Hungertochter, Himmelskind -  Marina Mare

Hungertochter, Himmelskind (eBook)

Ein Essstörungs-Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
312 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7557-2074-4 (ISBN)
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Seit Lena eine ambulante Therapie macht, hat sie ihre Essanfälle einigermaßen im Griff. Alles scheint auf einem guten Weg, doch dann beginnt sie, über ihre Schwester zu sprechen. Plötzlich dreht sich ihre Essstörung um 180 Grad: Lena hungert. Schnell entwickeln sich magersüchtige Verhaltensweisen, doch ihr leichtes Übergewicht scheint die Lizenz zum Hungern zu sein. Als sie schließlich in einer Klinik für Essstörungen landet, ist es an der Zeit: Sie muss sich mit dem Trauma ihrer Familie auseinandersetzen.

Marina Mare liebt Alpenflüsse ebenso wie das Meer, vielleicht lässt sie auch deshalb so viele ihrer Gedanken aufs Papier fließen. Ihre erste Geschichte schrieb sie mit acht Jahren. Seitdem sammelt sie die Ideen auf der Straße ein und - um Geld zu verdienen - die Rechtschreibfehler anderer Leute. Auf dem Weg zum Erwachsenwerden testete sie die Grenzen ihres Körpers aus und kam viel herum in der Welt der scheinbar Verrückten. Während ihres Literaturwissenschaftsstudiums hatte sie einen Nebenjob als Lebensgeschichten-Tipperin in einer Psychologischen Praxis. Weil sie der festen Überzeugung ist, dass jeder etwas zu erzählen hat, schreibt sie nicht nur selbst Jugendbücher und Romane, sondern geht auch in Schulen, um als Schreibcoach die Schülerinnen und Schüler zu animieren, ihre eigenen Geschichten aufzuschreiben. Außer der Literatur mag sie rote Kinosessel in kleinen Programmkinos, ihre Geige und den Geruch von Sommer auf der Haut.

1 . Die Spiegelwahrheit war nicht taktvoll


Geschafft! Lena atmete tief durch und Erleichterung machte sich in ihrem Körper breit. Sie hatte die letzte Prüfung hinter sich gebracht, vor wenigen Minuten in der Uni ihre Noten erfahren und nun ihr Vordiplom in der Tasche.

Der ganze Stress der letzten Wochen fiel von ihr ab, während sie die Straße entlang Richtung Innenstadt lief. Die untergehende Oktobersonne tauchte die Zweckbauten und den Asphalt in ein warmes Licht, während Lena eine Kurzmitteilung mit der freudigen Nachricht an ihre Mutter in ihr Handy tippte. Sie spürte plötzlich sehr viel Energie in sich, obwohl sie in den letzten Tagen nur wenig Schlaf gefunden hatte. Aber Erleichterung und Freude füllten ihren ganzen Körper und verdrängten die Müdigkeit.

Die Hälfte des Studiums war geschafft – obwohl es ihr am Anfang des Jahres noch so schlecht gegangen war, dass sie kaum das Haus verlassen hatte.

Und trotz allem hatte sie super Noten erhalten. Nun war sie im Hauptstudium. Und das musste gefeiert werden.

Lena wählte einen der vorderen Einträge in ihrem Handy. Bei ihrem Cousin Achim hatte sie sich in den letzten zwei Wochen gar nicht gemeldet, aber er würde bestimmt mit ihr zur Feier des Tages in die Kneipe gehen.

»Achim? Ich hab mein Vordiplom!«

»Herzlichen Glückwunsch.«

»Danke. Hast du vielleicht Lust, mit mir darauf anzustoßen? Ich lade dich ein.«

»Hm, normalerweise immer gerne. Aber ich habe morgen einen Unterrichtsbesuch und bin hier noch mitten in den Vorbereitungen. Tut mir leid, aber das geht echt nicht. Ein anderes Mal vielleicht.«

»Na ja, okay, macht nichts.«

Seufzend steckte Lena das Handy zurück in ihre Tasche. Wenn sie schon nicht mit Achim in die Kneipe ging, hätte sie wenigstens gerne eine Flasche Sekt gekauft und wäre damit zu ihrer Nachbarin Henrike gegangen, um mit ihr anzustoßen. Aber Henrike war für eine Woche mit ihrem Freund im Urlaub.

