Die Birken der Freiheit (eBook)

Roman

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
553 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2930-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Birken der Freiheit - Christine Kabus
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Die Birken des Nordens.

Oldenburg, 1914: Luise reist nach Estland, wo die adelige Wilhelmine einen jungen deutschbaltischen Baron heiraten soll. Nicht wissend, dass es sich um den Zukünftigen ihrer Herrin handelt, trifft Luise auf Julius und verliebt sich in ihn. Die beiden Frauen fassen einen verwegenen Plan, aber ihr Glück steht auf Messers Schneide, denn schon bald bricht der Erste Weltkrieg aus ...

Estland, 1989: Bislang hat sich Merike stets ihrem tyrannischen Großvater gefügt, doch jetzt schließt sie sich gegen seinen Willen nicht nur der Unabhängigkeitsbewegung an, sondern kommt auch hinter streng gehütete Geheimnisse der Familie - und entdeckt ihre deutschen Wurzeln. 

Vor der wildromantischen Kulisse Estlands beschreiten drei Frauen neue Wege auf der Suche nach Freiheit und Liebe.



Christine Kabus, 1964 in Würzburg geboren und in Freiburg aufgewachsen, arbeitete nach ihrem Studium der Germanistik und Geschichte zunächst einige Jahre als Dramaturgin und Lektorin bei verschiedenen Film- und Theaterproduktionen, bevor sie sich 2003 als Drehbuchautorin selbstständig machte. 2013 wurde ihr erster Roman veröffentlicht. Im Aufbau Taschenbuch ist bereits ihr Roman »Die Zeit der Birken« erschienen.

Lahemaa / Estland, Sommer 1989

Kapitel 2


Merike stand vor dem Mast und entfaltete die rote Fahne, in deren Mitte das Profil Lenins auf einem gelb umrandeten fünfzackigen Stern prangte, hinter dem eine Flamme emporloderte. Darunter stand in kyrillischen Buchstaben das Motto der Lenin-Pioniere: Всегда готов! – Immer bereit! Nachdem sie das Tuch befestigt hatte, drehte sie sich zu den zweiundzwanzig Viert- bis Sechstklässlern um, die in drei Reihen auf dem Rasenplatz zwischen den einstöckigen, weiß getünchten Holzbaracken zum Appell angetreten waren. Es war zehn vor acht. Die Sonne war seit ihrem Aufgang kurz nach vier Uhr schon ein gutes Stück den Himmel hinaufgewandert und ließ die Tauperlen an den Gräsern glitzern. Zwanzig Minuten zuvor war Merike durch den Schlafsaal der ihr anvertrauten Mädchen gegangen, hatte diese geweckt und zum Waschen geschickt. Marten, der andere Gruppenleiter, hatte das Gleiche bei den Jungen getan und war anschließend zu einer Kolchose bei Kunda gefahren, um die bestellten Kartoffeln, Gemüse, Eier und andere Lebensmittel zu holen, die nicht wie geplant am Vorabend geliefert worden waren. Marten hoffte, wieder zum Frühstück zurück zu sein, das es in einer guten Stunde geben würde – nach Fahnenappell, Bettenmachen und Zimmeraufräumen.

Merike nickte Enna zu. Die Neunjährige war die Kleinste der Gruppe und hatte in der Nacht vor Heimweh lange nicht einschlafen können. Merike hatte sie getröstet und schließlich ihre Tränen mit dem Versprechen, sie dürfe gleich beim ersten Morgenappell die Fahne hissen, zum Versiegen gebracht.

Enna trat vor. Wie ihre Mitschüler trug sie ein rotes Dreieckstuch um den Hals, das mit einem speziellen Knoten gebunden war. Die drei Ecken symbolisierten die enge Verbundenheit zwischen Schule, Elternhaus und Pionierorganisation, der Knoten stand für die feste Einheit dieser Eckpunkte im Leben eines sowjetischen Kindes. Zwei Jungen schlugen auf kleine Trommeln, die sie vor ihre Bäuche geschnallt hatten, während das Mädchen an den Schnüren zog. Enna hatte die Zungenspitze in den Mundwinkel geklemmt und schaute konzentriert auf die Fahne, die Stück für Stück in die Höhe kletterte. Merike folgte ihrem Blick und fühlte sich an jenen Tag zurückversetzt, an dem sie selbst zum ersten Mal die Flagge der Pioniere hatte hochziehen dürfen.

