Das Kind der Lügen (eBook)

Historischer Kriminalroman
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
352 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00838-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Kind der Lügen -  Helga Glaesener
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Ein vermisstes Kind, eine blutige Rache und ein Labyrinth aus Lügen - ein neuer Fall für Paula Haydorn und Hamburgs erste Weibliche Kriminalpolizei. Hamburg 1929: Ein Kind ist verschwunden. Verzweifelt bittet die wohlhabende Signe von Arnsberg die Polizei um Hilfe bei der Suche nach ihrer Tochter, die nach einem Spaziergang mit ihrer Kinderfrau nicht ins Hotel Atlantic zurückgekehrt ist. Doch die Männer der Kripo nehmen sie nicht für voll - denn es ist nicht das erste Mal, dass Signe hysterisch bei der Hamburger Kriminalpolizei auftaucht.  Nur Paula Haydorn glaubt der Frau. Seit einem Jahr ist sie als eine der ersten weiblichen Beamtinnen im Polizeidienst. Und sie hat sich dort mit ihrem klaren Blick und klugen Gespür einen Namen gemacht, entgegen aller Vorurteile. Auch diesmal beweist sie Spürsinn. Denn als von dem verschwundenen Mädchen blutige Spuren gefunden werden, nimmt der Fall eine dramatische Wendung. Und noch ahnt niemand, welche Abgründe sich an der Alster auftun werden ...

Helga Glaesener stammt aus Niedersachsen und studierte in Hannover Mathematik. 1990 begann die Mutter von fünf Kindern mit dem Schreiben historischer Romane, von denen gleich das Debüt, «Die Safranhändlerin», zum Bestseller avancierte. Seitdem hat sie zahlreiche weitere erfolgreiche Romane geschrieben, darunter auch diverse Krimis. Helga Glaesener lebt in Oldenburg.

Helga Glaesener wurde in Niedersachsen geboren und studierte in Hannover Mathematik. Heute lebt sie in Oldenburg. 1990 begann die Mutter von fünf Kindern mit dem Schreiben historischer Romane, von denen gleich das Debüt, «Die Safranhändlerin», zum Bestseller avancierte. Seitdem hat sie zahlreiche weitere erfolgreiche Romane geschrieben, darunter auch diverse Krimis sowie zuletzt «Das Erbe der Päpstin». Im Rowohlt Verlag erschienen ist bereits der historische Roman «Das Seehospital». Für den hier vorliegenden Hamburg-Krimi aus der Weimarer Zeit hat Helga Glaesener intensiv zu dem spannenden historischen Hintergrund recherchiert: In Hamburg entstand in den 1920er Jahren eine der ersten weiblichen Kriminalpolizei-Einheiten in Deutschland, die Verbrechen an Frauen aufklären sollte. Nach "Die stumme Tänzerin" ist dies der zweite Band um Hamburgs erste Kommissarinnen. 

2. Kapitel


Dienstag, 6. August

Paula erwachte am folgenden Morgen mit Schmerzen im Kreuz und einem eisernen Ring aus Kopfweh um die Stirn. Während sie sich aus dem Bett stemmte, flackerten die verblassenden Bilder ihres Traums noch einmal auf: ein Strand und Eidechsen, die in eine Badetasche krabbeln wollten. Eine Szene ohne Sinn, die ihr plötzlich vorkam, als würde sie ihr eigenes Leben spiegeln: Sinnlos, alles war sinnlos.

Obwohl sie das Fenster über Nacht hatte offen stehen lassen, rann ihr der Schweiß den Rücken hinab. Ihr Nachthemd war feucht.

So wie das Armesünderkleid, das Mette Gerdes gestern getragen hat.

Sie hob die Waschschüssel, die in einer Ecke ihrer Schlafkammer stand, aus dem eisernen Ständer und füllte sie in der Küche mit kaltem Wasser. Anschließend trug sie sie zurück, zog sich aus und begann, sich von Kopf bis Fuß zu waschen. Sie scheuerte ihre Hände, bis sie brannten, als könnte sie mit dem Lappen Mette Gerdes’ Blut, das daran klebte, fortschrubben.

Ihre Ermittlungen waren durch eine Anzeige ausgelöst worden. Der Großneffe eines der Opfer war aus den Kolonien zurückgekehrt und hatte herausgefunden, dass sein verstorbener Verwandter kurz vor dem Tod eine Lebensversicherung zugunsten von Mette Gerdes abgeschlossen hatte. Martin hatte sich mit Josefine Erkens, der Leiterin der Weiblichen Kriminalpolizei, kurzgeschlossen, und sie hatten Paula und ihre Kollegin Carolina Wagner in den Kameliengarten geschickt.

«Der Neffe ist nur neidisch», hatte Paula zu ihrer Kollegin gesagt, nachdem sie dem Loblied der Heiminsassen auf die vorbildliche Betreuung gelauscht hatten.