Und wer sollte sonst an einem Montagabend für sie Zeit haben? Zwar kannte sie inzwischen einige Leute in der Stadt, aber das waren alles keine so engen Freunde, dass man sie spontan hätte anrufen können. Von den meisten hatte sie nicht mal eine Telefonnummer.

Es war eine typische Situation, wie Lena sie schon so oft erlebt hatte, aber trotzdem traf es sie jedes Mal.

»Du hast keine Freunde«, pochte es in ihr. »Du hast keinen, der sich mit dir freut.«

Dann feiere ich eben alleine, kam es ihr in den Sinn. Sie würde ein bisschen durch die Stadt schlendern. Sich vielleicht etwas Schönes kaufen. Kein Essen und keine Klamotten natürlich, denn solche Einkäufe waren nicht zum Feiern, aber eine neue CD vielleicht oder ein Buch.

Sie durfte sich ihre gute Laune nicht davon verderben lassen, dass niemand für sie Zeit hatte, das hatte sie schon zu oft gemacht und sie wusste, wie das enden würde. Also schlenderte sie durch die Fußgängerzone, guckte in dieses Schaufenster und in jenes, hatte aber gar nicht so richtig Lust, in einen Laden hineinzugehen und etwas zu kaufen.

Sie spürte, wie Schwermut in ihr aufstieg und die Erleichterung über die bestandenen Prüfungen bedrohte.

Oder sollte sie sich doch etwas Schönes zum Anziehen kaufen? Um dann mal wieder feststellen zu müssen, dass ihr dicker Hintern nicht in die Hose passte oder ihre Speckrollen am Bauch sich in einem engen Oberteil zu sehr abzeichneten? Um sich von der hämischen Magerkeit der Schaufensterpuppen verspotten zu lassen? Nein, das war keine gute Idee.

Auf ein nettes Abendessen hätte sie Lust gehabt, denn zu Hause hatte sie nur Brot, aber der Gang in den Supermarkt erschien ihr auch zu gefährlich.

In solchen Momenten wünschte sie sich ihre Therapeutin herbei. »Und jetzt?«, hätte sie sie gerne gefragt. »Wie komme ich jetzt aus dieser Situation heraus, ohne zu fressen?«

»Hallo.«

Lena schrak aus ihren Gedanken hoch und drehte sich um. Hinter ihr stand Gertrud, die sie aus der Essstörungsgruppe der Frauenberatung kannte.

»Oh, hallo, wie geht’s dir?«

Gertrud nickte zaghaft, als sei das eine Antwort auf die Frage. Lena fiel wieder einmal auf, wie dünn Gertrud war und wie alt sie wirkte. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie sie für über siebzig gehalten, dabei war sie erst fünfundfünfzig Jahre alt. Die Bulimie hatte sie schneller altern lassen, hatte ihr eine blasse, faltige Haut, eingefallene Wangen und glasige Augen beschert.

»Und was machst du in der Stadt?«

Gertrud blickte zu Boden. »Es ist doch Montag.«

»Ja, aber die Essstörungsgruppe ist doch erst wieder nächste Woche.«

»Ich weiß, aber ich bin jeden Montag hier. Mein Mann denkt doch, dass ich im Nähkurs von der VHS bin.«

»Was? Du treibst dich jeden Montag zwei Stunden in der Stadt herum und gibst vor zum Nähkurs zu gehen, damit du einmal im Monat unbemerkt zur Essstörungsgruppe gehen kannst?«

»Ja, das hab ich doch schon mal erzählt.«

»Aber ich wusste nicht, dass du deshalb jede Woche ... Ich dachte, du machst das nur, wenn die Essstörungsgruppe auch wirklich stattfindet?«

Gertrud schüttelte den Kopf.

»Undwas machst du dann immer in den zwei Stunden?«

»Durch die Stadt schlendern, gucken – ich versuche irgendwie die Zeit herumzukriegen.«

Zwei Menschen, die beide gelangweilt durch die Stadt liefen und nichts mit sich anzufangen wussten – Lena glaubte nicht an Zufälle.

