Erschütterung (eBook)

Roman
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2022
288 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27334-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Erschütterung - Percival Everett
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'Ein zartes, gewaltiges Kunststück.' (The New York Times) - Percival Everetts großer Roman über Verlust und Erlösung
Der Paläontologe Zach Wells hat sich in seiner selbstironischen Abgeklärtheit bequem eingerichtet: Idealen misstraut er, ob an der Universität, wo er, selbst Afroamerikaner, sich nicht für Gleichberechtigung einsetzt, oder zu Hause in der erkalteten Beziehung zu seiner Frau. Einziges Licht in seinem Leben ist die zwölfjährige Tochter Sarah. Als diese ihr Sehvermögen verliert und eine erschütternde Diagnose folgt, flieht Zach in die Wüste New Mexicos. Dort geht er einem mysteriösen Hilferuf nach, den er in einer Second-Hand-Jacke gefunden hatte. Ebenso mitreißend wie psychologisch feinsinnig erzählt der Pulitzer-Preis-Finalist eine große Geschichte über Verlust und Erlösung.

Percival Everett, geboren 1956 in Fort Gordon/Georgia, ist Schriftsteller und Professor für Englisch an der University of Southern California. Er hat bereits mehr als dreißig Romane veröffentlicht. Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen geehrt, u. a. mit dem PEN Center USA Award for Fiction, dem Academy Award in Literature der American Academy of Arts and Letters, dem Windham Campbell Prize und dem PEN/Jean Stein Book Award. Auf Deutsch erschienen bislang 'Ausradiert' (2008), 'God's Country' (2014) und 'Ich bin Nicht Sidney Poitier' (2014). Bei Hanser erschienen zuletzt die Romane Erschütterung (2022) und Die Bäume (2023).

KLEINE ROCHADE


Nun also war die Welt eine andere. Ich fuhr an jenem Dienstagabend von meinem Haus durch den geschäftigen Ort, den die Altstadt von Pasadena darstellte, eine harmlose Glitzerreklame für gesundes amerikanisches Nachtleben. Alle wirkten so unbeschwert und sorglos, wie sie sich treiben ließen, lachten, sich geborgen fühlten. Ich fuhr auf der 110 weiter in Richtung Süden, downtown, zu einem Restaurant mit Bar auf der Main Street, nur einen Häuserblock vom Pennerviertel entfernt, einem Lokal, von dem ich auf dem Campus ein paar Studenten hatte reden hören und das, durchaus nachvollziehbar, »Bar on Main Street« hieß. Downtown Los Angeles war auf dem Weg zurück zu alter Vorzeigbarkeit, trug aber immer noch den Schmutz und Dreck, den ich im Augenblick brauchte. Ich wusste nicht mehr so recht, wie das eigentlich ging, sich volllaufen zu lassen, glaubte jedoch, dass es nicht allzu schwierig sein konnte. Die Tür hatte die Form eines großen Schlüssellochs, und ich passte überraschenderweise genau hindurch. Es war seltsam, denn schließlich hatte ich ein paar Studenten von dem Lokal reden hören, aber so seltsam auch wieder nicht, wenn man die allgemeine Anmutung und Atmosphäre des Ladens in Betracht zog: Jedenfalls waren überhaupt keine Studenten da, sondern nur ein Haufen derber Typen und ein paar Frauen, die noch derber wirkten. Der Barmann, ein kleiner Kerl mit nur einem halben Schnurrbart, fragte mich, was ich haben wolle.

Er ertappte mich dabei, dass ich auf seine Lippe starrte. »Ich habe eine Wette verloren«, sagte er. »Was darf’s sein?«

»Scotch«, sagte ich.

»Was für welcher?«

»Egal«, sagte ich.

