte, Mandolinen- und Harmonikaorchester, mehr Freidenker und Arbeitersportvereine als anderswo.
Auch die Neuköllner Mädchen galten als besonders, sagt Hella, besonders intelligent oder interessant, ich weiß nicht, eben irgendwie besonders.
Und der Neuköllner Magistrat setzte eine Schulreform durch, die in ganz Preußen einzigartig war. Im Oktober 1920 wurden sechs evangelische Schulen in weltliche umgewandelt; das waren, abgesehen von einer Ausnahme in Adlershof, die ersten weltlichen Schulen in Berlin.
Mit fünf anderen Mädchen ihrer Volksschulklasse wurde Hella im Frühjahr 1929 an die Käthe-Kollwitz-Aufbauschule empfohlen, wo Kinder aus Arbeiterfamilien die Chance bekamen, auch ohne Entrichtung von Schulgeld die Schule bis zur Sekundarreife oder bis zum Abitur zu besuchen. Hella erzählt von Schülerausschüssen, Schülergemeinde, vielen Wahlen und heftigen Diskussionen. Nicht nur eine Schule für Wissen, sondern auch eine Schule für Demokratie und Politik sei ihre Schule gewesen, sagt sie.
Hella hatte einen Bubikopf, trug die Blusen über dem Rock und schnallte einen derben Ledergurt darüber; sie kannte Ernst Busch und Erich Weinert und trat in den Sozialistischen Schülerbund ein. Es gab außerdem die Sozialistische Schülergemeinschaft, aber das waren die Sozialdemokraten.
Bei Niklas Luhmann finde ich den Gedanken: »Die Komponenten eines Lebenslaufs bestehen aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, was nicht hätte geschehen müssen. Das beginnt mit der Geburt.«
Der Wechsel an die Käthe-Kollwitz-Aufbauschule war vielleicht ein solcher Wendepunkt in Hellas Leben, vielleicht der erste außer ihrem Unfall, der sie für Jahre in den Mittelpunkt der familiären Aufmerksamkeit gerückt hatte. Sie wird stolz gewesen sein, weil sie zu den Auserwählten gehörte und weil das Leben für sie mehr bereitzuhalten schien als eine Nähmaschine und Schneiderkreide.
Als ich Hella mit meiner Interpretation des ersten Luhmann’schen Wendepunkts in ihrem Leben konfrontiere, sagt sie: Ach. Nicht heftig, nicht besonders abwehrend, sie will meinen Eifer nicht enttäuschen. Ach, so wichtig war das nicht, sagt sie. Sie hätte sich gefreut, natürlich, aber stolz? Ja, wenn sie die Einzige gewesen wäre, aber sie waren ja fünf oder sechs. Außerdem hätte sie schon vorher gewusst, dass sie etwas anderes wollte als ihre Geschwister. Schon in der Volksschule hat sie selbstverfasste Gedichte vorgetragen, und der Lehrer Herr Urban hat immer sie für öffentliche Rezitationen bestimmt. Sie zeichnete viel und malte. Sie wollte Malerin werden, notfalls Modezeichnerin, oder Journalistin. Aber woher nahm sie die Gewissheit, für anderes bestimmt zu sein als Großvater, Vater und Geschwister? Woher sie es wusste, kann Hella nicht sagen, aber sie wusste es genau. Und so bleibt als einzige Erklärung doch nur die Geburt. Hella, das jüngste Kind, von Eltern und erwachsenen Geschwistern beschützt und verwöhnt; dazu bedacht mit einer unbändigen Lebenskraft.