»Hast du vielleicht Lust, mit mir einen Kaffee trinken zu gehen?«

Gertrud schien überrascht. »Nein, nein, ich will dich nicht abhalten vom Einkaufen oder was du vorhast. Du musst jetzt nicht wegen mir ...«

Lena lächelte. »Nicht wegen dir, auch wegen mir. Ich habe vorhin erfahren, dass ich mein Vordiplom bestanden habe, aber habe niemanden, der mit mir feiert.«

»Oh, herzlichen Glückwunsch.«

»Danke. Also was meinst du? Setzen wir uns in ein Café?«

Gertrud nickte und über ihr Gesicht huschte ein Lächeln.

Eine Viertelstunde später saßen sie im Café Engel. Das ›Engel‹ war nur wenige Meter von der VHS entfernt, wo Gertruds Mann sie hinterher abholen würde. Früher war in dem alten Gründerzeitgebäude mit den hohen Decken mal eine Apotheke gewesen – die große, dunkle Holztheke erinnerte noch daran.

Sie hatten sich einen Tisch im Hinterraum gesucht, dort, wo sie nicht direkt im Blickfeld der hereinkommenden Gäste saßen. Lena hatte sich eine Cola light bestellt und Gertrud einen Pfefferminztee. Symptomatisch irgendwie, dass sie beide kalorienfreie Getränke bestellt hatten, dachte Lena. Sie beobachtete, wie Gertrud in ihrem Tee herumrührte, ohne Zucker hineingegeben zu haben.

Sie selbst nahm einen Schluck Cola light. »Darf ich dich fragen, wieso du die Essstörungsgruppe vor deinem Mann verheimlichst?«

»Er würde mich ausschimpfen und das nicht verstehen.«

»Aber er weiß doch von deiner Essstörung?«

»Nein, er denkt, ich habe chronische Magenprobleme.«

»Du hast ihm nie etwas gesagt?«

Gertrud schüttelte den Kopf.

»Weiß es sonst jemand?«

»Nur die aus der Gruppe.«

Lena konnte nicht glauben, dass man vierzig Jahre lang seine Bulimie verschweigen konnte. Vielleicht war Gertrud deshalb in der Gruppe immer so ruhig. Meistens hörte sie nur zu und hatte noch nie so richtig von sich selbst erzählt.

»Aber wenn du mal mit deinem Mann reden würdest? Das ist doch schrecklich, wenn man so gar keinen zum Reden hat.«

Gertrud umfasste mit den Händen ihr Teeglas. »Du kennst meinen Mann nicht. Er würde das nicht hören wollen.«

»Aber ihm kann das doch nicht egal sein, ich meine, wenn er dich liebt ...«

»Mein Mann liebt mich nicht.«

»Was?«

Gertrud hielt einen Moment inne und nahm einen Schluck Tee, bevor sie leise weitersprach. »Er hat mich nur geheiratet, weil seine Eltern das von ihm erwartet haben. Das hat er mir damals zwei Tage vor unserer Hochzeit gesagt. Ich dachte, dass wir uns vielleicht aneinander gewöhnen und uns irgendwann lieben würden. Aber er liebt mich bis heute nicht.«

Lena schluckte. »Das ist ja schrecklich. Liebst du ihn denn?«

Gertrud schüttelte den Kopf. »Früher vielleicht, aber vermutlich habe ich mir das auch eingeredet. Ich war schon sehr alt für damalige Verhältnisse und war froh, dass mich überhaupt jemand zur Frau wollte. Oh Gott, warum erzähle ich dir das alles? Tut mir leid.«

»Hey, das ist doch in Ordnung. Ich wollte dir mit meinen Fragen auch nicht zu nahe treten. Aber jetzt verstehe ich, warum du dir einen Nähkurs ausgedacht hast.«

Gertrud starrte auf die Maserung der Tischoberfläche. Dann klammerte sie sich an ihr Teeglas. »Im Sommer war ich nicht bei der Gruppe, weil die Volkshochschule da ja...

Erscheint lt. Verlag 20.12.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7557-2074-4 / 3755720744
ISBN-13 978-3-7557-2074-4 / 9783755720744
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