«Und du bist naiv», hatte Caro gespöttelt und darauf bestanden, die Gesellschaft aufzusuchen, bei der der Verstorbene die Lebensversicherung abgeschlossen hatte. Dort fanden sie heraus, dass mindestens drei weitere ehemalige Heimbewohner Mette als Begünstigte eines Lebensversicherungsvertrags eingesetzt hatten – und dass sie alle kurz darauf verstorben waren. Zwei hatten sich umgebracht, den dritten hatte angeblich ein Magengeschwür dahingerafft. Bis auf den Großonkel des misstrauischen Manns, der Anzeige erstattet hatte, waren sie sämtlich ohne Angehörige gewesen. Daraufhin hatte Martin eine Mordkommission eingerichtet.

«Und das musste er auch, und wir haben sauber ermittelt», sagte Paula zu dem Spiegelbild, das ihr hinter dem Ständer mit der Waschschüssel von der Wand aus entgegenstarrte. «Jammerlappen!» Sie streckte sich die Zunge heraus und zog sich hastig an. Dann verließ sie, ohne zu frühstücken, ihr karges Zuhause.

Martin Broder wohnte in der Etage unter ihr. Als eine seiner Nachbarinnen vor Monaten auf tragische Weise verstorben war, hatte er Paula ihre Wohnung vermittelt. Sie hatte sie gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen renoviert, alles sah jetzt hübsch und gemütlich aus. Und trotzdem konnte Paula die beiden Zimmerchen immer noch nicht leiden. Es war, als verfolgte sie der Geist der verhungerten Frau, sobald sie die Räume betrat. Sie war froh, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.

Da Martin genau wie sie selbst auf Pünktlichkeit hielt, trafen sie einander wie fast immer an der Haltestelle der Tram.

«Wieder besser?», fragte er, als wären sie gerade erst auseinandergegangen.

«Und du?»

«Der Staat sollte keine Menschen umbringen.»

Sie nickte.

Und schon versiegte ihr Gespräch wieder. Das geschah oft in letzter Zeit, ohne dass sie dafür einen Grund hätte nennen können. Sie hatte Martin vor gut einem Jahr bei ihrer Arbeit als Sekretärin für die Weibliche Kripo kennengelernt. Aufgrund innerer Querelen hatte man sie der Mordkommission zugeteilt, die er leitete. Es hatte sofort zwischen ihnen gekribbelt, und bei einem weiteren Fall hatte sie bereits als Kriminalassistentin mitarbeiten dürfen. Eine Sparkassenangestellte war ermordet worden, und die gemeinsamen Ermittlungen hatten ihre Beziehung enger werden lassen. Sie waren, meist mit Kollegen, auf das eine oder andere Feierabendbier losgezogen, hatten sich zu Hause mit Eiern und Zucker ausgeholfen, über ähnliche Dinge gelacht und gelegentlich lange Stunden über die Arbeit geredet.

Der will dich ins Bett kriegen, hatte Caro damals gemeint – aber sich geirrt. Martin war, was das Körperliche anging, immer auf Distanz geblieben. Gut, ihr Leben war auch so aufregend gewesen. Sie konnte warten.

Doch während sie sich mit Mette Gerdes beschäftigten, hatte die Distanz zwischen ihnen plötzlich eine andere Färbung bekommen. Er schien sich von ihr zurückziehen. Weil ihn der Fall belastete? Oder war sie ihm womöglich zu dicht auf die Pelle gerückt? Letzteres konnte sie klar verneinen. Sie war verliebt, aber sie war auch dünnhäutig und zu stolz, um eine Abfuhr zu riskieren.

Paula schreckte aus ihren Gedanken auf, als die Tram heranratterte. Da die Bänke entlang der Fenster besetzt waren, blieben sie im Mittelgang stehen und hielten sich an den Lederschlaufen fest, die von der Decke baumelten. Martin starrte auf die Straße, auf der sich Fußgänger, Kutschen, Fahrräder und Karren den Platz streitig machten.

«Ich will mit Caro und Gertrud Augspurg am Wochenende schwimmen gehen. Kommst du mit? Wir könnten auch Fritz und Volker fragen», schlug sie vor.

«Gute Idee», antwortete er mit so wenig Begeisterung, als hätte sie ihn gebeten, eine Akte anzulegen. Sie erreichten das Stadthaus, und Paula fühlte sich von seinem beklemmenden Schweigen so angestrengt, dass sie hinter der Treppe zu den Toiletten abbog. War sie wütend? Ja. Was sollte dieses bescheuerte Benehmen? Zum Glück traf sie eine der beiden Sekretärinnen, die für die Kripo arbeiteten, Elsbeth Neumann, und nach einem Zehnminutenplausch über den Reiz kunstseidener Strümpfe ging es ihr ein wenig besser.

Als sie in den Flur zurückkehrte, hastete Caro an ihr vorbei. «Wir essen nachher zusammen in der Kantine! Halb eins?»

