Großstadtbäuerin (eBook)

Mein Vater, sein Land und ich
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
208 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01127-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Großstadtbäuerin -  Maria Rossbauer
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Stadt, Land, Neuanfang? Der Anruf kommt aus dem Nichts. Marias Vater, Landwirt in Niederbayern, möchte den Hof an seine Kinder übergeben. Und Maria soll die Landwirtschaft übernehmen, dabei hat sie davon so viel Ahnung wie ihr Vater vom Leben in einer Großstadt: keine. Maria lebt als Journalistin in Hamburg, und Tiere sehen sich ihre Kinder bei Hagenbeck an. Doch der Hof ist die große Liebe ihres Vaters. Ist das die letzte Chance, ihn zu verstehen? Maria wird klar: Sie muss ihr Erbe antreten. Plötzlich sieht sie sich nicht nur mit bockigen Landmaschinen konfrontiert, sondern auch mit Steuerberatern. Sie lernt, auf Wind, Regen und Sonne zu achten, und wie viel Spaß es macht, einen Traktor zu fahren. Doch wird sie diese Herausforderung stemmen können? 

Maria Rossbauer, geboren 1981, hat eine Ausbildung zur Hotelfachfrau gemacht, Neurobiologie studiert und anschließend die Deutsche Journalistenschule in München absolviert. Heute ist sie Redakteurin bei der ZEIT - und Landwirtin.

Maria Rossbauer, geboren 1981, hat eine Ausbildung zur Hotelfachfrau gemacht, Neurobiologie studiert und anschließend die Deutsche Journalistenschule in München absolviert. Heute ist sie Redakteurin bei der ZEIT - und Landwirtin.

Der Anruf


«Wie lang machst du heut?», schallte es aus der Küche, und hinter mir rumste es. Moritz stand auf der Fensterbank. «Müllabfuhr, Müllabfuhr!», quietschte er voller Glück und trommelte gegen die Scheibe. Ich schmiss den Schuh weg, in den ich Lise gerade quetschen wollte, sprang vom Boden auf und rannte zum Fenster.

«Runter da, aber flott!», schimpfte ich und hob Moritz auf den Fußboden.

«Was meinst, was passiert, wenn du da runterfällst?»

Einen Moment überlegte ich, ob ich ihm erklären sollte, dass der Fenstergriff locker ist und ich nicht wollte, dass er die Kindersicherung knackt und dann aus dem Fenster auf die Straße fällt, weil so ein Sturz aus dem zweiten Stock sich ungünstig auf sein weiteres Leben auswirken würde. Aber da schaute er mich traurig an, und ich beschloss, ihm nicht schon in der Früh Angst zu machen.

«Da tust du dir gscheid weh», sagte ich also bloß.

«Ich mein, ich kann die Kinder schon holen», hörte ich da meinen Mann wieder durch die Wohnung rufen.

«Was?»

«Wie du heute arbeitest, wollt ich wissen.»

Hannes kam mit einer Brotbox und zwei Trinkflaschen aus der Küche und stopfte alles in verschiedene Kinderrucksäcke, die aufgereiht an den Griffen der blauen Kommode im Flur hingen.

«Staubsauger?» Josef donnerte mit der flachen Hand gegen den Metallschrank. Aaah, laut! Ich verzog das Gesicht, wandte mich schnell wieder von meinem Mann ab, balancierte zwischen dem betrübt dreinschauenden Moritz, zwei Kinderbetten, einem Bagger und einem Puppenbuggy hindurch zum Putzschrank, drehte Josef um und schob ihn durch den Gang bis vor die Wohnungstür, wo seine Schwester immer noch saß.

«Jetzt nix Staubsauger», sagte ich, «jetzt ab in die Kita!»

Ich ließ mich wieder auf den Boden vor der Wohnungstür fallen und suchte Lises Schuhe.

«Ja, das wär super, ich hab um halb drei noch ein Interview», sagte ich zu Hannes und gleich danach: «Moritz, los jetzt, komm du auch zum Anziehen. Abflug!»

Moritz bewegte sich natürlich keinen Millimeter, ich stand also wieder auf, trug ihn in den Flur, und dann saßen wir endlich alle fünf vor der Tür. Die Erwachsenen auf Knien zogen Schuhe über Füße und Mützen über Köpfe, die Kinder hauten eines nach dem anderen wieder ab, trampelten mit den Winterstiefeln über den Dielenboden ins Schlafzimmer, versteckten sich im Wäschekorb, wurden wieder eingefangen, mit Handschuhen und Jacken bestückt und schließlich ins Treppenhaus geschoben.

