Orwells Rosen (eBook)
352 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01415-2 (ISBN)
Rebecca Solnit, Jahrgang 1961, ist eine der bedeutendsten Essayistinnen und Aktivistinnen der USA. Sie ist Mitherausgeberin des Magazins Harper's und schreibt regelmäßig Essays für den Guardian. Für ihre Werke erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter den renommierten Book Critics Circle Award. Ihr Essay «Wenn Männer mir die Welt erklären», auf dem der Begriff «mansplaining» beruht, ging um die Welt. Auf Deutsch erschien von ihr zuletzt «Orwells Rosen». Solnit gehört dem Vorstand der Klimagruppe Oil Change International an und hat kürzlich das Klimaprojekt Not Too Late ins Leben gerufen.
Rebecca Solnit, Jahrgang 1961, ist eine der bedeutendsten Essayistinnen und Aktivistinnen der USA. Sie ist Mitherausgeberin des Magazins Harper's und schreibt regelmäßig Essays für den Guardian. Für ihre Werke erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter den renommierten Book Critics Circle Award. Ihr Essay «Wenn Männer mir die Welt erklären», auf dem der Begriff «mansplaining» beruht, ging um die Welt. Auf Deutsch erschien von ihr zuletzt «Orwells Rosen». Solnit gehört dem Vorstand der Klimagruppe Oil Change International an und hat kürzlich das Klimaprojekt Not Too Late ins Leben gerufen. Michaela Grabinger lebt in München. Zu den von ihr übersetzten Romanen und Sachbüchern zählen Werke von Anne Tyler, Meg Wolitzer, Elif Shafak, Michael Crichton, David Graeber, Alain de Botton und Ece Temelkuran.
1 Tag der Toten
Im Frühling 1936 pflanzte ein Schriftsteller Rosen. Ich hatte das seit mehr als dreißig Jahren gewusst, dachte aber erst an einem Novembertag vor einigen Jahren gründlich darüber nach, als ich mich auf ärztliche Anweisung hin eigentlich zu Hause in San Francisco hätte erholen sollen, stattdessen aber im Zug von London nach Cambridge saß, um mit einem Schriftstellerkollegen über eines meiner Bücher zu sprechen. Es war der 2. November, und dort, wo ich herkomme, feiert man diesen Tag als día de los muertos, den Tag der Toten. Meine Nachbarn zu Hause errichten den Verstorbenen des zurückliegenden Jahres zu diesem Anlass Altäre, die sie mit Kerzen, Speisen, Ringelblumen, Fotos und Briefen der Toten dekorieren, und abends ziehen die Leute durch die Straßen, erweisen den Dahingeschiedenen vor den im Freien stehenden Altären ihren Respekt und essen pan de muerto, das Brot der Toten. Einige haben sich nach der mexikanischen Tradition, die den Tod im Leben und das Leben im Tod sieht, ihr Gesicht wie blumengeschmückte Totenköpfe geschminkt. In vielen katholischen Ländern geht man an diesem Tag auf den Friedhof, richtet die Gräber her und schmückt sie mit Blumen. Wie früher zu Halloween werden auch hier die Grenzen zwischen Leben und Tod durchlässig.
Ich aber saß in einem Frühzug, der soeben King’s Cross in nördlicher Richtung verlassen hatte, und beobachtete durchs Fenster, wie sich Londons dichte Bebauung in immer niedrigere und weiter voneinander entfernt stehende Häuser auflöste. Dann fuhr der Zug über Ackerland mit grasenden Schafen und Kühen, Weizenfeldern und kleinen Gruppen kahler Bäume, eine wunderschöne Szenerie selbst unter dem winterlich grauen Himmel. Ich hatte einen Auftrag, vielleicht sogar eine Mission. Ich hielt für Sam Green, Dokumentarfilmer und einer meiner besten Freunde, Ausschau nach Bäumen – nach einem Cox-Orange-Pippin-Apfelbaum beispielsweise und anderen Obstbäumen. Sam und ich tauschten uns schon seit Jahren in vielen Gesprächen und noch mehr E-Mails über Bäume aus. Wir liebten sie beide, vielleicht würde er darüber irgendwann einen Dokumentarfilm drehen, oder wir würden zusammen ein Kunstprojekt daraus machen.