Lange hatte sie auf diesen Moment gewartet und schon fast die Hoffnung aufgeben, jemals das feierliche Ritual ausführen zu dürfen. Mit zunehmender Verzweiflung hatte sie sich gefragt, warum sie als Einzige in ihrer Klasse dieser Ehre nicht für wert befunden wurde. An ihren Noten konnte es nicht liegen, sie gehörte zu den drei Jahrgangsbesten. Auch ihr Engagement bei Arbeitseinsätzen, zu denen die Pioniere gelegentlich gerufen wurden, war immer vorbildlich gewesen. Nie hatte sie sich als Erntehelferin, Müllaufsammlerin oder bei anderen Tätigkeiten gedrückt, mit denen die Kinder und Jugendlichen ihren Beitrag für die Gemeinschaft leisten sollten. Als dann endlich der ersehnte Tag gekommen war – eine Feierstunde an Lenins Todestag –, war die damals dreizehnjährige Merike vor Nervosität fast ohnmächtig geworden. Mit zitternden Händen hatte sie die Flagge im Hof der Schule von Otepää nach oben gezogen und voller Stolz beobachtet, wie der Wind sie entfaltete und hin und her wehte.

Dem Hochgefühl war kaltes Entsetzen gefolgt. In ihrer Aufregung hatte Merike vergessen, die Schnüre um den Befestigungshaken zu wickeln. Sie ließ sie los – und einen Atemzug später sauste das rote Tuch wieder nach unten. Nie zuvor hatte sich Merike so geschämt wie an jenem Morgen, an dem sie sich am liebsten in Luft aufgelöst hätte. Zu ihrer Überraschung war keine Strafpredigt gefolgt. Die Lehrerin hatte die Schüler, die hämisch kicherten, mit einem strengen Blick zurechtgewiesen und Merikes beste Freundin Talvi aufgefordert, beim erneuten Hissen zu helfen.

Der Trommelwirbel brach ab. Merike straffte sich.

»Võitluseks Nõukogude kodumaa eest – ole valmis! Zum Kampf für die Sache der Kommunistischen Partei der Sowjetunion – seid bereit!«, rief sie.

»Alati valmis! – Immer bereit!«, schallte ihr die Antwort der Kinder entgegen, die den rechten Arm zum Gruß vor den Kopf gehoben hatten: Die flache Hand mit dem Daumen zur Stirn und dem kleinen Finger gen Himmel weisend.

Anschließend stimmte die Gruppe ein beliebtes Pionierlied auf Russisch an, in dem es um das Bild eines kleinen Jungen ging, auf das er seine Mutter und die Sonne gemalt hatte. In den Strophen wurde daran appelliert, den Kindern zuliebe diese heile Welt zu bewahren und den Frieden zu sichern.

Merikes ließ ihre Augen über die Umgebung schweifen. Das Ferienlager Lainela befand sich am Finnischen Meerbusen auf der Halbinsel Käsmu einige Hundert Meter nördlich vom Kern des gleichnamigen Dorfes. Hinter ein paar Bäumen lag der Strand. Das Plätschern der Wellen auf dem kiesigen Ufer wurde fast zur Gänze vom Rauschen des Windes in den Blättern überlagert. Die herbe Salznote, in die sich der würzige Geruch von Tang mischte, war jedoch auch hier deutlich wahrzunehmen. Merike holte tief Luft und schmeckte dem fremden Duft nach. Sie hob den Kopf und strich sich eine dunkelblonde Haarsträhne hinters Ohr, die ihr die frische Brise ins Gesicht geweht hatte. Der Himmel wölbte sich blassblau über ihr, ein Wolkenband zog langsam am westlichen Horizont vorüber, und über dem Wasser kreisten einige Möwen, die ab und zu ihre schrillen Schreie ausstießen. Wie wunderbar, dachte Merike. Ich bin endlich, endlich am Meer!

