Werden sie uns mit FlixBus deportieren? (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
224 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27336-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Werden sie uns mit FlixBus deportieren? - Mely Kiyak
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'Je leichtfüßiger, amüsanter und Leckt-mich-am-Arsch-hafter du schreibst, desto mehr drehen die Leute durch. Ich nenne es gefährlich schreiben.'
Mely Kiyak ist die Meisterin der literarischen Weltbetrachtung. Schonungslos und aufrichtig entlarvt sie das Desaströse, Politische und Dramatische in der Gegenwart. Wo sie ist, gibt es keinen Safe Space.
Die 'Frau mit der beängstigenden Intelligenz und ozeanischen Zärtlichkeit' (Milo Rau) hat eines der umfangreichsten Kolumnenwerke der deutschen Literatur geschaffen. Mit grausamem Scharfsinn und prächtigen Pointen munitioniert die 'Seidenstickerin unter den deutschen Kolumnistinnen' (Jury des Kurt-Tucholsky Preis) ihren künstlerischen Widerstand. Immer in wilder Hoffnung auf Glamour, Witz und Menschlichkeit. Erhellend, erheiternd, erschütternd.

Mely Kiyak schreibt: Zuletzt erschienen bei Hanser Frausein (2020) und Werden sie uns mit FlixBus deportieren? (2022). Ihre Kolumnen „Kiyaks Deutschstunde“, „Kiyaks Theater Kolumne“ und „Kiyaks Exil“ erscheinen regelmäßig in Deutschland und in der Schweiz.

Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Kolumnistinnen.

Max Frisch, 1965

Vorhang auf, Vorhang auf!

Sehr geehrtes Publikum, piekfeine Herrschaften, Junkies, Penner, Quartalstrockene, Bordsteinexzellenzen, Abitur-Sörens und Hauptschul-Ingos, Mittleres-Management-Manager, Matrosen, Muftis, Minister, auf dem zweiten Bildungsweg Gescheiterte, aus Versehen zur Welt Gekommene, Wunsch-Lea-Lara-Laura-Larissas und andere In-vitro-Lieblinge, ZDF-Fernsehgarten-Graduierte, von der gesetzlichen Klassenlotterie Abgezockte, Hartz IV-Abonnenten, Kranke, Kiffer, Kränkelnde, Tankwarte, Bademeister, Stand-upper, Start-upper, ermäßigt Umsatzsteuerpflichtige, Wikipedia-Adel, Schreibtischpöbler, Kommentarspaltenplebs, Armleuchter, unaufhörlich um »Quelle, Quelle, Quelle« bettelnde Twitterreferenten, Zurechtrücker, Geradebieger, Facebook-Forschungsstipendium-Fellows, Telegram-Speaker und »Danke für Ihren Hinweis, wir haben den Fehler korrigiert!«-Korrigierende und -Korrigierte, Korrupte, Kaputte, Gekränkte, Osteopathieeingerenkte, vor aller Augen in den Weltmeeren Ertrinkende, Abgeschobene, Vergessene, Verdammte, von der Menschheit Verlassene, Ossis auch, na klar — hallööö, Grieese!, sich mühsam durchs Leben Schleppende, vom Schicksal Leinengebeutelte, von Schicksalswahl zu Schicksalswahl Taumelnde, in alle Extreme Stürzende, Dinkeldeutsche in Vollkornsandalen, auf Zoom, auf dem Land, auf der Kirmes, an allen Gleisen und Gates unserer schönen Heimat von Herne bis Tchibo, von Mönchengladbach bis Manufactum, vom Norden bis Abendbrot um sieben, von Mallorca hat auch schöne Ecken bis Prostatakrebs muss nicht zwingend operiert werden:

Herzlich willkommen, selam, hûn bi xêr hatin, Bützchen rechts, öptüm links, brankos, brankas, ich küsse Ihre Augen, ich hatte solche Sehnsucht nach Ihnen, wollen wir uns nicht duzen?

Quatsch, war nur ein Witz. Nicht duzen, auf keinen Fall duzen. Ich heiße — und ich hoffe, ich buchstabiere das jetzt richtig — Kiyak.