Ich haute auf den Lichtschalter, es wurde beige-gelb-hell. Moritz hielt sich am Geländer fest und hüpfte wie ein Frosch im Trainingslager Stufe für Stufe herab, Lise rumpelte an mir vorbei das Treppenhaus hinunter – «Leise, hier schlafen noch Leute!» –, Josef auf meinem Arm versuchte mir grinsend seinen Schnuller in den Mund zu stopfen.

Da klingelte mein Handy.

«Das ist vielleicht die Arbeit», sagte ich erklärend in die Runde und setzte Josef auf eine Stufe. Ich zog das Handy aus meiner Jackentasche.

Auf dem Display sah ich die Nummer, die sich nicht verändert hatte, seit ich ein kleines Kind war.

«Ah nein, es ist die Oma», rief ich und drückte den grünen Knopf.

«Haaaaallo, Oooooma!», schrie Moritz ins Telefon.

«Mama», versuchte ich ihn zu übertönen, «wir gehn grad aus dem Haus, ich ruf gleich zurück, ja?»

«Hier ist der Opa.»

«Ah, Papa, hallo!»

Für eine Sekunde rührte ich mich nicht. Mein Papa rief selten einfach so an und schon gar nicht morgens um Viertel nach acht.

«Alles okay?», fragte ich.

«Ich wollt mal was mit dir besprechen.»

«Ah», sagte ich. «Wir verschiffen grad die Kinder in die Kitas, ich ruf dich gleich zurück, ja?»

«Ist gut», sagte er. «Pfiat di.»

Dann legte er wieder auf.

«Mein Papa will was besprechen», sagte ich zu Hannes, der jetzt ein paar Stufen über mir die Wohnungstür absperrte.

«Aha», sagte er, und es klang wie: «Besprich, was du willst, aber jetzt schiebst du mal die Kinder weiter durchs Treppenhaus, ich hab ’nen Termin.»

Ich schob also die Kinder weiter durchs Treppenhaus, Hannes setzte die Jungs einen nach dem anderen in den Zwillingsbuggy, friemelte diesen dann millimetergenau durch die schmale Haustür und holperte die vier Stufen auf den Gehsteig hinunter. Lise und ich hüpften hinterher und bogen draußen zu ihrem Fahrrad ab.

Fünfzehn Minuten später hatten wir alle Kinder erfolgreich in ihren Kitas abgegeben, und ich lief die Straße zurück in Richtung U-Bahn.

Was könnte mein Papa nur besprechen wollen? Der nächste Besuch stand noch nicht an. Vielleicht würden wir es Weihnachten schaffen, aber so richtig klar war das noch nicht. Und die Geschenkplanung war nicht gerade sein Aufgabengebiet.

Ich schaute auf mein Handy. Bis zu meiner ersten Konferenz heute hatte ich noch eine Stunde Zeit. Also lief ich über die Straße in den Gemüseladen mit den blauen Vordächern, kaufte mir einen Kaffee und setzte mich auf die Holzbank vor der Tür. Dann rief ich meinen Papa zurück.

«Na», sagte ich. «Was gibts?»

«Hast jetzt grad Zeit?», fragte er.

«Ja», sagte ich und trank einen Schluck aus dem Pappbecher. «Die Kinder sind alle erfolgreich verbracht, und ich sitz mit Kaffee in der Hamburger Sonne. Gut, Sonne is übertrieben. Eisiger Herbstwind und graue Wolken triffts eher, aber ich halts grad noch aus. Also ja, geht.»

«Gut», sagte er. «Weil, ich wollt da mal was mit dir besprechen. Mit euch alle. Es is so …»

Kurz suchte mein Vater nach den richtigen Worten. Ein paar Sekunden hörte ich nichts. Dann fand er sie.

«Ich bin jetzt einundachtzig, und ich will ein paar Dinge regeln, solange ich sie noch selber regeln kann. Drum hab ich mir was überlegt. Des heißt, ich will jetzt den Hof übergeben.»

«Den Hof übergeben? Wem denn?»

Er formte ein lang gezogenes «Oiso», wie immer, wenn er zu einer längeren Ausführung ansetzt – und dann erzählte er. Von Erbmassen und Bodenrichtwerten, von dem, was wer von meinen drei Geschwistern schon bekommen hatte oder noch bekommen sollte, von vielen, vielen Berechnungen und Überlegungen, und ich fragte mich, wie er sich die ganze Zeit so existenzielle Gedanken hatte machen können, ohne dass ich was davon gemerkt hatte. Das Ganze war ihm offensichtlich schon eine Weile durch den Kopf gegangen. Und jetzt musste es raus.