Bäume hatten Sam in dem schwierigen Jahr nach dem Tod seines jüngeren Bruders 2009 Trost gespendet, und ich denke, wir liebten beide ihre Ausstrahlung unerschütterlicher Beständigkeit. Ich war in einer sanften kalifornischen Hügellandschaft mit verschiedenen Eichenarten, Lorbeerbäumen und Rosskastanien aufgewachsen. Viele einzelne Bäume, die mir in meiner Kindheit vertraut waren, erkenne ich immer noch wieder, so wenig haben sie sich verändert und ich mich dagegen so sehr. Am anderen Ende des Countys liegt Muir Woods, der berühmte Wald aus uralten Küstenmammutbäumen, die unangetastet blieben, als die Wälder rundherum abgeholzt wurden, siebzig, achtzig Meter hohe Bäume, auf deren Nadeln sich an nebligen Tagen die Luftfeuchtigkeit niederschlägt und von dort als Sommerregen zu Boden tropft, der nur unter dem Dach der Baumkronen fällt, nicht im Freien.
In meiner Jugend waren Scheiben aus den Stämmen von Mammutbäumen mit einem Durchmesser von oft mehr als dreieinhalb Metern beliebte Ausstellungsstücke in Museen und Parks. Die Jahresringe dienten als Zeittafeln, auf denen Kolumbus’ Ankunft in Amerika oder die Besiegelung der Magna Carta, manchmal auch Jesus’ Geburt und Tod markiert waren. Der älteste Küstenmammutbaum in Muir Woods ist 1200 Jahre alt, sodass er schon die Hälfte seiner Jahre gelebt hatte, als die ersten Europäer*innen in der Gegend auftauchten, die sie dann Kalifornien nannten. Ein Baum, den man morgen pflanzen und der genauso lang leben würde, stünde noch im 23. Jahrhundert n. Chr. und wäre doch jung im Vergleich mit den Grannen-Kiefern ein paar hundert Kilometer weiter östlich, die fünftausend Jahre alt werden können. Bäume laden dazu ein, über die Zeit nachzudenken und in ihr zu reisen wie sie, indem man stillsteht und zur Seite und nach unten ausgreift.
Das Gegenteil von Krieg, falls es so etwas gibt, sind wohl Gärten. In Wäldern, auf Wiesen, in Parks und Gärten finden viele Menschen einen besonderen Frieden. Der Surrealist Man Ray floh 1940 vor den Nazis aus Europa und verbrachte die folgenden zehn Jahre in Kalifornien. Im Zweiten Weltkrieg besichtigte er die Sequoia-Wälder der Sierra Nevada und schrieb über diese Bäume, die dickere Stämme als die Küstenmammutbäume haben, aber nicht ganz so hoch sind: «Ihr Schweigen ist beredter als die tosenden Sturzbäche und die Niagarafälle, als der Wiederhall des Donners im Grand Canyon und als das Explodieren von Bomben – und es enthält keinerlei Drohung. Die tuschelnden Blätter der Mammutbäume, hundert Meter über unseren Köpfen, sind zu weit entfernt, als dass man sie hören könnte. Mir fiel ein, wie ich in den ersten Monaten nach Ausbruch des Krieges bei einem Spaziergang durch den Jardin du Luxembourg unter einer alten Kastanie stehen geblieben war, die wahrscheinlich schon die Französische Revolution miterlebt hatte – wie ein Zwerg kam ich mir vor und wünschte, ich könnte mich in einen Baum verwandeln, bis wieder Frieden wäre.»
Als Sam im Sommer vor meiner Englandreise in San Francisco war, sahen wir uns die Bäume an, die Mary Ellen Pleasant gepflanzt hatte, eine schwarze Frau, die um 1812 als Sklavin geboren wurde, Heldin der Underground Railroad und Bürgerrechtsaktivistin war, aber auch zur Geldelite San Franciscos gehörte. Als wir unter ihren Eukalyptusbäumen standen, die mir wie Zeugen einer ansonsten unerreichbaren Vergangenheit erschienen, lag Pleasants Tod mehr als ein Jahrhundert zurück. Die Bäume hatten das herrschaftliche Holzhaus überdauert, das Schauplatz mancher Dramen im Leben dieser Frau gewesen war. Ihre Stämme waren so dick, dass sie den Gehweg wegdrückten, und sie überragten die meisten Gebäude in der Umgebung. Die abgelöste graubraune Rinde hing in Spiralen herab, die sichelförmigen Blätter lagen auf dem Gehweg verstreut, und in den Kronen murmelte der Wind. Der Anblick dieser Bäume rückte die Vergangenheit wie nichts sonst in greifbare Nähe: Etwas Lebendes, gepflanzt und gehegt von einem Lebewesen, das längst tot war; die Bäume aus Pleasants Lebzeiten waren noch zu unseren lebendig und würden es wohl auch nach unserem Tod sein. Sie veränderten die Gestalt der Zeit.