Nicht Kilak, Kelek, Kikak, auch nicht Kijak, Küjak, Kajak, sondern KIYAK. Das ist serboindolekisch und heißt übersetzt: jemandem einen Gefallen tun. Womit wir bei meiner Tätigkeit, meinem Beruf, meinem Hobby, meiner Leidenschaft, meinem Leben oder sagen wir einfach meinem Nebenjob sind, nämlich Kolumnistin. Ein berühmter Neuköllner Sozialarbeiter, der genau wie ich Deutsch als Berufssprache benützt, fragte mich einmal, ob man als »Kommunistin« gut leben könne und was man als »berühmte Zeitungskommunistin« verdiene, und ich habe das nie zurechtgerückt, denn je genauer ich nachdenke, desto weniger erschließt sich mir der Unterschied zwischen einer Kolumnistin und einer Kommunistin.

Ich gehe mit Fragen nach meinem Lebensstil offen um, und ja, in gewisser Weise bin ich genau die Art von Salonkolumnistin, auf die man von der oberen Mittelschicht aus so gerne herabblickt. All die Kanzlei, Praxis, Bauernhof, Immobilien oder Geldsummen vom Vater übernommen habenden Erben, die es in ihrem Leben zu wenig mehr brachten als bestenfalls zu einem Mandat im Landtag und wenigstens einer Scheidung mit geregelter Alimentezahlung, kriegen Nervenzusammenbrüche, wenn sie sehen, dass man einzig aufgrund von Alphabetisierung und dem Wunder der Syntax im gleichen Lokal speist wie sie. Von solchen Leuten wird einem das mondäne und prächtige Leben, das man wahlweise »da oben«, unter »ihresgleichen« oder »in der eigenen Filterblase« vermeintlich führt, am meisten vorgeworfen. Einmal saß ich mit Wolfgang Bosbach in einer Diskussionsrunde vor den Gewerkschaftern der IG Bergbau und Chemie und stritt mich mit ihm. Na ja, streiten ist ein wenig übertrieben, ich las ihm aus seinem eigenen Parteiprogramm vor, worauf er empört das Podium verließ. Daraufhin sprangen ein paar Gewerkschaftskumpel auf und holten ihn zurück. Wir versuchten erneut ein Gespräch. Als wir erfolglos alle Sachargumente miteinander ausgetauscht hatten, wechselte ich von der subjektiv-emotionalen Ebene zur objektiven und sagte ihm geradewegs ins Gesicht: »Sie haben von nichts eine Ahnung.« Und er antwortete, dass ich keine Ahnung habe, weil Leute wie ich den ganzen Tag Prosecco trinken würden und von der Dachterrasse mit Blick auf den Gendarmenmarkt aufs Volk runterschauten. Selbstverständlich korrigierte ich ihn umgehend: »Meine Güte, trinken Sie etwa noch Prosecco? Ich habe schon im Praktikum zu Champagner gewechselt.«

Ich begegnete Bosbach noch ein zweites Mal, allerdings nicht persönlich, sondern indirekt auf meinem Gesicht. Als ich in der Maske der Günter-Jauch-Show saß, bot mir die Maskenbildnerin an, mein Gesicht mit dem Airbrushverfahren zu verschönern. Das ist eine Art winziger Gartenschlauch, aus dem das Make-up feinnebelig herausgesprüht und damit das Gesicht benieselt wird. Ein wenig sieht es so aus, als sei man ein Rübenacker, der gerade mit Pestiziden gespritzt wird. Das sei, wie man mir sagte, absoluter Maskenstandard in Talkshows, also ließ ich mich besprühen. Ich geriet jedoch recht gelbstichig, was die Verschönerungsspezialistin nach einigem Hin und Her und viel Protest meinerseits dann doch einsah, und sie gestand mir, dass in der Düse noch Restfarbe von Bosbach drinsteckte. Der war wohl die Woche zuvor in dieser oder einer anderen Show gewesen. Ich sollte an dem Abend mit dem damaligen Innenminister Hans-Peter Friedrich von der CSU diskutieren. Wie ich da so unglücklich mit meinem goldgelb gebackenen Schnitzelgesicht saß, bot sie mir an, mich mit Friedrichs Düse zu übersprühen, dessen Teint eher ins kräftige Braun tendiert. Daraufhin sah ich zwar wie der Cockerspaniel aus der Saftgulaschwerbung aus, aber es stand mir doch etwas besser als Bosbachs Teint. Will sagen, dass ich schon geyellowfaced und gebrownfaced wurde, als es noch kein Twitter gab, wo ich um Unterstützung und Anteilnahme hätte bitten können. Und ja, Sie lesen richtig, für meinesgleichen wurde die Farbe nie extra angerührt, unsereins muss nehmen, was an Restpigmenten in der Düse steckt.

