Thronfall (eBook)
384 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01048-2 (ISBN)
Axel Simon wuchs im Ruhrgebiet auf. Er hat an verschiedenen Theatern zeitgenössische Opern inszeniert und arbeitete danach lange als Creative Director in großen Werbeagenturen. Simon lebt heute in Hamburg.
Axel Simon wuchs im Ruhrgebiet auf. Er hat an verschiedenen Theatern zeitgenössische Opern inszeniert und arbeitete danach lange als Creative Director in großen Werbeagenturen. Simon lebt heute in Hamburg.
4
Mittwoch, 8. Mai 89, Ritterstraße, ganz oben, ganz hinten
Ein Betrunkener wird im fortgeschrittenen Rausch hilflos wie ein Kind. Ein Trinker dagegen findet auch in diesem würdelosen Zustand noch den Weg nach Haus und sogar das Schlüsselloch. Es sei denn, das wird ihm geradewegs vor dem einstichbereiten Schlüsselbart fortgerissen, weil von innen jemand abrupt die Tür öffnet.
Der in tiefer Nacht heimkehrende Landow, es wird schon dreie durch sein, den Oberkörper tief zum Schloss hinabgebeugt, stutzt noch, da ist die Gestalt, die ihm von drinnen entgegenrennt, schon an ihm vorbei und die Stiege hinabgestürmt. Landow ist, seinem Zustand angepasst, verzögert fassungslos. Ein Einbrecher! Bei ihnen! Die Tür weist äußerlich keine Anwendung roher Gewalt auf, keine Kratzer von Stemmeisen oder Kuhfuß, das zumindest stellt der Sonderermittler selbst in dicht benebeltem Zustand noch fest. Also muss das ein Profi gewesen sein, der mit Dietrich und Draht hantiert. Gut, dass es bei ihnen nichts zu holen gibt, denkt sich Landow und verschließt sorgsam von innen die Tür. Dann schaut er sicherheitshalber doch in der Kaffeedose mit dem Palminsel-Motiv nach, die in der Abstellkammer neben den getrockneten Hülsenfrüchten steht und ihr gemeinsames Wirtschaftsgeld verwahrt. Kein originelles Versteck, das weiß er. Jeder Einbrecher kennt das. Aber hier fehlt nichts. Entweder er hat den Dieb beim Stöbern gestört, oder der hat etwas anderes gesucht. Schwankend streift er die Schuhe ab. Dann macht er doch noch Licht und inspiziert die zweieinhalb engen Zimmer, die nachts ihre Wohnung, tagsüber ihre Detektei Orlando sind. Orsini, sein Kompagnon und das «Or» von Orlando, ist nicht da, schläft wieder fremd, Landow ahnt schon, neben wem. Im Zwielicht sieht diese Ansammlung gebrauchter Möbel und klotziger Karteischränke, die bloß Leibwäsche enthalten, und der Schreibtische, die mit wenigen Handgriffen zu Betten umfunktioniert werden können, noch trostloser aus. Bei seinem Inspektionsgang denkt er noch einmal rasch Einbrecher! Bei ihnen!, dann entdeckt er auf dem Kaminsims eine Lücke. Da fehlt was. Aber das hat er selbst vergangene Woche dort weggenommen und fortgebracht. Dort stand die Urne mit der Asche seines missratenen Bruders, der im letzten Sommer in seinen Armen starb.
Drei Minuten später hat Landow seine abgestreiften Kleider in der Wohnung verteilt und löscht das Licht. Man kann sich, sinniert er, schon auf einem breiten Strom zügig Richtung Schlaf treibend, in dieser Stadt wirklich nirgends mehr sicher sein. Selbst bei ihnen nicht, unterm Dach.
Dumpf wie die Kesselpauken einer Truppenparade, unerbittlich wie ein entzündeter Zahn. Orsini, eben erst nach Haus gekommen, fährt aus dem schwarzen Schlaf hoch. Draußen dämmert gerade der Tag. Was soll dieser Lärm? Der kommt, das zumindest ist feststellbar, von ihrer Wohnungstür und besteht im Wesentlichen aus dem Schlagen von Fäusten. Orsini wickelt sich eilig aus seinen Decken und steht auf, da wird das Hämmern an die Tür abrupt beendet. Holz splittert. Die Tür fliegt auf. Schritte donnern herein. Sie sind zu viert. Der Erste hält Orsini ein Schreiben hin:
Hausdurchsuchung aufgrund Verstoßes gegen das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 21. Oktober 1878.
