Mädchen auf den Felsen (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
240 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27360-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mädchen auf den Felsen - Jane Gardam
Systemvoraussetzungen
13,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Meisterhaft erzählt die Bestseller-Autorin Jane Gardam von den Geheimnissen und Scheinheiligkeiten, ohne die wir im Leben nicht auskommen. Ein flirrender Sommerroman an der englischen Küste.
Es ist Sommer, und Margaret ist acht und schwer genervt: Der frischgeborene Bruder ist hässlich und schreit, die Mutter hat sich in ein träge stillendes Wesen verwandelt, der Vater predigt gegen die Verderbtheit der Welt.
Einmal in der Woche kann Margaret der Langeweile zu Hause entfliehen: Mittwoch ist Ausflugstag mit Lydia, dem neuen Hausmädchen, die mit ihrer selbstbewussten Körperlichkeit und handfesten Sprache in diese Familie platzt und als einzige Erwachsene wirklich zu wissen scheint, was sie will ? Spaß. Ihre Anwesenheit eröffnet nicht nur Margaret eine neue Welt, sie bringt das bigotte familiäre System aus dem Gleichgewicht, und am Ende dieses Sommers wird nichts mehr so sein, wie es schien.

Jane Gardam wurde 1928 in North Yorkshire geboren und lebt heute in East Kent. Für ihr schriftstellerisches Werk wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Neben der Bestseller­Trilogie um Old Filth erschienen zuletzt Robinsons Tochter (2020) und Mädchen auf den Felsen (2022).

1


Weil jetzt das Baby da war, sollte Margaret, die acht Jahre alt war, besondere Aufmerksamkeit bekommen. Also würde sie mittwochnachmittags mit Lydia, dem Hausmädchen, etwas unternehmen. Worauf auch immer Lydia Lust hatte. Solange Margarets Mutter wusste, wohin sie gingen, natürlich.

Am ersten Mittwoch sagte Lydia, sie habe an einen Ausflug mit der Eisenbahn gedacht. Vielleicht nach Eastkirk — ein schöner Spaziergang auf der Strandpromenade und durch den Wald. Margarets Mutter sagte, Eastkirk koste Geld und der Sand sei hier zu Hause viel schöner, aber Lydia sagte, Margaret würde den Wald sicher mögen.

Also wurden Teekuchen gebuttert und in Papier eingeschlagen, und Lydia und Margaret nahmen den Zug bis Saltbeach, stiegen dort um in den Bummelzug nach Eastkirk und fuhren dann langsam und schwankend in einem staubigen Waggon weiter, in dem man die Rollos unten festknöpfen konnte und ein steifer Lederriemen, der sich bog wie eine Zunge, als Türgriff diente. Die Sitzbezüge waren schwarz mit roten Vögeln drauf, grob und hart. Über den langen, schmalen Sitzbänken hing rechts und links eines fleckigen Spiegels jeweils ein Bild. Eins zeigte Bexhill, das andere Bournemouth. Verschlafene, behagliche Oberschicht-Orte, ausgesprochen fremd. Der Zug hielt auf dem Weg nach Eastkirk einmal an, und durch das offene Fenster hörte man unter der Klippe schwach und in langen Zügen das Meer atmen, denn die Gleise verliefen direkt am Ufer entlang. Auf dem Bahnsteig standen Möwen, oder sie flogen dicht darüber hinweg, auf derselben Höhe wie die Klippen und die hübschen Geranien des Stationsvorstehers.

Margaret liebte Lydia — oder jedenfalls liebte sie Lydias Anblick, verschlafen und sonnig wie im Film, mit einem riesigen blonden Haarschopf. An diesem ersten Mittwoch trug Lydia ein Kleid aus königsblauem Satin mit roten und gelben Blumen, einen dazu passenden Bolero, hohe Absätze und schimmernde Seidenstrümpfe in der Farbe von reifem Getreide. Sie rauchte eine Zigarette und hielt sie zwischen den leuchtend roten Lippen. Als sie sie herausnahm, hatte die Zigarette ein Muster feiner, roter Linien, die am Ende fächerartig zusammenliefen. Lydias Schenkel unter dem Seidenkleid waren kräftig und schwer, sie breiteten sich weich auf dem schwarz-roten Sitzpolster aus.

