Anna In (eBook)
176 Seiten
Kampa Verlag
978-3-311-70331-0 (ISBN)
Olga Tokarczuk, 1962 im polnischen Sulechów geboren, studierte Psychologie in Warschau und lebt heute in Breslau. Ihr Werk (bislang neun Romane und drei Erzählbände) wurde in 37 Sprachen übersetzt. 2019 wurde sie mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Für Die Jakobsbücher, in Polen ein Bestseller, wurde sie 2015 (zum zweiten Mal in ihrer Laufbahn) mit dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, dem Nike-Preis, geehrt und 2018 mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis. Im selben Jahr gewann sie außerdem den Man Booker International Prize für Unrast. Zum Schreiben zieht Olga Tokarczuk sich in ein abgeschiedenes Berghäuschen an der polnisch-tschechischen Grenze zurück.
Olga Tokarczuk, 1962 im polnischen Sulechów geboren, studierte Psychologie in Warschau und lebt heute in Breslau. Ihr Werk (bislang neun Romane und drei Erzählbände) wurde in 37 Sprachen übersetzt. 2019 wurde sie mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Für Die Jakobsbücher, in Polen ein Bestseller, wurde sie 2015 (zum zweiten Mal in ihrer Laufbahn) mit dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, dem Nike-Preis, geehrt und 2018 mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis. Im selben Jahr gewann sie außerdem den Man Booker International Prize für Unrast. Zum Schreiben zieht Olga Tokarczuk sich in ein abgeschiedenes Berghäuschen an der polnisch-tschechischen Grenze zurück.
2 Die Reise
Als Erstes hüpft der Koffer heraus – anmutig und weich landet er auf dem metallenen Podest, seine flachen Füßchen platschen leise auf den Boden. Nach dem Koffer steige ich herab, Nina Šubur, Ich-Jede, die ich erzähle, und zum Schluss folgt sie, Anna In. Der Koffer trabt heran und postiert sich unter ihrer herabhängenden Hand. Anna In gibt ihm einen leichten Schubs, und zusammen gehen wir zum Ausgang.
»Irgendetwas stimmt hier nicht«, sagt Anna In.
Sie bleibt stehen und zieht ein Wackelbildchen aus ihrer Tasche – die Reisekarte. Dann vergleicht sie den Anblick, der sich vor ihr erstreckt, mit dem Bild auf der Karte: Man braucht keine Meisterin im »Original und Fälschung«-Spiel zu sein, um die Unterschiede zu bemerken. Neben der Rolltreppe, die hinauf zu den Aufzügen führt, fehlt eine rote runde Tonne mit der Aufschrift »Abfall«. Anna In zögert; der Koffer hockt neben ihr. Schließlich setzt auch sie sich auf den Boden, umfasst die Knie mit den Armen und wartet. Und ich stehe ein paar Meter hinter ihr, wie bestellt und nicht abgeholt. Ich wage nicht, sie anzusprechen, aber ich bin voller Sorge. Diese Reise will mir gar nicht gefallen.
Mitten in den Festvorbereitungen sind wir aus dem Haus geeilt, haben das gehöhlte Häufchen Mehl mit seinen glänzend gelben Dotteraugen zurückgelassen. Mit wenigen Handbewegungen wäre der Teig geknetet gewesen. Unsere Festtagskleider liegen, wie wir sie hingeworfen haben, auf dem Bett, der Lippenstift ist offen, die Puderquaste mit Puder bestäubt. Im Fernsehen lief gerade ein Film, sein Ende haben wir nicht abgewartet. Unbezahlte Rechnungen warten auf dem Tisch, Teeblätter in der Kanne; das siedende Wasser, in letzter Minute vom Herd genommen, kühlt enttäuscht wieder ab. Anna In war plötzlich bleich geworden, hatte heftig den Kopf geschüttelt und angestrengt gelauscht, als wollte sie die Ohren aufreißen. Ja, so sagte sie es – »die Ohren aufreißen«. »Was hört man denn dann?«, fragte ich. Sie legte ihr bestes Gewand, den schönsten Schmuck an. Holte all ihre Amulette, schminkte sich sorgfältig. Und packte dann die Reisekarte ein, jenes Hologramm – woher sie es hatte, weiß ich nicht.
