Die Nächte der Pest (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
696 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27339-9 (ISBN)

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Die Nächte der Pest - Orhan Pamuk
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Kann eine alles erschütternde Katastrophe die Menschen einen? Der neue große Roman des Nobelpreisträgers Orhan Pamuk
Als im Jahre 1901 auf Minger die Pest ausbricht, beschuldigen sich Muslime und Christen gegenseitig. Ob nun die Pilger aus Mekka den Erreger eingeschleppt haben oder die Händler aus Alexandrien, auf der Insel herrschen chaotische Zustände. Als schließlich der Sultan Abdülhamit II. sowie England und Frankreich die Insel mit Kriegsschiffen blockieren lassen, um die weitere Ausbreitung der Pest zu verhindern, sind die Menschen auf Minger auf sich allein gestellt. Orhan Pamuks neues Buch ist einzigartiger Abgesang auf das von Nationalismus und Aberglaube gefährdete Osmanische Reich sowie ein großer historischer Roman, in dem sich Phantasie und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart, Ost und West raffiniert verbinden.

Orhan Pamuk, 1952 in Istanbul geboren, studierte Architektur und Journalismus. Für seine Werke erhielt er u.a. 2003 den Impac-Preis, 2005 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2006 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hanser erschienen zuletzt Der Koffer meines Vaters (2010), Cevdet und seine Söhne (Roman, 2011), Der naive und der sentimentalische Romancier (2012), der Katalog Die Unschuld der Dinge. Das Museum der Unschuld in Istanbul (2012), Diese Fremdheit in mir (Roman, 2016), Die rothaarige Frau (Roman, 2017), Istanbul (Erinnerungen und Bilder aus einer Stadt, 2018) und Die Nächte der Pest (Roman, 2022).

KAPITEL 1


Wenn 1901 ein in Istanbul ablegendes Dampfschiff vier Tage lang schwarze Kohlenschwaden hinter sich lassend Kurs auf Süden nahm und in den gefährlichen, stürmischen Gewässern hinter Rhodos noch einen halben Tag in Richtung Alexandria weiterfuhr, konnten die Passagiere die eleganten Türme der Burg Arkaz auf Minger sehen. Da die Insel auf der Schiffslinie Istanbul-Alexandria lag, kamen recht viele Reisende in den Genuss, auf die geheimnisumwitterte, umschattete Silhouette neugierige, bewundernde Blicke zu werfen. Sobald der erhabene Bau — von Homer in der Ilias als »grüner Diamant aus rosafarbenem Stein« gewürdigt — am Horizont sichtbar wurde, lud so mancher feinfühlige Kapitän seine Passagiere an Deck, damit sie sich an dem überwältigenden Anblick erfreuen konnten, und in den Orient ziehende Maler bildeten die romantische Szenerie eifrig ab und reicherten sie mit dunklen Gewitterwolken an.

Nur wenige Schiffe legten auf Minger an, denn es gab damals nur drei Dampfer, die regelmäßig einmal in der Woche die Insel ansteuerten: zwei von der Schifffahrtsgesellschaft Messageries Maritimes, nämlich die Saghalien, die jedermann in Arkaz an ihrer grellen Sirene erkannte, die Equateur mit ihrem tieferen Ton und die nur selten und sehr kurz pfeifende, elegante Zeus der griechischen Reederei Pantaleon. Dass am 22. April 1901, an dem unsere Geschichte beginnt, zwei Stunden vor Mitternacht ein außerfahrplanmäßiges Schiff auf die Insel Minger zufuhr, ließ demnach auf ein besonderes Ereignis schließen.

Bei dem Dampfer, der sich still und leise wie ein Spionageschiff näherte, handelte es sich um die unter osmanischer Flagge fahrende Aziziye mit ihrem schmalen weißen Schornstein und dem spitzen Bug. Auf Anordnung von Sultan Abdülhamit II. war sie in besonderer Mission unterwegs, um eine hochkarätige osmanische Delegation nach China zu befördern. Zu den siebzehn Fes, Turban oder Hut tragenden Militärs, religiösen Würdenträgern, Dolmetschern und Bürokraten waren im letzten Moment noch Abdülhamits Nichte Pakize Sultan und ihr Gatte Damat Doktor Nuri Bey dazubeordert worden. Das jungvermählte Paar war glücklich und sehr aufgeregt, wunderte sich aber, was es als Teil der China-Delegation eigentlich sollte.