Nach ihrer Ankunft am Vorabend war keine Gelegenheit mehr für einen Spaziergang zum Ufer gewesen. Später als geplant waren sie von Otepää losgekommen, hatten unterwegs eine Reifenpanne gehabt und waren schließlich vom russischen Wachposten am Eingang zur gesperrten Zone, in der sich das Küstengebiet befand, auf das Gründlichste überprüft worden. Merike hätte es nie für möglich gehalten, dass die Kontrolle von Pässen und Zugangsberechtigungsscheinen sowie das Inspizieren des Gepäcks so viel Zeit in Anspruch nehmen konnten. Erst kurz nach Sonnenuntergang um Viertel nach zehn waren sie endlich im Pionierlager eingetroffen und nach einem raschen Imbiss erschöpft in ihre Betten gefallen. Merike, die bis zum Schrillen ihres Weckers tief geschlafen hatte, fühlte sich gut erholt und voller Tatendrang. Sie konnte es kaum erwarten, die Ostsee von Nahem zu sehen, in ihre Fluten zu tauchen und am Strand spazieren zu gehen.

In ihrer Kindheit war Merike im Sommer fast ausschließlich in Ferienlager in der Nähe ihrer Vaterstadt Otepää geschickt worden. Am besten hatte es ihr immer im Schloss von Sangaste gefallen, einem ehemaligen Herrenhaus deutschbaltischer Adliger, in dem ein Jugendlager untergebracht war. Der einstige Besitzer hatte es Ende des 19. Jahrhunderts als detailgetreues Abbild des englischen Windsor Castle errichten lassen, was die Phantasie der kleinen Merike immer aufs Neue beflügelt hatte. Mit zunehmendem Alter aber wuchs ihre Sehnsucht, über den Tellerrand von Valgamaa, dem südlichen Randgebiet Estlands, hinauszuschauen und andere Gegenden, Länder und Kulturen kennenzulernen. Sie beneidete ihre Freundin Talvi, die mit ihren Eltern mehrmals im Seebad Pärnu an der Westküste Urlaub gemacht, Städtetrips nach Riga, Vilnius und Leningrad unternommen und im vergangenen Jahr sogar zwei Wochen am Schwarzen Meer verbracht hatte.

Bei ihrer Familie, die nie weite Reisen unternahm und im Sommer lediglich Ausflüge an den Peipussee machte oder in den Wäldern der Umgebung wandern ging, war Merike mit ihrem Wunsch auf taube Ohren oder vage Vertröstungen gestoßen. Einmal, als sie mit sechzehn Jahren aufbegehrt und sich beschwert hatte, sie sei des Ewiggleichen überdrüssig und würde gern wie ihre Klassenkameraden Urlaub am Meer machen oder in andere Sowjetrepubliken fahren, hatte ihr Großvater sie derart abgekanzelt, dass Merike das Thema fortan tunlichst gemieden hatte. Als undankbares Gör hatte er sie beschimpft, das sich glücklich schätzen sollte, in einer der schönsten Landschaften Estlands zu leben. »Zu meiner Zeit waren wir schon froh, wenn wir einen halben Tag freinehmen und an den See zum Baden fahren konnten«, hatte er geschrien und sich über die Anspruchshaltung der heutigen Jugend im Allgemeinen und die...

Erscheint lt. Verlag 14.2.2022
Reihe/Serie Die große Estland-Saga
Die große Estland-Saga
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1. Weltkrieg • Christine Kabus • Deutschbaltikum • Eiserner Vorhang • Emanzipation • Erster Weltkrieg • Estland • Familiengeheimnis • Familien-Saga • Oldenburg • Sowjetunion • Unabhängigkeitskrieg • Verbotene Liebe
ISBN-10 3-8412-2930-1 / 3841229301
ISBN-13 978-3-8412-2930-4 / 9783841229304
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