Und wenn wir wieder tanzen (eBook)

Ein historischer Hamburg-Roman
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
464 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01009-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Und wenn wir wieder tanzen -  Kerstin Sgonina
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Hamburg, 1962: Marie Hansen lebt in der Kleingartensiedlung Zur alten Landesgrenze in Wilhelmsburg. Als Zimmermädchen im Hotel Atlantic wird sie schlecht bezahlt und von den Gästen herablassend behandelt. Aber hier, unter ihren verschrobenen Nachbarn, hat sie eine Heimat gefunden. Bis Marie in einer Februarnacht von einem Tosen erwacht, Schreie sind zu hören - die Siedlung steht unter Wasser. Marie wird gerettet, doch das wenige, was sie besaß, hat sie verloren. Für die nächsten Wochen wird sie bei Effie von Tieck in St. Pauli einquartiert. Die ältere Dame besitzt ein Tanzlokal in der Speicherstadt, das durch die Sturmflut ebenfalls schwer beschädigt wurde. Marie ahnt, dass sich hinter Effies ruppiger Fassade eine tragische Geschichte verbirgt, und beschließt, der verzweifelten Frau unter die Arme zu greifen. Das Danzhus soll wieder ein Ort der Lebensfreude werden! Mit vereinten Kräften bauen die ungleichen Frauen das Lokal wieder auf - und schöpfen durch ihre ungewöhnliche Freundschaft neuen Lebensmut ...  

Kerstin Sgonina arbeitet als Autorin, Journalistin und Lektorin. Mit 18 Jahren kam sie nach Hamburg und schlug sich nach ihrem Abitur dort unter anderem als Türsteherin und Barfrau in Sankt Pauli durch. Nach wie vor liebt sie die Stadt an der Elbe heiß und innig, lebt aber heute mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern nahe Berlin.

Kerstin Sgonina arbeitet als Autorin, Journalistin und Lektorin. Mit 18 Jahren kam sie nach Hamburg und schlug sich nach ihrem Abitur dort unter anderem als Türsteherin und Barfrau in Sankt Pauli durch. Nach wie vor liebt sie die Stadt an der Elbe heiß und innig, lebt aber heute mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern nahe Berlin.

2


Hamburg-Wilhelmsburg
Nacht auf Samstag, 17. Februar 1962

Gebäude, die aus unscharfen Umrissen bestanden, zogen an ihr vorbei. Davor ein umgekipptes Auto, das in vollkommener Stille auf dem Wasser vorüberglitt. Luftblasen. Wasser. Wieder Schwärze.

«Was …?», murmelte Marie, viel mehr als ein Gurgeln kam jedoch nicht aus ihrem Mund, sie schmeckte Salz in der Nase und würgte.

Jemand hatte sie sich über die Schulter gelegt, sodass ihr Haar durchs Wasser schleifte. Sie sah die Welt verkehrt herum, versuchte, dennoch etwas zu erkennen und sich aufzurichten, doch ihr fehlte die Kraft. Der Kopf pochte. Hart schlugen ihre Zähne aufeinander. Ihre Gedanken schienen sich aufzulösen, bevor sie Gestalt annahmen. Sie sah Farben, ein helles Sonnengelb aus ihrer Erinnerung, hörte Lachen und die Stimme ihrer Mutter, die kichernd nach ihr rief.

Klaviermusik. Klaras wunderschön tiefe Stimme. Marie, die auf ihre Kinderknie herabsah, zerkratzt und schmutzig, auf ihre Füße, die in hellroten Riemchensandalen steckten. Starb sie jetzt, auf der Schulter eines Mannes, den sie nicht kannte? Wieso hörte sie ihre Mutter so dicht an ihrem Ohr, dass sie ihren Atem zu spüren glaubte? Und wieso sehnte sie sich plötzlich so sehr nach ihr?

Wieder Schwärze. Wärme wich Kälte. Als Marie erneut zu sich kam, befand sie sich an einem Ort, an dem kein scharfer Wind mehr fegte. Still war es, trocken und leidlich warm. Sie öffnete die Augen und sah einen Dachstuhl, in dem zusammengekauert noch fünf oder sechs weitere Menschen hockten. Schneeflocken rieselten durch Risse im Gebälk und schmolzen, kaum hatten sie den Boden erreicht. Jemand hatte eine Kerze angezündet, deren unruhiges Flackern Schatten auf die Gesichter warf.

Ruckartig setzte sich Marie auf und stieß mit dem Hinterkopf gegen einen Holzbalken. Vor Schmerz zuckte sie zusammen.

«Immer schön langsam», sagte ein Mann neben ihr mit beruhigender Stimme. Sie hatte ihn noch nie gesehen, aus der Alten Landesgrenze war er offenbar nicht.