Andere Reisende hasten ihrer Wege, niemand achtet auf uns zwei Frauen. Man sieht, dass alle sich in ihrer eigenen Zeit bewegen – gewiss haben sie unterschiedliche Abonnements gebucht –, manche huschen so rasch vorüber, dass ihre Gesichter zu einem unleserlichen Streifen verwischen, andere schlendern gemächlich und geben ungeniert sämtliche physiognomischen Details preis. Jene sind es, die Anna In von unten betrachtet wie ein Kind. Ich weiß, sie liebt es, den Menschen zuzuschauen. So zerbrechlich sind sie und ihre Leben von so kurzer Dauer; kaum haben sie etwas gelernt, vergessen sie es auch schon wieder, eben haben sie einen Sinn erfasst, schon fallen sie der Demenz anheim. Gleichgültig ziehen sie an Anna In vorüber, doch sie ist bereits daran gewöhnt – vielleicht sehen sie sie gar nicht, wenn sie sich dort unten an die Wand duckt. Es herrscht Gedränge. Die Menschen schleppen Taschen und Rucksäcke, sie haben Besorgungen gemacht. Ihre Gedanken sind ihnen immer einen Schritt voraus, in Stichpunkten sind sie angelegt: Listen mit Einkäufen und anstehenden Aufgaben – wie Sprechblasen in Comics.
Ins Innere der Stadt dringen keine Sonnenstrahlen vor; im Laufe der Jahre, während derer die Stockwerke sich immer höher aufeinandertürmten, hat sich die Sonnenscheu der Stadt verstärkt. Statt des Sonnenlichts leuchten weiße Glühlampen und bunte Neonröhren. Deshalb tragen wir alle hier bleiche Gesichter, denen das spärliche, von den Schatten der Gestänge zerhackte Licht seine Zeichnung aufprägt wie eine Tätowierung. Minutiös scannt der Schatten unsere Körper, irgendwann wird er uns die finale Diagnose stellen.
Zwischen den Reisestrecken hängen riesige Gartenplattformen, die von den Gärtnern der Stadt auf Rollen herumgeschoben und in der Luft installiert werden. Sie klappen sie auf wie Bauchläden, und die Menschen laufen schaulustig davor zusammen – gegen geringe Gebühr dürfen sie behutsam darin spazieren gehen, auf metallenen Pfaden, um die Pflanzen nicht zu zertreten. Kinder sausen auf ihren Fahrrädern abschüssige Wege hinab, unter der umfassenden Aufsicht langarmiger Hütelianen.
Endlich – da ist er! Wir bemerken einen Putzer mit drolligem Antennenhütchen, wie eine Ameise sieht er aus. Er stellt den roten Abfalleimer wieder genau dorthin, wo das Wackelbild es vorsieht. Dann entfernt sich der Putzer wieder, schnurrt auf seinen Rollen davon. Anna In benutzt ihre flimmernde Karte bei jedem Aufzugwechsel, um sich zu vergewissern, dass es die rechte Zeit ist und der rechte Ort.
»Wohin gehen wir, was ist das für eine Reise?«, frage ich sie, frage ich Anna In.
Doch sie zuckt bloß die Achseln.
»Nur keine Sorge«, sagt sie. »Du wirst es schon sehen.«
O ja, diese Antwort kenne ich. Sie tut immer, was sie will, legt vor niemandem Rechenschaft ab. Das Einzige, was mir bleibt, ist, ihr nachzueilen, immer ein paar Schritte hinter ihr – sie ist zu schnell für mich –, und ihre schmale Gestalt im Blick zu behalten, ihr Haar, das zu vielen kleinen Zöpfchen geflochten ist. Zuzuschauen, wie sie Menschen ausweicht. Türen für sie zu öffnen, damit sie nichts berührt; ich habe genug von schwatzhaft-nörgeligen Toren, schüchtern raunenden Gläsern, Geländern, die sich rekeln und gähnen. Sogar die Mehrfahrtenkarte für den Aufzug hat plötzlich etwas zu sagen, wenn sie sie zur Hand genommen hat.
Jetzt ist es gut, das eine Bild stimmt mit dem anderen überein; das Hologramm zittert und bebt heftiger, es kichert in sich hinein und freut sich auf seine Weise an der Stimmigkeit beider Welten, als hätte es höchstselbst diese Übereinstimmung hergestellt. Anna Ins Berührung genügt, ein kurzes Auflegen ihrer schönen Hände – und sie belebt jeden Gegenstand. Besser, sie berührt nichts – schließlich haben wir schon die Scherereien mit dem Koffer. Wenn einem Ding Bewusstsein verliehen wird – und sei es nur ein winziges bisschen –, so hat es sofort eine sehr hohe Meinung von sich. Ja, so ist das.