Mitte der achtziger Jahre – ich durfte hin und wieder in den Westen reisen, und Hella galt durch ihr Alter als reiseberechtigt – verabredeten wir uns in Westberlin. Hella hatte sich bis dahin meine euphorischen Reiseberichte skeptisch angehört und war wohl ein bisschen enttäuscht, dass mein kritischer Verstand vor dem kapitalistischen Glitzerwerk so schnell versagte. Ich spekulierte auf Hellas Lust am Urbanen, auf ihr jugendliches Vergnügen am Rudel; »Hella und ihr Rollkommando« soll mein Großvater gesagt haben, wenn Hella mit ihren Freunden durch die Schillerpromenade zog. Jedenfalls lud ich Hella und ein paar Freunde zu einer Nachtwanderung durch die Westberliner Kneipen ein. Hella hat eine besondere Art, durch Türen zu gehen. Egal ob zögernd oder schnell, laut oder leise, immer strahlt sie die Erwartung aus, längst erwartet zu werden. Und weil sie es ausstrahlt, ist es auch so. Rund um den Savignyplatz zogen wir von der »Rosalinde« zum »Terzo Mondo«, vom »Diner« zum »Zwiebelfisch«. Wir tranken ausreichend Wein und rauchten, trafen Bekannte, Hella schloss Freundschaften und verteidigte den Sozialismus, wenn auch nicht den ganzen. Einer Buchhändlerin versprach sie, zu deren nächsten Geburtstag eine Schüssel Kartoffelsalat vorbeizubringen, was sie auch tat, allerdings ohne Petersilie, weil wegen Tschernobyl im Westen gerade niemand etwas Grünes essen wollte. Im »Zwiebelfisch« erwischte uns das trübe Berliner Morgenlicht, und als wir endlich die Treppen zur Wohnung meiner Freundin E. hinaufstiegen, stützte Hellas mütterliche Hand mein Kreuz, weil ich vor Müdigkeit nach hinten überzusinken drohte. Seit dieser Nacht waren die Westberliner Kneipen für Hella exterritoriales Gebiet, dem Kapitalismus durch Sympathie entzogen. Der Kapitalismus blieb schlecht, aber die Kneipen waren gut.
Was entscheidet darüber, ob wir uns eher an die glücklichen Momente unseres Lebens erinnern oder an die unglücklichen; ob uns unsere Triumphe vor den Demütigungen einfallen oder umgekehrt? Liegt es in unserer Natur, im ererbten Temperament oder an den Umständen unserer Geburt oder an dem ersten Eindruck, den die Welt uns macht? Oder gräbt sich solche Eigenart nur langsam in unseren Charakter? Ich kann mir vorstellen, dass ein früher, nicht erinnerbarer Schreck uns für lange Zeit das Glück unzugänglich machen kann. Einmal gewarnt, können wir eine eigentlich glückliche Situation nicht mehr als solche empfinden, weil wir ihr nicht trauen. Vielleicht fühlen wir uns sogar bedroht, weil wir das, was Glück sein könnte, nur für eine Täuschung halten, die sich in Enttäuschung verwandelt, sobald wir unser Misstrauen aufgeben. Andere, denen dieser Schreck oder wie immer wir es nennen wollen nicht zugestoßen ist, können die Augenblicke des Glücks einfach genießen wie warme Sommertage, ohne Gedanken an den nächsten Winter, »dieser wunderbare Sommer, weißt du noch?«, können sie später sagen, eine nicht widerlegbare Erinnerung. Ich meine nicht die Neigung, das Erlebte nachträglich zu vergolden, um zähe Ehejahre und lebenslange ehrgeizige Schinderei in vorzeigbares Glück zu verwandeln. Ich meine das, was wir im Augenblick des Geschehens als wirklich erleben, was wir als ein Stück erbeutetes Leben davontragen und in unsere Biographie einmodellieren. Wenn Hella die Skulptur ihres Lebens beschreiben sollte, würde sie vermutlich ein harmonisches kompaktes Werk vor Augen haben, mit einigen Schrunden und Scharten, vielleicht ist irgendwo sogar ein ganzes Stück rausgehauen, aber insgesamt erscheint es gelungen.
Wenn ich meiner Biographie eine Gestalt suche kommt...
Erscheint lt. Verlag | 5.1.2022 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Aufarbeitung • Brief • Erfahrung • Erinnerung • Familie • Familiengeschichte • Geschichte • Ghetto • Juden • Krieg • Osten • Polen • Porträt • Schicksal • Vergangenheit • Vertreibung • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-455-01282-5 / 3455012825 |
ISBN-13 | 978-3-455-01282-8 / 9783455012828 |
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