Seine Kleidung war so nass wie ihre, sie beide saßen in nur langsam versickernden Wasserlachen. Nachdem er den Mund wieder geschlossen hatte, hörte sie ihn mit den Zähnen klappern. Ihnen gegenüber saß zusammengekauert eine alte Frau, deren Gesicht runzlig war und voll von Schorf. Sie kroch auf allen vieren zu ihr hinüber und starrte sie aus nächster Nähe an.

«Wieder wach, ja?»

Marie nickte. Unsicher blinzelnd umfasste sie ihre Knie. Ihr war so kalt!

«Wo sind wir?», fragte sie und stellte fest, dass ihre Stimme fremd klang. Dunkel, zittrig und heiser, als habe sie seit Menschengedenken nicht mehr gesprochen.

«In der Fährstraße.»

«Wie bin ich hergekommen?»

Niemand antwortete ihr.

«Die Siedlung», sagte sie in die Stille hinein. «Ich lebe in der Kleingartensiedlung am Spreehafen. Wissen Sie, ob von dort jemand gerettet wurde?»

Ein Schnauben war die Antwort. Langsam wandte sie den schmerzenden Kopf. Zu ihrer anderen Seite saß ein junger Mann, die Knie angezogen. Sie war sich nicht sicher, ob er den Laut von sich gegeben hatte.

«Wissen Sie etwas darüber?» Ihre Lippen waren taub.

Ruppig schüttelte er den Kopf, schluchzte auf und begann zu weinen. Marie rieb sich das Gesicht und betrachtete ihre Hände, die feuerrot und zugleich blau von der Kälte waren, verkrustet von Blut. Ob sie schlief und alles nur träumte? Doch so fühlte es sich nicht an.

Aber wie fühlte es sich an? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass die Angst an ihr nagte. Was war mit Peer geschehen? Sein Haus … Sie schüttelte den Kopf, doch so ließ sich der Gedanke nicht daraus vertreiben, stattdessen durchzuckte sie ein stechender Schmerz, der von der Schläfe bis zu ihrem Mundwinkel zog.

«Wo geht es raus?», fragte sie heiser. Nur weg von hier. Zur Siedlung. Um nachzusehen, was heil geblieben war.

Die alte Frau schüttelte den Kopf. «Nirgends, wenn du nicht lebensmüde bist. Das Wasser stand bis weit in den ersten Stock, als ich rein bin. Wir müssen warten, bis uns jemand holt.»

Erschüttert starrte Marie sie an. Dann schüttelte sie erneut den Kopf. «Es muss einen Weg geben!»

«Spring vom Dach, wenn dir danach ist», murmelte der junge Mann neben ihr.

Die alte Frau gab ein Zischen von sich.

«Durch die Tür kommst du ins Treppenhaus», wandte sie sich wieder an Marie und deutete mit dem Daumen auf die niedrige Holztür, die in die Wand zur Linken eingelassen war, «aber ab da ist Schluss. Zur Haustür geht’s weder raus noch rein. Nur durch die Fenster. Ich hab ein kaputtes gefunden und die anderen auch. Aber wenn du das Haus verlässt, wenn du wirklich schwimmen gehen willst, bist du auf dich allein gestellt. Niemand hat mir helfen wollen. Wo ich geklopft hab, haben sie getan, als sei niemand da.»

Kristin, schoss es Marie durch den Kopf. Hatte ihre Familie irgendwo Zuflucht gefunden, oder waren sie noch da draußen? Und was war mit Peer, mit Tomtom? Sie biss sich auf die Unterlippe und versuchte, nicht zu weinen, doch ihr Schluchzen ließ sich nicht lange unterdrücken. Niemand störte sich daran, jeder war damit beschäftigt, in sein eigenes Inneres zu blicken.

Nach einer Weile fing sie sich wieder. Sie hatte schon vieles erlebt, sie hatte nie einen Vater gehabt und ihre Mutter verloren, und sie hatte es geschafft, sich mit einer Adoptivmutter wie Erna so weit zu vertragen, dass sie gemeinsam am Abendbrottisch sitzen konnten, ohne einander an die Gurgel zu gehen. Sie würde auch diesen Dachboden verlassen. Und sie würde ihre Nachbarn und Freunde wiederfinden.

Als ihr Blick das Gesicht des älteren Mannes streifte, beugte sie sich vor. «Haben Sie mich hergebracht?»

Er nickte.

«Danke.»

Er nickte erneut.

Sie waren zu siebt, zählte sie. Der weinende junge Mann neben ihr, zwei Kinder, die sich mit schreckerfüllten Gesichtern an ihre Mutter drängten, der Herr, die alte Frau und sie.

«Weiß von Ihnen jemand, wie spät es ist?»

Ihr Mund schmerzte, wenn sie sprach. Zaghaft tastete sie nach der Haut um ihre Lippen, die sich verkrustet und geschwollen anfühlte.