Die Sonne brannte durch das Waggonfenster. Es war ein bemerkenswerter Sommer, so heiß wie in Bexhill oder den Ländern der Bibel. Lydia zerrte am Rollo, fixierte es erst an dem einen kleinen Haken, dann am anderen, dann zog sie es vollends hinunter und drückte den Knopf in das kleine Messingloch. Aber durch die anderen Fenster fiel die Sonne ihr immer noch in den Schoß.

Am Bahnhof von Eastkirk war es ruhig. Sie stiegen aus und gingen am Fahrkartenverkäufer vorbei, und der Zug stand so still, als würde er sich nie wieder bewegen. Dann stieß er einen langen, erleichterten Seufzer aus und kam langsam wieder in Gang, Schritt für Schritt, Richtung Cullercoats und Whitley Bay.

Margaret war ein stilles Kind, und Lydia war eine stille Frau. Sie nahmen sich bei der Hand und gingen schweigend zur Promenade. Es waren Sommerferien, junge Männer standen in kleinen Grüppchen herum und aßen Eis. Lydia und Margaret setzten sich auf eine grüne Bank hoch über dem Meer. Boote hüpften auf und ab. An der Pier war etwas los.

»Holla!«, sagte einer der Männer. Lydia beachtete ihn nicht, sondern kaufte Eis.

»Was heißt holla?«, fragte Margaret.

Lydia leckte ihr Eis.

»Holla, holla«, sagte Margaret, baumelte auf der Bank mit den Beinen und bewunderte ihre weißen Söckchen und die geknöpften Schuhe. Andere Kinder rannten in Sandalen und Shorts herum, aber Margaret war adrett, mit einer Haarspange kurz über dem Ohr und einem Baumwollkleid, das im Rücken und vorne gesmokt war. »Man sieht es vor allem von hinten«, sagte ihre Mutter immer. »Ein nettes Kind erkennt man von hinten!« Zwischen Margaret und den Kindern mit schmucklosem Rücken klaffte ein Abgrund.

Sie gingen die Promenade hinunter, Lydia walzte munter voran, ein bisschen wie der Zug. Sie wurde immerzu angesehen, und Margaret sah dabei zu, wie sie angesehen wurde. Sie schaute zu der massigen Lydia auf. »Du bist ein richtiger Hingucker«, hatte ihre Mutter leise gesagt, als Lydia für den Ausflug herausgeputzt die Treppe heruntergekommen war — fort war das kaffeefarbene Kleid des Hausmädchens samt Haube und Schürze in cremefarbenem Musselin, die schwarzen Schuhe und Strümpfe. Margaret war sehr stolz, neben der majestätischen und selbstbewussten Lydia herzugehen.

Als sie am Wald ankamen, wurde Lydia ein bisschen lockerer. Der Weg führte steil in den Wald hinab, wo der Fluss ins Meer mündete, und Lydia kam mit ihren Absätzen ins Stolpern. »Herrjeee!«, rief sie. »Ach du meine Güte!« Margaret hüpfte und tänzelte vor ihr her. Der Wald wurde dunkler und dichter, und die Sonne stand hoch am Himmel und sprenkelte die Erde nur noch hier und da unter den Bäumen. Es waren nur wenig Leute unterwegs, bis sie auf einer Terrasse über einem hübschen Konzertpavillon landeten, in dem uniformierte Männer laut und unbekümmert sehr schöne Musik spielten. Um den Konzertpavillon herum saßen Leute auf Liegestühlen, manche hatten sich zum Schutz vor der Sonne Zeitungen über das Gesicht gelegt, aber die meisten, Männer wie Frauen, trugen Hüte. Die Männer Panamahüte, wie Margarets Schulhut, nur ohne das Gummiband unter dem Kinn, die Frauen, wenn sie alt waren, elegante Strohhüte mit breiten Bändern, und wenn sie jung waren krempenlose Kapotthütchen aus Stoff. Lydia wollte sich ebenfalls hinsetzen, aber Margaret sagte, sie würde gern weitergehen, also sagte Lydia, na gut, und sie gingen unter den Bäumen weiter, bis es still wurde und die Musik nicht mehr zu hören war. Lydia stolperte über eine Wurzel und rief wieder: »Herrjeee!«, und lachte.