Pakize Sultan konnte genau wie ihre Schwestern ihren Onkel Abdülhamit nicht ausstehen und war sich gewiss, jener habe sie und ihren Gatten aus reiner Bosheit mitgeschickt, nur wusste sie nicht, worin genau diese Bosheit bestand. Bei Hof kursierte damals das Gerücht, der Sultan habe das junge Paar aus Istanbul entfernen lassen, auf dass es irgendwo in Asien an Gelbfieber oder in der Wüste Arabiens an Cholera zugrunde gehe, während andere darauf verwiesen, beim Sultan wisse man immer erst im Nachhinein, was seine finstere Absicht gewesen sei. Damat Doktor Nuri Bey — den Titel »Damat«, »Schwiegersohn«, trug er seit seiner Hochzeit mit einem Mitglied des Herrscherhauses — war etwas zuversichtlicher. Er war ein achtunddreißigjähriger, enorm fleißiger und erfolgreicher Quarantänearzt und hatte das Osmanische Reich bereits auf mehreren internationalen Hygienekongressen vertreten. Dadurch hatte er die Aufmerksamkeit Abdülhamits auf sich gezogen, diesen persönlich kennengelernt und festgestellt, was viele Quarantäneärzte schon wussten, nämlich dass der Sultan sich ebenso sehr für die Fortschritte der westlichen Medizin interessierte wie — das war allgemein bekannt — für Kriminalromane. Er ließ sich über Entwicklungen im Bereich Bakterienforschung, Labors und Impfstoffe informieren und wollte jeweils die letzten medizintechnischen Errungenschaften nach Istanbul und in die osmanischen Gebiete holen. Desgleichen war er im Bilde darüber, welche Seuchengefahr Europa aus Asien und China drohte, und ließ gegenüber Doktor Nuri durchblicken, wie sehr er darüber in Sorge war.

Da im östlichen Mittelmehr Windstille herrschte, kam die Aziziye, des Sultans Promenadenschiff, schneller voran als erwartet. Sie ging auch in Izmir vor Anker, obgleich die Stadt nicht auf ihrer Route lag. Als sie in deren nebelverhangenen Hafen einlief, erfuhren die Delegationsteilnehmer, die ab und an die schmale Treppe zur Kommandobrücke hinaufstiegen, um beim Kapitän Erläuterungen einzuholen, dass in Izmir ein geheimnisvoller Passagier an Bord gehen werde. Der russische Kapitän versicherte, selbst er wisse nicht, um wen es sich dabei handle.

Nun, es war der namhafte Chemiker und Apotheker Bonkowski Pascha, der Generalinspektor für das Gesundheitswesen des Osmanischen Reiches. Der mit seinen sechzig Jahren etwas müde gewordene, aber immer noch sehr aktive Mann war der Chefchemiker des Sultans und der Begründer der modernen osmanischen Pharmazie. Früher war er auch als mittelmäßig erfolgreicher Unternehmer und Besitzer diverser Firmen in Erscheinung getreten, die Rosenwasser und andere Düfte herstellten, Mineralwasser abfüllten und Arzneimittel produzierten. Seit zehn Jahren übte er nur noch das Amt des Generalinspektors aus, verfasste an den Sultan Berichte über Cholera- und Pestfälle und war von Seuche zu Seuche unterwegs, von Hafen zu Hafen, von Stadt zu Stadt, um dort jeweils im Namen des Sultans die Hygiene- und Quarantänemaßnahmen zu prüfen.

