Der große Fehler (eBook)

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2022 | 2. Auflage
368 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61271-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der große Fehler -  Jonathan Lee
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Die Welt besteht aus Fehlern und Flickversuchen. Und manchmal aus seltsamen Missverständnissen. Andrew Green ist tot. Erschossen am helllichten Tag, an einem Freitag, den 13. Spekulationen schießen ins Kraut. Verdankt New York dem einstigen Außenseiter doch unter anderem den Central Park und die New York Public Library. Inspector McClusky nimmt die Ermittlungen auf. Was wussten die übereifrige Haushälterin, der Präsidentschaftskandidat Tilden und die brillante Bessie Davis, der halb New York zu Füßen liegt?

Jonathan Lee, 1981 in Surrey, England, geboren, studierte Literatur, lebte eine Zeit lang in Südamerika und arbeitete sieben Jahre in einer Anwaltskanzlei in London. Inzwischen lebt er in New York, wo er sich nach Stationen bei renommierten Verlagen der Arbeit an Romanen und Drehbüchern widmet. Der ?Guardian? nennt Jonathan Lee »eine bedeutende neue Stimme der englischen Literatur«.

Jonathan Lee, 1981 in Surrey, England, geboren, studierte Literatur, lebte eine Zeit lang in Südamerika und arbeitete sieben Jahre in einer Anwaltskanzlei in London. Inzwischen lebt er in New York, wo er sich nach Stationen bei renommierten Verlagen der Arbeit an Romanen und Drehbüchern widmet. Der ›Guardian‹ nennt Jonathan Lee »eine bedeutende neue Stimme der englischen Literatur«.


Zum letzten Anschlag auf das Leben von Andrew Haswell Green kam es 1903 auf der Park Avenue. Die Nachricht seiner Ermordung füllte die Titelseite der New York Times – »Vater von Greater New York« vor seinem Haus erschossen. Ein Motiv wurde nicht genannt, blieb unerklärt. Der Herald, die Tribune, die Sun ergingen sich in Spekulationen. Einige Journalisten stellten die Berühmtheit des Opfers in den Vordergrund, andere die fünf abgegebenen Schüsse. Wieder andere starrten mit ernster Miene auf das Datum seines Todes: Freitag, der 13. November. Bürger mit weitschweifiger Fantasie trugen an solchen Unglückstagen Talismane bei sich, Kaninchenfüße und rostige Schrauben, Papst Pius IX. in einem Briefbeschwerer, den Stein eines Pfirsichs mit dem seltsamen Namen Stump the World – stumme, furchtlose Dinge, Glücksbringer, die sie vor dem Wahnsinn schützen sollten, doch mit seinen dreiundachtzig Jahren hatte Andrew keine Zeit für derlei Aberglauben. In seinen letzten Lebensjahren vertraute er auf Gras, Bäume und Unkraut, auf Bauten und Brücken aus Stein, und nachdem sein absurdes Ende aus den Nachrichtenspalten verschwunden war, stellte man eine marmorne Gedenkbank im Central Park für ihn auf. Das kleine Denkmal mit Blick aufs offene Grün von Fort Fish findet sich immer noch dort. Dienstagmorgens kommt jemand mit Putzutensilien und entfernt den Vogeldreck der letzten Woche.

An Andrews schicksalhaftem letzten Morgen, wie es die Times ausdrückte, wachte er früh auf und brauchte lange, um in Bewegung zu kommen, stieg dann behutsam sechzehn Stufen hinab und setzte sich an seinen Tisch aus Massachusetts-Ahorn unter den vollelektrischen Kronleuchter. Draußen vorm Fenster erwachte die Park Avenue. Staub wirbelte hinter den vorbeifahrenden Wagen auf und senkte sich wieder. Knarzende Räder trugen die Freitagswaren über das Pflaster. Aus sechsunddreißig Bohnen gebrüht war der Kaffee am besten – nach Jahrzehnten eigener Erkundungen war das sein Schluss –, und er trank ihn stetigen Schlucks aus seiner im Herbstgelb des Ulmenlaubs bemalten Lieblingstasse, bis Mrs. Bray das Frühstück brachte.

Wie haben Sie geschlafen?, fragte sie.

Wie ein Toter, sagte er.