»Cutty Sark?«

»In Ordnung.«

»Eis?«

»Nein.«

»Wasser?«

»Bloß den Scotch.«

Ich schaute zur Tür, vielleicht in der Hoffnung, jemand Bekanntes hereinkommen zu sehen, vielleicht auch nur, weil es die Tür und der Weg hinaus war. Mein Drink wurde vor mich hingestellt und ich kippte etwas davon hinunter. Der Whisky brannte mir im Hals und ließ mir Tränen in die Augen steigen. Ich hustete. Genauer gesagt, ich würgte.

Ein Kerl ein paar Hocker weiter lachte über mich. Es war mir egal. Er war ungefähr so groß wie ich, wollte in seiner Lederjacke aber größer wirken, was in einem solchen Laden vielleicht nicht das Schlechteste war. »Immer langsam, Superman«, sagte er. »Jimmy, gib dem Mann ein Glas Wasser«, rief er dem Barmann zu.

»Danke«, sagte ich zu dem Barmann und dann zu dem Mann am anderen Ende des Tresens. Ich trank etwas Wasser, dann probierte ich wieder einen Schluck Whisky.

»Und ich heiße nicht Jimmy«, sagte der Barmann.

»Ist doch egal.«

Ich trank den Whisky aus und klopfte auf den Tresen, damit Halber Schnurrbart mir noch einen brachte.

Zu meiner Bestürzung rückte Lederjacke unbeholfen zu mir herüber und setzte sich auf den Hocker neben mir. »Ist mir scheißegal, was er sagt, er heißt Jimmy. Ich heiße James, und Sie?«

»Dann sind Sie also beide Jimmys.«

»Was? Nein, ich bin James.«

»Zach.«

»Verirrt?«, fragte er.

»Nein. Wieso?«

Der Barmann stellte einen weiteren Scotch vor mich hin und grinste James demonstrativ höhnisch an.

James ignorierte den Barmann. »Es gibt nur ein paar Gründe, sich in diesem Drecksloch aufzuhalten. Erstens, man ist schon besoffen und will sich noch mehr besaufen. Zweitens, man ist nicht besoffen und will sich besaufen, und dazu kommt man normalerweise hierher. Drittens, man hat sich verirrt. Sie sind nicht besoffen. Ich hab Sie noch nie hier gesehen. Also, oder ergo, haben Sie sich hierher verirrt.«

»Hübsche Argumentation«, sagte ich.

»Das ist eine Begabung.« Er nahm einen langen Schluck von seinem Flaschenbier, bei dem es sich, wie ich glaubte, um ein Pabst handelte. »Aber auch ein Fluch.«

»Wieso?«

»Ich kann mich jederzeit dazu bequatschen, noch einen zu trinken.«

»Verstehe.«

»Und was machen Sie so?«

»Ich bin ein unerschrockener Forscher, ein Dinosaurierjäger.«

James lachte laut auf und klopfte mir mit schlaffer Hand auf die Schulter, eine übertriebene Geste, die irgendeine Art von Unsicherheit offenbarte und dafür sorgte, dass ich ihm nicht traute. Nicht, dass ich ihm je getraut hätte.

»Und Sie?«

»Bin zurzeit arbeitslos. Geht rau zu da draußen.«

Ich nickte. Mein Nicken war ehrlich, denn für mich bedeutete »da draußen« die Welt meiner Tochter. Ich blickte mich in der Bar um. Inzwischen spielten ein paar Männer Billard. Irgendwie hatte ich auch Lust zu spielen, aber der Laden machte mir ein bisschen Angst. James spürte das wohl.

»Eine Zeitlang hatte ich einen guten Job«, sagte er. »Ich habe für Ralphs einen Lkw gefahren. Dann war ich eine Weile im Bau. Ist mir egal, was irgendwer sagt, aber als Ex-Knacki kriegst du hier draußen nichts geschenkt. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Ich kann’s mir nur vorstellen. Warum waren Sie im Bau?«

»Gefängnis«, korrigierte er mich.