Dann folgt viel Kleingedrucktes, in dem mehrfach das Zeichen «§» vorkommt, danach eine unleserliche Unterschrift und drei Dienststempel. Vier Leute sind für eine Durchsuchung ihrer Räume großzügig bemessen, denkt er und lauscht in den nächsten Minuten der raschen, an- und abschwellenden Geräuschentwicklung im Badezimmer, in der Küche, in Landows Zimmer und direkt hier vor seiner Nase. Orsini, gerädert von der Nacht mit der unermüdlichen Lisbeth Brecht, legt den Amtswisch zur Seite und geht so, wie er schlief, nämlich nackt, näher an den Mann heran, der gerade das Karteifach mit seinen Strümpfen durchsucht.
«Vielleicht möchten Sie diesen Tag mit einer Leibesvisitation beginnen, Herr Chefinspektor? Und falls Ihnen dabei auffallen sollte, dass ich, fürs Protokoll, nur über einen Arm, den linken nämlich, verfüge, bitte ich, das nicht politisch zu interpretieren und gegen mich zu verwenden.»
Der Mann, in schlechtes Zivil gekleidet wie die meisten Polizisten der unteren Ränge, unterbricht seine Suche tatsächlich für einen Moment. Er schaut zuerst auf Orsinis Armstumpf und danach auf die übrige Nacktheit, dann sucht er, was auch immer, wortlos weiter. Bismarcks sogenanntes Sozialistengesetz sollte bereits vor Jahren abgeschafft werden und ist ohnehin ein Widerspruch in sich. Es gibt zwar sozialistische Abgeordnete im Reichstag, aber deren Basis, eine sozialistische Partei, ist offiziell verboten. Noch. Im nächsten Jahr, zur Reichstagswahl Anfang 90, soll es zu Fall gebracht werden. Noch aber ist es in Kraft, wie man sieht und nicht überhören kann. In ihrer Küche scheppert was. Der Mann in Orsinis Zimmer untersucht jetzt sogar den Rückraum zwischen Schrank und Fußleiste.
«Darf ich mich in meinen Wohnräumen frei bewegen, Herr Generalmajor?»
Als er keine Antwort bekommt, geht Orsini rüber ins Badezimmer, wo der dortige Spürhund gerade die fortschrittliche Wasserspülung ihres Klosetts betätigt.
«Was ist das?», fragt der Mensch ihn prompt.
«Eine Toilette», antwortet Orsini und verkneift sich nicht den Zusatz: «Noch nie gesehen? Müssen Sie im neuen Präsidium noch über die Sickergrube? Ich dachte, die Rote Burg[*] wäre in allen Belangen hochmodern? Um noch einmal zu spülen, nur an der Kurbel drehen, das füllt den Behälter, dann den Hebel ziehen, und schon hat der ganze Scheiß ein Ende.»
Der Toiletteninspekteur, auch er in schlecht sitzendem Anzug und abgetretenen Schuhen unterwegs, scheint kurz zu überlegen, ob er ihn dafür schlagen oder verhaften soll, aber dann blickt er bloß auf Orsinis nicht vorhandene Vorhaut.
«Jude?»
«Ich denke, eher Sozialist. Das zumindest steht auf Ihrem Marschbefehl.»
«Ziehen Sie sich mal lieber was an, mein Herr. Schämen Sie sich gar nicht?»
Orsini kommt nicht dazu, den Kopf zu schütteln, da taucht der Sozialistenjäger aus der Küche, der bisher den meisten Lärm veranstaltet hat, in der Tür auf und fragt ihn: «Wohnen Sie hier allein?»