Natürlich, warum nicht? Caro, die keinen Wert auf seidene Strümpfe legte, sondern provokant in Hosen mit breiten Gürteln und weißen Hemden herumlief, über denen bunte Schlipse baumelten, war schwer in Ordnung. Empfindlich, wenn es um die Liebe zu ihrer Kollegin Gertrud ging, die ebenfalls bei der Weiblichen Kriminalpolizei arbeitete, aber scharfsinnig und mit vollem Einsatz bei der Arbeit. Und darauf kam es letztlich an.

Paula erklomm die Treppe in den ersten Stock. Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Gedanken wieder zu Martin abschweiften. Vielleicht hatte sie sich die zarten Schwingungen zwischen ihnen bloß eingebildet? Waren die nachdenklichen Gespräche, das gemeinsame Lachen und seine gelegentlichen Berührungen nur Bestandteile einer kollegialen Freundschaft gewesen? Und war ihm erst jetzt aufgegangen, dass sie sich möglicherweise mehr erhoffte? Dann soll er doch zum Teufel gehen, dachte sie und meinte es nicht so und wartete auf Tränen, die sie sich auf keinen Fall gestatten würde, die aber auch nicht kamen, und …

Und dann traf sie auf die Fremde.

 

Zuerst hörte Paula nur ein lautes Schimpfen aus dem schmalen Gang, der vom Flur zu den Büros der Inspektion für Wirtschaftsverbrechen abging. Die Frauenstimme klang hell und … Paula hasste das Wort hysterisch, weil es vor allem dazu diente, Ängste von Frauen kleinzureden, aber jetzt drängte es sich auf: Diese Frau klang hysterisch!

Als sie die Abzweigung erreichte, erblickte Paula zu ihrer Überraschung eine elegante Dame mittleren Alters. Sie trug ein graublaues Sommerkleid mit hängender Taille, außerdem eine Perlenkette, zweimal um den Hals geschlungen, wobei der längere Teil ihr immer noch bis zum Bauchnabel reichte. Etliche Bürotüren standen wegen der Hitze offen, und Paula sah mehrere Männer grinsend hinauslugen. Aber an der Hysterikerin war nichts amüsant. In ihren zartgliedrigen Händen lag ein schlaffes, flauschiges Etwas, das auf ihrem Bauch einen unförmigen Blutfleck hinterlassen hatte. Ein Hund. Ein Pekinese, nach dem üppigen, braunweißen Fell und dem platten Kopf zu urteilen.

Die Flurtüren zwischen Paula und der Fremden begannen sich zu schließen, wohl weil die Frau hektisch nach einem Ansprechpartner zu suchen begann. Niemand hatte Lust, seine Zeit mit einer Irren zu vergeuden. Schließlich blieb ihr Blick an Paula haften. «Hören Sie, Fräulein, ich will Anzeige erstatten …»

Außer ihrer kostspieligen Aufmachung fiel ihr interessantes Gesicht mit den strahlend grünen Augen auf. Unter einem schmalen Hut mit einem Federbäuschchen ringelten sich dunkelbraune Locken hervor. Ihr Mund war schmal und wirkte rechthaberisch, dabei aber trotzdem attraktiv. Sie wäre auch ohne den blutigen Kadaver ein Mensch gewesen, der die Blicke auf sich zog.

Eilig kam sie auf Paula zu und drückte den toten Hund dabei so fest an sich, dass aus seinem Bauch ein Stück Gedärm heraustrat. «Man kann das doch nicht einfach ignorieren!», schimpfte sie.

Paula nickte, ohne etwas zu begreifen.

Die Frau zog mit dem Daumen das zerfaserte Ende eines Stricks aus dem Nackenfell des Tieres. «Jemand hat meinen Hund unter meinem Auto festgebunden, damit ich ihn überfahre, verstehen Sie? Das ist doch … schändlich. Ich will, dass Sie diesen Verbrecher suchen!»

Paula räusperte sich. «Hören Sie, Frau …»

«Signe von Arnsberg.»

«Hunde sind Tiere, und Verbrechen können nur an Menschen began…»

«Kommen Sie bitte mit», ordnete die Frau an. «Mein Name ist Signe von Arnsberg», schob sie noch einmal hinterher, als wäre es ein Argument.

Wider Willen fasziniert folgte Paula ihr. Wie brachte die Frau es nur...

Erscheint lt. Verlag 16.8.2022
Reihe/Serie Hamburgs erste Kommissarinnen
Hamburgs erste Kommissarinnen
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Historische Kriminalromane
Schlagworte 1920er Jahre • 20er Jahre • Alster • Emanzipation • Erbe • Ermittlerin • Familie • Hamburg • Hamburg Bücher • Hamburg Krimi • historischer Hamburg Kriminalroman • historischer Krimi • Kind • Kommissarin • Krimi • Kriminalroman • Mord • Mordserie • Polizei • Polizeiarbeit • Polizistin • Rache • Rennbahn • Rotlichtviertel • Serie • St. Georg • Volker Kutscher • weibliche Ermittlerin • Weimarer Republik • Zwanziger Jahre
ISBN-10 3-644-00838-8 / 3644008388
ISBN-13 978-3-644-00838-0 / 9783644008380
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