Kurz zusammengefasst war sein Plan: Er wollte im nächsten Jahr die Landwirtschaft übergeben. Und weil es seinen Berechnungen nach am fairsten war, sollte der größte Teil von seinem Land, von den Feldern, dem Wald und den Wiesen an mich gehen.

Daniil, der Besitzer des Ladens, kam heraus und sperrte den weißen VW-Bus auf, der direkt vor mir auf der Straße geparkt war. Er öffnete die hintere Ladetür, hob eine grüne Plastikkiste heraus und trug sie in das Geschäft.

Das Land will er übergeben, der Papa.

Dann bin ich Wiesenbesitzerin. Und Feld- und Waldbesitzerin.

Schon komisch, mein gesamter Hamburger Freundeskreis schien in den vergangenen Monaten nichts anderes getan zu haben, als genau so etwas zu suchen. Ständig schaute sich einer eine kleine Hütte irgendwo im Wald an oder einen Schrebergarten oder eine Obstwiese, um sich dann am Wochenende, weit weg vom Trubel der Stadt, auf seine eigenen Holzstühle in den eigenen Garten setzen zu können und auf die eigenen Bäume und in die eigene Luft schauen zu können. Um immer einen Fluchtort zu haben, sollte wieder mal eine Pandemie die Menschen von den öffentlichen Spielplätzen und aus den Schwimmbädern und Kinos verbannen. Um jederzeit aus der viel zu kleinen Wohnung abhauen und sich in sein kleines idyllisches Nest verkriechen zu können, in sein anderes Leben.

Ein kleines Stück Land nur für sich zu haben – genau das schien gerade für Großstädter das größte Glück zu sein.

Für Großstädter wie mich.

Ich hab mir nämlich auch schon Waldstücke und Hütten im Hamburger Umland angeschaut, um am Wochenende besser abhauen zu können.

Ich tickte scheinbar schon genauso. Das war zwar kein Wunder, schließlich lebte ich nun schon mehr als die Hälfte meines Lebens in großen Städten. Zehn Jahre lang war ich in München gewesen, sieben in Berlin und seit sechs Jahren leben wir jetzt in Hamburg. Meine Kinder sind alle drei hier geboren, Lise vor vier Jahren, Moritz und Josef vor zwei. Wir wohnen mitten in der Stadt, 4,5 Zimmer, Küche, Bad, kein Balkon, keine einzige Pflanze. In die Arbeit fahre ich mit der U-Bahn, an den Nachmittagen laufe ich mit den Kindern im Buggy oder auf Rädern durchs Viertel zu irgendeinem Spielplatz, auf dem ich dann mit den anderen Eimsbütteler Eltern am Rand vom Sandkasten sitze und Reiswaffeln und Obstriegel aushändige.

Tiere schaut man sich hier im Tierpark Hagenbeck an. Und immer, wenn wir das machen, fühle ich mich irgendwie zerrissen. Ich liebe die Tiere da, aber hinter einem Zaun auf Lebewesen schauen, als wären sie Kunstwerke im Museum? Ich bin doch mit Tieren aufgewachsen! Auf unserem Hof in Niederbayern gab es Hühner und Katzen und eine Ziege, und Bulldogs und Schubkarren und Obstbäume und im Vergleich zu dem, wie ich heute lebe, sehr, sehr viel Platz. Ich bin ein Landkind.

«… des nächste Mal dann, wenn ihr wieder da seids», hörte ich plötzlich meinen Vater wieder reden.

«Oh tschuldige, was hast du gsagt?»

«Die Pläne und des ois zeig ich dir dann, wenn ihr an Weihnachten kommts.»

«Ja, okay», sagte ich, und dann waren wir einen Moment lang still.

«Du ich muss jetzt weida. Telefonier ma die Tage noch mal, oder?»

«Is recht», sagte mein Papa. «Oiso dann.»

«Oiso dann. Pfiat di.»

Ich...

Erscheint lt. Verlag 17.5.2022
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Ackerbau • Bauernhof • Bayern • Familie • Generationenkonflikt • Heimat • Kindheit • Landleben • Landwirtschaft • Leben auf dem Land • Natur • Neuanfang • Stadtflucht
ISBN-10 3-644-01127-3 / 3644011273
ISBN-13 978-3-644-01127-4 / 9783644011274
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