»Zieh die doch aus«, sagte Margaret.

»Und mach mir die Strümpfe kaputt?«

»Zieh die doch auch aus.«

Lydia ließ sich schwerfällig auf dem Waldboden nieder und zog sich langsam die hochhackigen Schuhe aus, dann streckte sie sich und schob den Rock hoch, um die Strümpfe von den Strapsen zu lösen; drei an jedem Bein, vorne, seitlich und hinten. Sie rollte sich die Strümpfe vom Bein und wackelte mit den Zehen. Die Strümpfe stopfte sie sich vorne in das himmelblaue Kleid. »Nimm du mal meine Schuhe«, sagte sie, »und hilf mir auf.« Margaret zog, und Lydia stand auf. »Aaaach, Gott, mein Korsett. Ich würd mir so gern das Korsett ausziehen.«

»Mach doch«, sagte Margaret. »Man kann den ganzen Weg runtergucken, und da ist niemand zwischen den Bäumen.«

Aber Lydia war unsicher, und sie gingen zusammen ein gutes Stück weiter, bis sie zu einem gewundenen Nebenweg kamen, der zur Flussmündung hinunterführte. Den nahmen sie — es war jetzt sehr dunkel im Wald, wenn man bedachte, wie hell es obendrüber war —, und sie begegneten niemandem. Sie kamen an ein trockenes Flussbett, über das eine rustikale Brücke führte. Auf ihrer Seite war ein Tor an der Brücke und ein weißes Schild: »Privat«. Auf der anderen Seite der Brücke lag eine weitläufige, runde Rasenfläche, und darüber breitete sich die Krone eines großen Baumes aus. Die Wurzeln dieses Baumes waren wie Finger, dazwischen lagen dreieckige, schwarze Höhlen.

»Du könntest dein Korsett ausziehen und es zwischen den Wurzeln verstecken«, sagte Margaret.

»Hör auf«, lachte Lydia. Sie lehnte sich an das Tor und betrachtete das weiche Gras und den würdevollen Baum, durch dessen Blätterdach die Sonne fiel. »Ist das nicht hübsch?«, fragte sie.

»Komm«, sagte Margaret und schob Lydia voran, sodass das Tor aufging, und dann mussten sie wieder kichern und überquerten die Brücke. Während Lydia ihr Korsett auszog, musste Margaret sich hinter den Baum stellen. »Kannst kommen«, rief Lydia nach einer Minute, und Margaret kam zurück und sah Lydia das riesige, schweinchenrosa Ding aus Stäbchen und Lochstickerei und Spitze zusammenrollen.

»Schon besser«, sagte Lydia und verknotete die Bänder, um das Ding zusammenzuhalten. Margaret nahm das Bündel und betastete es, während Lydia sich mit beiden Händen den blauen Seidenrücken kratzte und dann über beide Hüften nach vorne. »Stopf’s unter den Baum.« Wieder lachte sie und warf den Kopf in den Nacken. »Das ist ja...

Erscheint lt. Verlag 11.4.2022
Übersetzer Isabel Bogdan
Sprache deutsch
Original-Titel God on the Rocks
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abenteuer • Bell • Bibel • Emanzipation • England • Familie • Felsen • Fromm • Gardam • Geheimnis • Harry • Kindermädchen • kindlich • Klippen • Korsett • Liebe • Maler • Pier • Prediger • robinsons • Satin • Sommer • Tochter • Verona • weit
ISBN-10 3-446-27360-3 / 3446273603
ISBN-13 978-3-446-27360-3 / 9783446273603
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,7 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99