Bonkowski Pascha, der ebenfalls auf internationalen Kongressen auftrat, hatte vier Jahre zuvor ein Konzept darüber erstellt, was im Falle einer aus Asien drohenden Pestseuche im Osmanischen Reich für Vorkehrungen getroffen werden sollten. Als nun in den Vierteln der Griechen von Izmir die Pest ausgebrochen war, hatte man ihn sofort dorthin entsandt. Nach einigen Choleraausbrüchen war also der neue Pestbazillus, dessen Gefährlichkeit, also »Virulenz«, wie Fachleute das nannten, mal höher, mal niedriger lag, nunmehr auch ins Osmanische Reich gelangt!

In Izmir, der größten osmanischen Hafenstadt im östlichen Mittelmeer, hatte es Bonkowski Pascha innerhalb von sechs Wochen geschafft, die Pestepidemie zu besiegen. Gelungen war das dadurch, dass die Bevölkerung die Ausgangssperren und anderen Beschränkungen willig hinnahm und sich zusammen mit Polizei und Stadtverwaltung an der Jagd auf Ratten beteiligte. Unter eifriger Beteiligung der Volksfeuerwehr wurden in der ganzen Stadt Desinfektionsmittel versprüht. Nicht nur Izmirer Zeitungen wie Ahenk und Amaltheia oder Istanbuler Gazetten wie Tercüman-ı Hakikat oder İkdam, sondern auch französische und englische Blätter, in denen die Ausbreitung der Pest von Hafen zu Hafen aufmerksam verfolgt wurde, berichteten ausführlich über die Erfolge der osmanischen Quarantäneorganisation. Der polnischstämmige, aber in Istanbul geborene Bonkowski Pascha galt dort als Europäer und stand in hohem Ansehen. Beim Pestausbruch in Izmir waren lediglich siebzehn Menschen gestorben, und inzwischen waren sowohl der Hafen als auch der Zoll, die Läden und Märkte sowie die Schulen wieder geöffnet.

Als die erlesenen Passagiere der Aziziye aus ihren Kabinenfenstern oder von Deck aus beobachteten, wie Bonkowski und sein Assistent an Bord gingen, waren sie über den Erfolg der Quarantänepolitik schon informiert. Der Ehrentitel Pascha war Bonkowski fünf Jahre zuvor von Sultan Abdülhamit verliehen worden. Beim Besteigen des Schiffes trug Stanislaw Bonkowski einen Ölmantel, dessen Farbe im Dunkel nicht auszumachen war, ein Jackett, das seinen langen Hals und seinen leichten Buckel noch mehr zur Geltung brachte, und in der Hand die bleigraue Tasche, die er so beständig bei sich führte, dass sie seinen Studenten seit dreißig Jahren ein Begriff war. Sein Assistent Doktor Ilias wiederum schleppte den Laborkoffer, mithilfe dessen sein Chef jedenorts Cholera- oder Pestbazillen untersuchte, Trinkwasser von verunreinigtem Wasser unterschied und so in den Genuss kam, im gesamten osmanischen Reich das Wasser zu probieren. Ohne ihre Reisegefährten auf der Aziziye zu grüßen, zogen Bonkowski und sein Assistent sich auf ihre Kabinen zurück.

Mit diesem distanzierten Verhalten zogen die beiden neuen Mitreisenden erst recht die Neugier der Delegierten auf sich. Was verbarg sich hinter dieser Heimlichtuerei? Warum sandte Seine Hoheit mit demselben Schiff gleich zwei der bedeutendsten Pest- und Seuchenspezialisten des Osmanischen Reichs nach China? Bald aber erfuhren die Männer, dass Bonkowski Pascha und sein Assistent gar nicht nach China unterwegs waren, sondern auf der Insel Minger von Bord gehen...

Erscheint lt. Verlag 14.2.2022
Übersetzer Gerhard Meier
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Veba Geceleri
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ausbreitung • Brautleute • Camus • Christen • Epidemie • epochenverändernd • Gesellschaft • historisch • Insel • Istanbul • Krise • Literaturnobelpreis • Manzoni • Mittelmeer • Muslime • Nobelpreisträger • Osmanisches Reich • Pest • Quarantäne • Untergang • West
ISBN-10 3-446-27339-5 / 3446273395
ISBN-13 978-3-446-27339-9 / 9783446273399
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