»Gefängnis.«

»Die haben behauptet, ich hätte was geklaut. Sie wissen schon, das sagt jeder, aber ich war’s wirklich nicht. Das Einzige, was ich in meinem ganzen Leben geklaut hab, war eine Schachtel Mr. Bubble, und da war ich acht.«

»Mr. Bubble.«

»Ich war verrückt nach Schaumbädern.«

»Wer mag kein Schaumbad?«, sagte ich.

»Eben, stimmt’s? Und wo arbeiten Sie?«

Das Ganze ging zügig in die Binsen. »Ich arbeite an der Universität.«

»Ohne Scheiß?«, sagte James. Er fuhr sich mit den Fingern durch das fettige Haar. »Und was genau machen Sie da?«

»Ich bin Techniker in einem Labor.«

»Ohne Scheiß? Ziemlich gut bezahlt?«

»Beschissen bezahlt«, sagte ich. »Ich bin dabei, mir was anderes zu suchen. Und Sie, was war der letzte Job, den Sie hatten?« Ich versuchte, den Fokus des Gesprächs wieder auf ihn zu lenken. Ich hatte gelesen, dass das klug war.

»Was für ein Labor?«

Ich hütete mich davor, irgendetwas zu sagen, was an Medizin, Chemie oder sonst etwas denken ließ, was auf das Vorhandensein von Chemikalien oder Drogen hätte hindeuten können. Ich kam mir ziemlich clever vor, weil ich diesen Zusammenhang herstellte. »Ein Physiklabor«, sagte ich. »Ich baue Experimente für die Studenten auf.«

Die Enttäuschung stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

Ein lauter, magerer kleiner Mann kam in die Bar. Trotz seiner geringen Größe hatte er eine starke Präsenz. Er brüllte sofort auf James ein. »Hey, James, du bist ein fettes Schwein, und du schnarchst sogar, wenn du wach bist.«

»Ja, du mich auch, und zwar kreuzweise«, sagte James. Er lächelte mir zu. »Das da ist Derrick.«

Derrick stellte sich an den Tresen und unterhielt sich mit einer Frau.

»Ein Freund von Ihnen?«

»Ja, so könnte man das vermutlich sagen.«

»Tja, ich lasse Sie dann mal mit ihm plaudern. Ich muss nach Hause.« Ich kippte mein zweites Glas hinunter. Ich machte den Barmann auf mich aufmerksam. »Was bin ich Ihnen schuldig?«

»Gehen Sie noch nicht. Ich will Sie mit Derrick bekanntmachen.« Er rief seinem Freund zu: »Derrick, mach, dass du hier rüberkommst, ich will, dass du meinen Freund Zach kennenlernst.«

Derrick ließ die Frau, mit der er sich unterhalten hatte, stehen und kam herüber. Er schüttelte mir die Hand. »Ich bin Derrick.«

»Zach hier arbeitet an der Universität«, sagte James.

»Was, sind Sie Professor?« Derrick lachte.

»Arbeitet in einem Labor«, sagte James.

»Ach ja? Was für eins?«, fragte Derrick.

»Physik.«

»Sie arbeiten mit den ganzen Oszilloskopen und lauter so’m Scheiß?« Derrick war sehr von sich angetan.

»Manchmal.«

Derrick blickte sich verstohlen um. »Koksen Sie gern?«

»Nein«, sagte ich. »Hören Sie, ich gehe jetzt besser.«

»Hiergeblieben«, sagte Derrick.

»Kommen Sie schon, Zach.«

»Wissen Sie, was der Unterschied zwischen Acid und Koks ist?«, fragte Derrick. »Als ob noch irgendwer Acid nimmt. Wissen...

Erscheint lt. Verlag 24.1.2022
Übersetzer Nikolaus Stingl
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Telephone
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Afroamerikaner • Drama • erasure • Erlösung • Erschütterung • Familie • Humor • Krankheit • Paläontologe • Pulitzer-Preis • Schach • Sklaverei • Sterben • Verlust
ISBN-10 3-446-27334-4 / 3446273344
ISBN-13 978-3-446-27334-4 / 9783446273344
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