Nanu? Vorhin, gegen viere oder so, ist Landow doch noch in seinem Zimmer gewesen, erinnert Orsini sich. Man hat ihn (wie immer) gehört und (wie meistens) gerochen. Tatsächlich, das Bett nebenan ist zerwühlt, aber leer. Orsini kratzt sich mit der Hand am Kopf und versucht gerade, das und diesen Aufmarsch hier zu verstehen, da ertönt von nebenan ein Pfiff. Alle vier Polizisten sammeln sich im Flur, jeder von ihnen schüttelt kurz das dienstliche Haupt, dann rücken sie ab. Keine dreißig Sekunden später hört man sie unten im Vorderhaus auf die Ritterstraße hinauspoltern.
Der Barbar in der Küche hat tatsächlich zwei Teller zerschlagen und natürlich keinen Grund gesehen, sich dafür zu entschuldigen.
«Sind Sie Jude?!», bellt ihn von hinten eine Stimme an. Orsini fährt herum. Ach nee, guck an, der Landow!
«Wo waren Sie denn, Mensch?»
«Draußen, auf dem Fenstersims. Ich war nicht sicher, wer hier so dringend reinwill. Habe gerade ein paar Meinungsverschiedenheiten mit dem Betreiber eines Wettbüros. Ich sage nur: Pole. Übrigens: Gestern, als ich – vor Ihnen – nach Haus kam, überraschte ich hier einen Einbrecher. Sie müssen nicht nachsehen, unsere Haushaltskasse ist noch da. Drei Stunden später durchsucht die vierfache Menge Leute unser hochelegantes Domizil wegen sozialistischer Umtriebe, aber den Engels und Bakunin auf Ihrem Bücherbrett haben die nicht beanstandet. Lesen Sie das Zeug überhaupt oder dekoriert es bloß das leere Regal? Wie auch immer: reichlich seltsam, Herr Detektiv, oder?»
Orsini fegt, immer noch nackt, mit dem Kehrblech die Keramikscherben fort. Erst als er die penibel im Ascheimer versenkt hat, guckt er Landow an und sieht dabei irgendwie schuldbewusst aus.
«Das Einzige, was irgendwer bei uns außer unserer angenehmen Gesellschaft gesucht haben könnte, scheint mir demnach das hier zu sein.» Sagt’s, dreht das Kehrblech um und nimmt etwas von dessen Unterseite fort, das dort festgeklebt war. Ein Notizbüchlein, gerade mal handtellergroß. Es enthält Zahlen. Viele Zahlen. Ganze Kolonnen davon.
«Geldschrank-Kombinationen? Tombola-Gewinnnummern? Abgekartete Pferdewetten? Was ist das, Orsini?»
«Keine Ahnung, Landow, ehrlich. Das Ding war bloß Beifang. Gestern gegen Mittag, ich extrahierte gerade oben beim Französischen Dom erfolgreich ein paar lohnende Brieftaschen, fiel es mir in die Finger. Fühlte sich an wie eine kleine Börse, also nahm ich’s mit. Ungewöhnlich war, dass mir danach zwei Männer folgten. Erst hielt ich es für ein Hirngespinst, aber dann merkte ich, dass es keins war. Dass die mich möglicherweise wegen dieses Büchleins verfolgten, darauf bin ich gar nicht gekommen. Ich dachte zuerst an Zivilpolizei. Ich habe dann ein paar ungewöhnliche Abkürzungen genommen, sogar die...
Erscheint lt. Verlag | 22.3.2022 |
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Reihe/Serie | Gabriel Landow | Gabriel Landow |
Zusatzinfo | Mit 1 s/w Karte |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Historische Kriminalromane | |
Schlagworte | Alex Beer • Attentat • August Bebel • Babylon Berlin • Berlin • Bismarck • Deutsches Kaiserreich • Ermittler • Fotografie • Goldammer • Historischer Kriminalroman • Historischer Roman • Historische Spannung • Kaiser Wilhelm • Kodak • Kreuzfahrt • Krimi Neuerscheinungen 2021 • Krimi Neuerscheinungen 2022 • Nasser Fisch • Norwegen • Schiffahrt • Schifffahrt • Sozialismus • Sozialistengesetz • Terror |
ISBN-10 | 3-644-01048-X / 364401048X |
ISBN-13 | 978-3-644-01048-2 / 9783644010482 |
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