Jedenfalls, doch. Man kann vom Kommunismus ganz gut leben, und ich finde außerdem, dass man sich meinen Namen ruhig merken kann. In einem Land, wo es jahrzehntelang kein Problem war, Politikernamen wie Wieczorek-Zeul, Dinges-Dierig, Skarpelis-Sperk oder Büchsenschütz-Nothdurft fehlerfrei aufzusagen, wird es wohl möglich sein, sich den Namen Kiyak zu merken, was vom Unkompliziertheitsgrad mit Kafka vergleichbar ist.

Folgendes ist nun wirklich eine Randbemerkung und hundert Jahre her. Ein Radiomoderator beschrieb mich einst als Dieter Hallervorden unter den Kolumnisten. Mit anderen Worten, ich bin tootal witzig.

Macht mir mein Beruf Spaß?, werden Sie mich fragen.

Ich kenne einen Arbeiter, der 30 Jahre lang ohne Atemschutzmaske Kupferdrähte für die Flugzeug- und Raumfahrtindustrie lackierte. Dreißig Jahre lang steuerte, hob und schleppte er gigantisch große Spulen, auf denen sich Hunderte Kilo Kupferdraht gleichmäßig drehten und majestätisch in Farbwannen senkten. Der Draht war entweder dünner als ein Haar auf dem Kopf oder dick wie ein Fahrradschlauch. Beim Beobachten des Drahtes hatte er, nennen wir ihn Herrn K., viel Spaß, so erinnerte er es zumindest. In der ersten Hälfte dieser 30 Jahre, als die Fabrik noch einen Direktor hatte, drehten sich die Spulen langsamer. In der zweiten Hälfte, als der Fabrikdirektor durch Konzernmanager ausgetauscht worden war, drehten sich die Spulen doppelt so schnell. Wie sich die Spulen schneller drehten, hatte Herr K. natürlich doppelt so viel Spaß. Also versuche ich beim Schreiben auch Spaß zu haben. Weil ich dann denke, wenn einer zwölf Stunden lang Freude dabei empfindet, einer rotierenden Spule im Umfang einer Litfaßsäule zuzuschauen, werde ich es wohl auch hinkriegen, beim Schreiben Spaß zu empfinden. Doch es macht keinen Spaß, egal wie ich es drehe und wende.

Schreiben ist schreiben und sonst nichts. Weder macht es Spaß, noch macht es unglücklich. Fragen Sie einen Sushikoch, der in seiner Meisterklasse Sashimi vom Fischfleisch herunterschneidet. Der hat gar keine Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, ob das Schneiden von hauchdünnen Barschfilets Spaß macht. Der hat ganz andere Probleme. Liegt das Messer richtig in der Hand, ist der Barsch bereit für den Akt? Oder wie Rolf Dieter Brinkmann dichtete:

Ein Lied zu singen

mit nichts als der...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Debatte • Deutschstunde • Emanzipation • Familie • Flüchtlingspolitik • Frau • Frausein • Fremdheit • Gegenwartsanalyse • Gesellschaftskritik • Gorki • gorki theater • Herkunft • Identität • Kiyaks • Kolumne • Kolumnistin • Kritik • Kurt-Tucholsky-Preis • Migration • Neue Rechte • #ohnefolie • ohnefolie • Politik • Rechtspopulismus • Rechtsruck • Selbstbestimmt • Tucholsky-Preis • Türkisch • Weiblichkeit
ISBN-10 3-446-27336-0 / 3446273360
ISBN-13 978-3-446-27336-8 / 9783446273368
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