Sie lächelten sich zu, wie sie es immer taten, und hoben gemeinsam Messer und Gabeln. Seine Haushälterin war eine rüstige Neunundsiebzigjährige, deren einst feurige irische Locken mittlerweile aufgewickeltem Metall glichen. Witze über sein fortgeschrittenes Alter waren an der Tagesordnung, und sie rühmte sich ihres Talents, Unglücke vorauszusehen. Tatsächlich hatte sie ihn in den letzten Jahren einige Male darauf hingewiesen, dass neidische Götter seinen Aufstieg zu Ruhm und Ehre mit Missgunst betrachten mochten und womöglich bald schon nach einer Schwachstelle suchten. Aber an diesem Freitag, dem Dreizehnten, wenige Stunden, bevor sie Zeugin seiner Ermordung wurde, äußerte Mrs. Bray beim morgendlichen Omelett keinerlei Warnung. Später würde sie dem kommissarischen Captain Daly der Polizeiwache East 35th Street erklären, der seine Beförderung zum tatsächlichen Captain kaum erwarten konnte, ihre Abschiedsworte an ihren Arbeitgeber an jenem Morgen hätten allein darin bestanden, dass sein voller weißer Bart in letzter Zeit außer Kontrolle geraten und ein Besuch beim Barbier noch in dieser Woche unerlässlich sei. Im Übrigen erwarte sie ihn spätestens um halb zwei zurück, vorzugsweise nach Zaubernuss und Haaröl duftend, denn der aufkommende Trend in dieser Stadt, sich vom Mittagessen zu emanzipieren, könne für einen Mann seines Alters doch keine Bedeutung haben.

Andrew hörte ihr zu, lächelte, nickte und vollführte einen unbeholfenen Tanz, um den schmerzenden Körper in seinen Mantel zu hüllen. Er hasste es, zum Barbier zu gehen. Im letzten Jahr war ein Freund gestorben, das Herz war ihm geplatzt, weil er das Kratzen der Klinge an den Hängebacken seines Stuhlnachbarn hatte mitanhören müssen. Was nicht gerade nach einem guten Abgang klang.

Er spülte seine Tasse aus und fuhr in sein Büro in der Nähe der City Hall, wo er bis ein Uhr blieb und in vier fruchtbaren Stunden mehrere Aufgaben erledigte: Er plante eine Gedenktafel für Mary Lindley Murray, antwortete auf die idiotische Korrespondenz einiger Politiker, deren größter Wunsch es war, die Freiheitsstatue mit ihrer seekranken Blässe wieder pennybraun zu streichen, und erdachte eine Route für die neuen, kupferbeschlagenen, weiträumigen Subway-Wagen, die auf Flößen den Harlem River hinaufgebracht werden sollten, was seinen Kopf mit leuchtenden Bildern füllte, nach denen der Rest des Tages nur mehr profan, profan, profan erscheinen konnte.

Er trat hinaus ins Gewimmel des Broadway und nahm sich einen Moment, um durchzuatmen. Der Herald beschrieb den Tag des Verbrechens später als einen jener klaren, strahlenden Novembernachmittage mit kaltem Wind, an denen es in der Sonne Herbst und im Schatten Winter ist. Die Sun beharrte darauf, dass der Himmel mit dunklen Wolken überzogen war, und der Brooklyn Daily Eagle stand ziemlich allein mit seiner Behauptung, dass es geregnet habe.

In diesem launischen Wetter fuhr Andrew mit der Straßenbahn über die Fourth Avenue uptown, so stand es später im Polizeibericht. Vergnügt und entschlossen wirkte er, obwohl seine scharfen Züge ihn doch allgemein schlechter gelaunt erscheinen ließen, als er es tatsächlich war. Sein weißer Bart flatterte im Wind. Er liebte es, die kalte Luft auf seinem Gesicht zu spüren und wie sie die Haut zu straffen schien. Allein die Silhouette der Stadt missfiel ihm auf seiner Fahrt nach Hause. Das angeberische Durcheinander der so verschieden hohen Gebäude, die seinem Empfinden nach in einem ständig wachsenden Widerstreit miteinander standen.

Er lag im Zeitplan für Mrs. Brays Mittagessen um halb zwei, als er um zwanzig nach an der Haltestelle 38th Street aus der Bahn stieg und erfolgreich eine stinkende Pfütze umrundete, wo der Fischhändler sein Eis auf die Straße gekippt hatte. Freitage bescherten ihm die besondere Freude der Aussicht auf Frische, war doch die kommende Woche noch bar aller Fehler! Aber warum teilten offenbar alle Heilbutt-Händler dieser Stadt den Eindruck, die New Yorker hätten keinen Geruchssinn? Andrew hob den Blick, er konnte Mr. Hepiner auf den Stufen seines Ladens sehen. Eine amphibische Gestalt, die auf ewig in ihren kleinen Gummistiefeln feststeckte und den nach Fisch stinkenden Eimer gepackt hielt, als trüge er die ganze Nation in sich.

