Keiner betete an ihren Gräbern (eBook)

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2022 | 1. Auflage
544 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00807-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Keiner betete an ihren Gräbern -  Khaled Khalifa
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Über fast hundert Jahre lang beschreibt Khalifa die Entwicklung Syriens, indem er die Geschichten mehrerer Familien erzählt. Der Christ Hanna wächst am Ufer des Euphrat in einer muslimischen Familie auf, gemeinsam mit deren Sohn Zakaria. In die Tochter Suad mit den schönen langen Wimpern verliebt er sich. Doch Hanna und Zakaria sehnen sich nach einem freien Leben, das der gläubigen Muslimin Suad nicht gefällt. Mit ihren besten Freunden, dem Juden Azar und dem Christ William, ziehen Hanna und Zakaria nach Aleppo und errichten ein Freudenhaus, zu dem nur auserwählte Persönlichkeiten Zugang haben. Dort befinden sie sich auch an dem Tag im Jahr 1907, als der Fluss aus den Ufern tritt. Viele ihrer Familienmitglieder ertrinken in den Fluten. Es ist eine Zeit, in der Christen und Muslime noch nebeneinander auf dem Dorffriedhof begraben werden. Aber mit der Hochwasserkatastrophe setzen Veränderungen ein, die nicht nur das Leben der vier Freunde betreffen, sondern das ganze Land erfassen. Rückblenden und Erinnerungen brechen die chronologische Erzählweise auf, die Geschichten verzweigen sich. Hier ist ein großer Erzähler am Werk, der den Bilderreichtum der arabischen Sprache gekonnt mit Reflexionen über Leben und Tod verbindet und an die bedeutende kulturelle Vergangenheit Syriens erinnert, die heute so weit weg scheint.

Khaled Khalifa wurde 1964 in Aleppo, Syrien geboren. Er studierte Jura an der Universität Aleppo und war Mitbegründer und Mitherausgeber der Literaturzeitschrift 'Alif'. Mitglied des zu Beginn der achtziger Jahre gegründeten 'Literarischen Forums' an der Universität Aleppo. Er war Autor von zahlreichen Romanen und Drehbüchern für Kinofilme, war für den International Prize for Arabic Fiction und den National Book Award nominiert und wurde mit der Naguib Mahfouz Medal for Literature ausgezeichnet. Am 30. September 2023 ist Khaled Khalifa gestorben. 

Khaled Khalifa wurde 1964 in Aleppo, Syrien geboren. Er studierte Jura an der Universität Aleppo und war Mitbegründer und Mitherausgeber der Literaturzeitschrift "Alif". Mitglied des zu Beginn der achtziger Jahre gegründeten "Literarischen Forums" an der Universität Aleppo. Er war Autor von zahlreichen Romanen und Drehbüchern für Kinofilme, war für den International Prize for Arabic Fiction und den National Book Award nominiert und wurde mit der Naguib Mahfouz Medal for Literature ausgezeichnet. Am 30. September 2023 ist Khaled Khalifa gestorben.  Larissa Bender, geboren 1958 in Köln, studierte Islamwissenschaft, Ethnologie, Kunstgeschichte und Soziologie und lebte mehrere Jahre in Syrien. Sie übersetzte u.a. Abdalrachman Munif, Fadhil Al-Azzawi, Samar Yazbek, Niroz Malek, Dima Wannous und Hamed Abboud.

Zweites Kapitel Die Sünden


Hannas Niederschrift, Teil eins


Nach Josephines und Gabriels Beerdigung floss mein Blut neben mir und trat nicht über die Schwelle des Zimmers, das ich mehr liebte als jeden anderen Ort. Es war ein schlichtes Zimmer mit einem großen Bett und einem Teppich, den mir mein Freund Aref Scheich Musa Agha nach seinem Besuch in Diyarbakir geschenkt hatte. Ich mochte die bunten Pfauen, die sich mit langschnäbeligen Vögeln überlappten, auch wenn diese mir arrogant vorkamen und unter chronischer Einsamkeit zu leiden schienen. Auf dem Boden des Zimmers lagen ein paar unordentlich hingeworfene Sitzkissen, auf denen sich ein Mann, der vor der Menschheit geflohen war, ausruhen konnte. Die vier großen Fenster öffneten sich nach allen Seiten und erlaubten den Blick auf die Überreste der zerstörten Häuser von Hosch Hanna, den weit entfernten Fluss, die Ruine der Kirche und die Baumwollfelder.

Vor der Flut hatte ich nur einige wenige Nächte in dem Zimmer übernachtet. Damals hatte ich die Menschen nicht fliehen müssen, sondern war im Gegenteil sehr angetan von dem lauten Trubel meiner Freunde gewesen, genauso wie ich vernarrt war in Gabriels Unbekümmertheit und Josephines Lächeln.