Das etruskische saeculum bezeichnet die Lebensdauer des jeweils ältesten lebenden Menschen, also um die hundert Jahre. Im weiteren Sinne steht es für die Zeitspanne, die noch lebenden Menschen in Erinnerung ist. Jedes Ereignis hat sein Säkulum. Es endet mit dem Tod beispielsweise des letzten Menschen, der im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte, oder des letzten, der noch eine Wandertaube gesehen hat. Das Säkulum der Bäume ist anders – eine längere Zeitskala, eine tiefere Kontinuität, die Schutz vor unserer Vergänglichkeit bietet, so wie ein Baum im wörtlichen Sinn Schutz unter seinen Ästen gewährt.
In Moskau gibt es Bäume, die im Zarenreich gepflanzt wurden, wuchsen, im Herbst ihr Laub abwarfen, den Wintern trotzten, die im Frühling während der Russischen Revolution blühten, die Schatten spendeten in den Sommern des Stalinismus, der Säuberungen, der Schauprozesse, der Hungersnöte, des Kalten Kriegs, der Glasnost und des Zerfalls der Sowjetunion, die in den Herbstmonaten während des Aufstiegs von Stalinbewunderer Wladimir Putin ihre Blätter verloren und Putin, Sam, mich und alle, die an jenem Novembermorgen mit mir im Zug saßen, überleben werden. Die Bäume erinnerten sowohl an unsere Vergänglichkeit als auch an ihre Beständigkeit, die die unsere so weit übertraf, und standen aufrecht wie Wächter und Zeugen da.
Als wir damals im Sommer bei mir zu Hause saßen und über Bäume sprachen, erwähnte ich einen von George Orwell verfassten Essay, den ich schon seit Langem besonders schätzte. Der mit leichter Hand verfasste, poetisch anmutende kurze Text war im Frühjahr 1946 in Orwells Kolumne «As I Please» in der Tribune erschienen, einer sozialistischen Wochenzeitschrift, für die er von 1943 bis 1947 ungefähr achtzig Beiträge schrieb. Der Essay vom 26. April 1946 mit dem Titel «A Good Word for the Vicar of Bray», Ein gutes Wort für den Pfarrer von Bray, ist ein Triumph der Abschweifung. Am Anfang steht die Beschreibung einer Eibe in einem Kirchhof in Berkshire. Angeblich hatte den Baum ein Pfarrer gepflanzt, der wegen seiner Sprunghaftigkeit in politischen Dingen Berühmtheit erlangt und in den Religionskriegen wiederholt die Seiten gewechselt hatte. Diese Sprunghaftigkeit sicherte dem Mann sein Überleben und ermöglichte es ihm, ganz wie ein Baum zu bleiben, wo er war, während viele andere fielen oder flohen.
Orwell schreibt über den Pfarrer: «Doch nach der langen Zeit sind von ihm nur ein satirisches Lied und ein wunderschöner Baum geblieben, der den Blick vieler Generationen zur Ruhe brachte und alle schlimmen Auswirkungen der politischen Prinzipienlosigkeit dieses Menschen sicherlich wettmacht.» Von da aus springt Orwell zum letzten König von Burma und erwähnt dessen angebliche Vergehen, um gleich darauf über die Bäume zu sprechen, die der König in Mandalay pflanzte – «Tamarinden, die einen angenehmen Schatten warfen, bis sie 1942 von den Brandbomben der Japaner zerstört wurden». Orwell war Polizeibeamter in Diensten des Britischen Empire gewesen und muss sowohl diese Bäume in den 1920er Jahren als auch die von ihm beschriebene riesige Eibe im Kirchhof von Bray, einem Dorf westlich...
Erscheint lt. Verlag | 14.6.2022 |
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Übersetzer | Michaela Grabinger |
Zusatzinfo | Mit 8 s/w Abb. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Aktivismus • amerikanische Autorin • Essayband • Faschismus • Garten • Gegenwartliteratur • Gegenwartsanalyse • Gegenwartsdiagnose • Gegenwartsliteratur • George Orwell • Gesellschaftskritische Bücher • Kamala Harris • Kapitalismuskritik • Klimawandel • literarische Analyse • Nature writing • Postkolonialismus • Sklaverei • Stalin • Totalitarismus |
ISBN-10 | 3-644-01415-9 / 3644014159 |
ISBN-13 | 978-3-644-01415-2 / 9783644014152 |
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