Oh, hallo!, sagte Hepiner und winkte.

Aber Andrew winkte nicht zurück. Es gibt diese bestimmte Art von Groll, die ebenso irrational wie erhebend ist und die man sich unbedingt bewahren sollte, koste es, was es wolle. Besonders im Alter.

Er sehnte sich nach zu Hause, nach Stille. Er wollte essen, ungestört. Sein neues Buch lesen, Die Literarische Guillotine, eine Bilanz des Literarischen Notgerichts, dem Mark Twain vorgesessen und das pflichtgemäß die überschätztesten zeitgenössischen Autoren hingerichtet hatte. Still und ungestört. Auf dem Gehsteig vor sich sah er ein zerrissenes Stück Zeitung, wieder einmal umgeben von Kastanienschalen (wer war nur dieser Kastanien-Schäler?), und er bückte sich, ah, um all das aufzuheben und es sich vorsichtig in die linke Manteltasche zu stopfen, die er seinen Schneider mit einem leicht zu reinigenden Material hatte auskleiden lassen, genau für diesen Zweck. Die Straßen sauber zu halten, das damit verbundene Ritual, beruhigte ihn. Aber der Müll wurde nicht weniger. Jeder Tag brachte mehr.

Jene, die ihn auf seinem letzten Weg innehalten und die Kastanienschalen aufklauben sahen, würden bald schon als Zeugen vernommen werden und erklären, dass er müde aussah, ihn der Rücken schmerzte und seine Haltung Zeugnis von seiner inneren Verfassung gab – unbeholfen wirkte er, krängend, die rechte Hand fast unten beim Fuß, ein alter Mann, der stets zu versuchen schien, Dinge aufzufangen, die ihm aus der Hand gefallen waren. Und er spürte ihre Blicke auf sich. Es machte ihn verlegen, jeden Tag so gesehen zu werden, andererseits aber war er dankbar, dass man ihn sah, fürchtete er doch seit einiger Zeit, aus dem allgemeinen Gedächtnis zu schwinden. Präsident Roosevelt brauchte immer länger, um seine Briefe zu beantworten. Im letzten Jahr war die Rede gegangen, dass man eine große Brücke oder ein Gebäude nach ihm benennen wolle, aber womöglich hatte er diese Pläne selbst durchkreuzt, indem er griesgrämig statt schöntuerisch war und Politikern gegenüber Dinge sagte, die nur er witzig fand. Die unkluge Bemerkung zum Beispiel, Bürgermeister Lows Schnauzbart sehe aus, als sei er auf der Suche nach einem warmen Platz zum Sterben auf der Oberlippe durch die Landschaft gekrochen.

Minuten vor der Konfrontation, die sein Leben beenden sollte, ging er ohne Hilfe des Stocks, den Mrs. Bray ihm immer mitzugeben versuchte, die Park Avenue in nördlicher Richtung hinauf, ging vorbei am Metzger mit seinen blutroten Rindfleischstücken, dem Schneider, der hinter seinem Fenster HOSEN NACH MASS nähte, vorbei am Süßwarenladen und dem Dentisten gleich nebenan, die sich eine rot-weiße Markise teilten, überquerte die Straße im Schatten des Murray Hill Hotels mit seinem Cape-Ann-Granit, seinen Pressziegeln aus Philadelphia und seinen korinthischen Säulen mit eingemeißelten Laubgirlanden, sah zu seinem Haus...

Erscheint lt. Verlag 23.3.2022
Übersetzer Werner Löcher-Lawrence
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 19. Jahrhundert • Amerika • Andrew Haswell Green • bronx zoo • Central Park • detektivroman • Elefant • Great American Novel • Greater New York • Historischer Roman • Homophobie • Homosexualität • Homosexuell • LGBT • LGBTQ • Metropolitan Museum of Art • New York • New York City • New York Public Library • Rassismus • Trinidad • USA
ISBN-10 3-257-61271-0 / 3257612710
ISBN-13 978-3-257-61271-4 / 9783257612714
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