Als ich mit Zakaria in dem zerstörten Dorf eingetroffen war, hatte ich nicht geahnt, was eine Überschwemmung bedeutete. Ich hatte nicht glauben können, was ich sah, und kann es immer noch nicht glauben. Ohne lange nachzudenken, ging ich in mein Zimmer und stellte fest, dass dort drei große Spiegel hingen. Sie reflektierten ein mir unbekanntes Licht. War es das des Mondes oder der Oberfläche des Flusses oder der Gesichter der Toten? Ich stellte mich vor einen der großen Spiegel und sah mich als Schlange mit langen Hörnern. Einfach schrecklich! Ich war so unbeschreiblich hässlich! Ich bespuckte mich selbst.

Am nächsten Morgen schmetterte ich die drei Spiegel gegen einen großen Stein und hörte sie zerspringen. Ich möchte mir nie wieder ins Antlitz sehen. Warum sollten wir unsere Gesichter anschauen, wenn wir aussehen wie abscheuliche Nattern?

Ich war erleichtert. Das Zimmer war nun größer geworden, und ich schlief zum ersten Mal seit drei Tagen ein. Im Traum sah ich mein hässliches Gesicht wieder, mein Körper war abgezehrt, der Geruch des Todes hatte sich in ihn geschlichen. Beerdigt zu werden, bedeutet nicht das Ende des Todes. Zum ersten Mal spürte ich das Gefühl des Todes unter meiner Haut, er kroch durch meinen ganzen Körper. Ich war sicher, dass ich sterben würde, und Zakaria würde mich beerdigen, wie er es mit all den anderen Leichnamen getan hatte, die ich nicht hatte ansehen wollen. Doch Josephines Antlitz ging mir nicht aus dem Kopf. Sie sah so sanft aus wie in ihrem Leben, das ohne jeden Aufruhr neben mir abgelaufen war, ohne dass ich sie wahrgenommen hatte. Sie ging zu Fuß zu ihrem Grab, und ich war zu feige, sie zurückzuholen. Josephine und Suad hatten keine Ähnlichkeit miteinander, aber sie verschwammen plötzlich zu einem dritten Gesicht, dem Gesicht einer Frau, die Schams Sabah ähnelte und meiner Mutter.

Die wenigen Stunden Schlaf wurden zu einem grauenvollen Albtraum. Jede Nacht erhob ich mich wie ein Toter von meinem Bett, wandelte durch das Zimmer und fürchtete mich vor der Außenwelt und dem lauernden Fluss. Alles um mich herum war Ausdruck einer einzigen Katastrophe, aber ich konnte es Zakaria nicht erklären, denn ich wollte ihm nicht noch mehr Sorgen aufbürden. Auch er hatte seinen Sohn verloren, und seine starken Schultern würden in Zukunft unser beider Schmerzen tragen. Ich sah ihn mit festen Schritten über den Boden gehen, stark wie ein Maultier, und unsere Erinnerungen aufsammeln, um sie zu begraben.

Ich legte mich auf den Boden und konnte zum ersten Mal lange schlafen. Wieder schlichen sich die Gesichter in meine Erinnerungen, aber dieses Mal lebten sie. Ich roch Suads Parfüm, das ich nicht vergessen kann. Den Duft Josephines, der dem des Eukalyptusbaums ähnelte. Ich kannte das Geheimnis ihres Duftes nicht, sie hatte alles gemieden, was für sie nach Skandal roch. Sie hatte als genügsame Frau leben wollen und getan, was sie wollte. Übervolle Kleiderschränke hatten ihr nie etwas bedeutet, Dinge erstickten sie, weshalb sie sie stets an andere verteilte. Ich habe ihre Botschaft erst sehr spät verstanden. Was machen die Dinge mit uns? Sie schütten uns zu und lassen uns zu Toten oder gleichfalls zu Gegenständen werden.

Ich fühlte mich wohl und glaubte, die Albträume würden nicht zurückkehren. Aber das Blut, das in meinen Adern floss, war das Blut eines Toten. Ich war immer noch überzeugt davon, dass ich das Gesicht einer Schlange mit zwei Hörnern besaß, die vor Urzeiten gelebt hatte. Ich stand auf, machte mir zum ersten Mal einen Kaffee und setzte mich neben das Fenster. Die Sonne ging gerade unter. Wie betörend und bezaubernd doch der Anblick des Sonnenuntergangs ist. Die Farbe des Abends verändert sich in einem fort. Ich fühlte mich unendlich leicht, wie alle Toten, wenn sie das Abenteuer eingegangen sind, mit den Menschen zusammenzuleben.

Viel Zeit ist vergangen seit der Flut, deren wildes Wasser mich mit sich gerissen und in den Tiefen des Flusses zurückgelassen hatte. Ich entdeckte, wie wunderbar das Leben im Wasser war, wie weich. Nichts in meiner Umgebung war hart, die Berührung der Pflanzen, die weiche Haut der Fische, das Wasserbett, auf dem ich schlief, der Schlamm, die Ufer, alles war weich und hatte nichts mit der Härte gemein, die mich auf dem Land umgeben hatte. Ich wanderte durch diese Welt, berauscht von meinem neuen Leben, befühlte meine Hörner, stellte fest, dass sie sich fast aufgelöst hatten und mir stattdessen eine Krone mit wundervollen Blüten gewachsen war, von denen ein seltsamer Duft ausging, ähnlich dem der Zitrone oder der Baumwolle, wenn ihre Kapseln morgens aufspringen. Mich umhüllte ein sich stets verändernder Geruch. Wie hold war mir doch das Glück, mir, dem Mann, der in den Tiefen des Flusses lebte.