Jemand wie Anna In, In Anna, sieht alles lebendig – jedes Rädchen der Welt, selbst den kleinsten Gegenstand. Wir aber, die wir kleiner sind als sie, können nicht so sehen. Uns wird eine solche Sicht nur zufällig zuteil, in besonderen Momenten, und rasch fällt sie wieder dem Vergessen anheim. Aus ebendiesem Grund sind wir sterblich. Von unserer Geburt an gewöhnen wir uns an das Unbelebte. Wäre es uns gegeben, die Welt lebendig zu sehen, vom Anfang bis zum Ende, so könnten wir nicht sterben, und wollten wir es noch so sehr.
Der Aufzugplan leuchtet an der Wand – ein riesiges Knäuel von Linien, es erinnert an das Nervengewebe mit all seinen Strängen, Bündeln und Abzweigen. Man selbst ist nicht mehr als ein winziger Impuls, eine kurzzeitig auftauchende Kuriosität des Raumes – das sollte man nie vergessen.
Als Anna In und ich schweigend warten, bis wir das nächste Mal umsteigen, bis wir den nächsten Anschluss finden in diesem komplexen Aufzugnetz, berühre ich ihre Hand – stelle ihr stumm wieder dieselbe Frage: Warum? Was zieht sie dorthin, weshalb unternimmt sie diese Reise? Hat sie denn hier nicht alles, was man sich wünschen kann? Sie verändert sich nicht, sie stirbt nicht, sie bewegt sich frei im Koordinatensystem der Stadt – zur Seite, nach vorn, zurück, nach oben und nach unten, in die Tiefe und an die Oberfläche. Auch hinausgehen kann sie aus der Stadt und dort ihre Glieder strecken.
Ich sehe ihr in die Augen, stelle meine Frage und warte auf Antwort. Sie zwinkert mir schelmisch zu – ich weiß schon, was ich tue, soll das heißen. Mir aber krampft sich das Herz zusammen vor Sorge.
Sirrend sausen die Aufzüge auf und ab. An einem Knotenpunkt muss Anna In warten, bis einer der Vorbeigehenden (welcher es sein wird, wissen wir nicht) ein zerknülltes Bonbonpapier auf den Boden wirft. So hat sie es auf ihrer Reisekarte gesehen. Jeder Moment, auch die kleinste Zeitspanne hat ihren Platz auf der Karte. Erst dann geht Anna In weiter. Der Koffer freut sich, begeistert scheppern seine Schnallen.
Wir fahren wohl auf schräger Strecke abwärts – sehen können wir es allerdings nicht, im Aufzug gibt es nur Spiegel. Fenster würden uns auch nicht mehr offenbaren als Kabelstränge, Kabelknäuel, endlose Tunnel. Transformatoren, kleine Lastenaufzüge, Poströhren. Ein Universum der Linien, der Atome, aufgefädelt auf die Schnüre der Zeit. Nun biegen wir im rechten Winkel ab, man spürt es, der Aufzug ruckelt und knirscht.
Ich sehe sie im Spiegel, ich sehe Anna In. Sie ist groß und schlank, hat dunkle, olivfarbene Haut; ihre langen Haare sind zu Hunderten von Zöpfen geflochten, sie sind wie der Schweif eines Kometen. Festlich hat sie sich gekleidet: Auf ihrem Kopf sitzt eine lustige eckige Kappe, die sie nur zu besonderen Anlässen trägt. Eine schwere Kette mit blauen Steinen liegt um ihren Hals. Glänzende Juwelen schmücken auch ihre Brust, und am Finger steckt ein massiver Ring, ein wenig sieht er wie ein Schlagring aus, er muss aus purem Gold sein. Über ihrem leuchtend bunten Gewand, das mit einem Muster aus Gutigern bestickt ist – jenen zahmen Miniaturlöwen, die die Menschen in der Stadt so lieben –, trägt sie ein enges silbernes Leibchen. In der Hand hält sie einen Kompass und die Reisekarte. Ich mag ihre...
Erscheint lt. Verlag | 28.4.2022 |
---|---|
Übersetzer | Lisa Palmes |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | AnnaIn • Göttin • Liebe • Mythen • Nobelpreis • Zwischenmenschliches |
ISBN-10 | 3-311-70331-6 / 3311703316 |
ISBN-13 | 978-3-311-70331-0 / 9783311703310 |
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Größe: 632 KB
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