«Manchmal werden die Schreie lauter, dann leiser», sagte die alte Frau nach einem kurzen Moment des Zögerns, als wenn das einen Hinweis auf die Uhrzeit gäbe. «Ob jemand kommt, uns zu retten?»

Der junge Mann gab ein Schnauben von sich, das nur bedeuten konnte, er glaube nicht daran.

Mit eingezogenem Kopf kroch Marie zu einem handbreiten Spalt im Dach, durch den ihr Schneeflocken ins Gesicht rieselten. Sie drückte die Stirn gegen das Holz und versuchte auszumachen, wie es dahinter aussah, aber da war nur Grau. Am Horizont dämmerte es. Weiße Wölkchen stiegen aus ihrem Mund auf, ihre Stirn wurde eisig kalt. Nachdem sie länger hinausgeblickt hatte, glaubte sie, ihre Umgebung besser erkennen zu können. Dunkel die Straßen, dunkel die Häuser. Doch Moment. Was sie sah, war kein Pflasterstein. Und die dunklen Zweige, die sich im Wind bogen, keine Sträucher. Das Wasser stand tatsächlich bis zu den Fenstern. Was sie für Sträucher gehalten hatte, waren Baumkronen.

Maries Brust fühlte sich eng an. Innerhalb einer Nacht war die Welt zu einem schrecklichen Ort geworden.

«Setz dich, Mädchen. Wir müssen warten, anders geht es nicht.» Es war die alte Frau, die erneut das Wort ergriffen hatte. Marie nickte und kehrte an ihren Platz zurück, legte behutsam die Stirn auf ihre Knie und schloss die Augen. Doch in der Dunkelheit sah sie nichts als schreckliche Bilder. Die Buche, die auf Peers winziges Haus niederkrachte. Schwarzes Wasser, das durch den geborstenen Deich hindurchquoll. Nach einer Weile schlief sie dennoch ein, erwachte ruckartig und sah sich um, dann entschlummerte sie wieder in eine mattschwarze Dunkelheit. Manchmal glaubte sie Rufe zu hören. Davon abgesehen erklang bloß das Rauschen des Windes, das sich mal abschwächte, dann wieder Fahrt aufnahm. Kein Vogel zwitscherte. Keine Straßenbahn glitt surrend durch die Straßen, kein Motor brummte. Doch plötzlich wurden Schritte laut und Stimmen, die etwas riefen.

Hastig richtete sie sich auf. Auch die anderen waren mit einem Mal hellwach.

«Ist da wer?», rief die alte Frau mit vor Kälte zitternder Stimme. «Hallo, ist da jemand?»

In weißnebligen Wolken stieg ihr Atem zum Giebel auf.

Marie robbte zu der niedrigen Holztür und zog sie auf. Im Treppenhaus war das Trappeln von Schritten zu hören. Schon war sie umringt von der alten Frau und der Mutter samt ihren Kindern. Gespannt und mit einem Funken Hoffnung in den Gesichtern begannen sie zu rufen, so laut sie konnten. Eine Männerstimme antwortete, Poltern war zu hören. Als im Dunkeln ein Kopf sichtbar wurde, wurde Marie schwindelig vor Erleichterung.

Drei Männer rannten die Stufen hinauf. Sie trugen Soldatenuniformen.

«Erst die Kinder», rief der eine.

Marie war die Letzte, die die schmale Stiege hinunterkletterte. Sie hatte wacklige Beine und sah, dass auch ihre Hände zitterten, dabei spürte sie die Kälte längst nicht mehr.

«Kommen Sie, eilen Sie sich!»

Marie nickte. Sie hatte das Gefühl, nicht mehr sie selbst zu sein, während sie von Stufe zu Stufe stolperte. Ihre Mantelschöße wippten, und da waren ihre Knie, rot und geschwollen, die Strumpfhose zerrissen, doch ihr schien, als renne jemand anderes dem Soldaten hinterher. Noch eine Treppe und eine weitere. Dann waren sie im ersten Stock, nahm sie an. Der Soldat scheuchte sie in eine Wohnung, deren Teppich sich mit Wasser vollgesogen hatte. Die Fenster waren aufgerissen. Auf dem Wasser ein wenig unterhalb des Fensterbretts wippte...

Erscheint lt. Verlag 1.2.2022
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 60er Jahre • Elbleuchten • Frauen • Frauenfreundschaft • Freundinnen • Hamburg • Hamburg damals • Hamburger Hafen • Hamburg Roman • Historischer Roman • historischer roman hamburg • Roman für Frauen • Speicherstadt • Starke Frauen • Sturmflut • Sturmflut 1962 • Tanzsalon
ISBN-10 3-644-01009-9 / 3644010099
ISBN-13 978-3-644-01009-3 / 9783644010093
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