Ich stand jeden Morgen vor der Dämmerung auf, geweckt vom Rauschen meines Blutes. Ich wartete darauf, dass sich das Rot zurückzog, sich in Gelb verwandelte, sich mit Blau vermischte. Die Sonne stieg pünktlich in die Höhe, kümmerte sich nicht um die Lebewesen, die für einen Herrscher an verschiedenen Fronten kämpften, um des Sieges einer Religion oder eines politischen Führers oder irgendwelcher Vorstellungen willen. Sie setzte ihren Weg zum Himmelsgewölbe fort, und keine Farbe wiederholte sich. Ich war überglücklich, in jenem Moment dort zu sein. Jeden Tag konstatierte ich, dass mein Versinken im Fluss eine großartige Tat gewesen war, so sehr, dass ich, als ich zum ersten Mal von meinem Zimmer hinunterstieg und am Flussufer entlanglief, Teile meines Körpers von mir abfallen sah. Es war mir egal, ich war eine Pflanze, die wieder neu zu wachsen begann. Ein neues Organ wuchs anstelle meiner Finger, die sich der Hund schnappte, der nach einem vom Fluss ans Ufer geworfenen toten Fisch suchte. Wir speisen uns von den Überresten der Toten. Ich freute mich, dass dieser Hund sich von meinen Fingern ernährte. Ich kannte ihn gut, es war der Wachhund von Zakarias Stall. Ich warf ihm meine Finger hin und setzte meinen Weg fort. Plötzlich saß ich wieder neben dem Fenster und beobachtete das erneute Wachsen meiner Finger. Genau wie ich die Pflanze beobachtete, die gestern nicht höher als ein paar Zentimeter gewesen war. Ich wusste, dass sie in ein paar Tagen doppelt so hoch sein und eine andere Farbe angenommen haben würde. Vielleicht würde sie Früchte tragen, dann würde ich eine Blüte sehen, die sich in eine Baumwollknospe oder eine Aubergine verwandeln würde. Nie in meinem Leben hatte ich über das Geheimnis dieses großartigen Todes nachgedacht, aber jetzt genoss ich es, wenn wieder ein Teil von mir abfiel. Ich dachte an das Elend meiner Freunde. Von Weitem sah ich in der Ferne Aref Scheich Musa Aghas Kutsche, sein Sohn Youssef saß auf dem Kutschbock. Der Wagen steuerte auf mein Zimmer zu und war voll beladen mit Leinenanzügen, an deren Farbe ich erkannte, dass sie in den Fabriken von Manchester gefertigt worden waren. George hatte sie mir wieder einmal schicken lassen. Dazu Vorratsgläser und Hammel zum Schlachten. Ich beobachtete, wie mein Diener ihm sagte, dass ich in den Tiefen des Flusses hause. Dann sah ich Youssef und meinen Freund Aref, den ich sehr gerne habe, traurig fortfahren. Selbstverständlich war er traurig, wo er doch noch die Last seines Körpers trug. Er träumte von Eisenbahnen. Er ging auf festem Untergrund und betrachtete gerne sein Gesicht im Spiegel. Er hatte Angst vor dem Altern und dem Schrumpeln seines Gliedes. Er hatte mir mal spottend offenbart, dass das Leben der Alten scheiße sei, dass aber uns, die Liebhaber der ewigen Zitadelle, das Altern nicht befallen werde. Ich lachte, ich mochte seine unverblümte Sprache, wenn er die Lust pries. Meinem Freund waren immer die Tränen aus den Augen gekullert, wenn eine Frau einen besonderen Tanz hinlegte, bei dem sie sich ganz hingab. Er konnte förmlich spüren, wie ihr Körper den Boden erzittern ließ, und sagte stets zu den Frauen: «Tanzt nicht, damit euer Tanz uns gefällt. Tanzt, um unsere Seelen aus ihrer festen Behausung zu reißen.» Dann setzte er enthusiastisch hinzu: «Ihr müsst wie mein Zug sein, der unbekümmert in die Herzen und die weiten Ebenen hineinstürmt.» Schams Sabah erklärte ihnen dann den Sinn dieser Worte und wurde verlegen, als sie ihnen die Beziehung...

Erscheint lt. Verlag 12.4.2022
Übersetzer Larissa Bender
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aleppo • Alltag im Krieg • arabische Familiengeschichte • Arabische Literatur • Emigration • Familienroman • Flut • Generationenroman • Geschichte Syriens • Islam • Militär • Roman • Vatertagsgeschenk • Zeitgenössische Literatur
ISBN-10 3-644-00807-8 / 3644008078
ISBN-13 978-3-644-00807-6 / 9783644008076
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