Dichter, Naturkundler, Welterforscher: Adelbert von Chamisso und die Suche nach der Nordostpassage (eBook)
688 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30437-4 (ISBN)
Der Evolutionsbiologe, Biosystematiker und Wissenschaftshistoriker Matthias Glaubrecht, Jahrgang 1962, ist Professor für Biodiversität der Tiere an der Universität Hamburg und wissenschaftlicher Leiter des geplanten neuen Hamburger Naturkundemuseums (Evolutioneum) am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB). Er war Gründungsdirektor des ehemaligen Centrums für Naturkunde der Universität Hamburg und Leiter der Abteilung Forschung am Museum für Naturkunde Berlin. Glaubrecht ist Autor mehrerer Bücher, darunter eine Biographie Charles Darwins und Am Ende des Archipels - Alfred Russel Wallace. Zuletzt erschienen von ihm der Spiegel-Bestseller Das Ende der Evolution - Der Mensch und die Vernichtung der Arten und Die Rache des Pangolin. Wild gewordene Pandemien und der Schutz der Artenvielfalt.
Der Evolutionsbiologe, Biosystematiker und Wissenschaftshistoriker Matthias Glaubrecht, Jahrgang 1962, ist Professor für Biodiversität der Tiere an der Universität Hamburg und wissenschaftlicher Leiter des geplanten neuen Hamburger Naturkundemuseums (Evolutioneum) am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB). Er war Gründungsdirektor des ehemaligen Centrums für Naturkunde der Universität Hamburg und Leiter der Abteilung Forschung am Museum für Naturkunde Berlin. Glaubrecht ist Autor mehrerer Bücher, darunter eine Biographie Charles Darwins und Am Ende des Archipels – Alfred Russel Wallace. Zuletzt erschienen von ihm der Spiegel-Bestseller Das Ende der Evolution – Der Mensch und die Vernichtung der Arten und Die Rache des Pangolin. Wild gewordene Pandemien und der Schutz der Artenvielfalt.
Erstes Kapitel
»Ich habe die Erde gründlicher kennen gelernt, als vor mir irgend ein Mensch.«
Wie ein Sommer auf dem Land bei derer von Itzenplitz das Leben Chamissos verändert und ihn zum ersten Mal auf Weltreise gehen lässt
»Wer mich teilnehmend auf der weiten Reise begleiten will, muss zuvörderst erfahren, wer ich bin, wie das Schicksal mit mir spielte und wie es geschah, dass ich als Titulargelehrter an Bord des ›Rurik‹ stieg.« – Diese Worte Adelbert von Chamissos, sein Reisetagebuch einleitend, gingen mir nicht aus dem Kopf, als ich an einem wolkenverhangenen Tag kaum eine Stunde von Berlin entfernt in die weite Ebene gelangte, mit dem Fluss ganz im Osten – ins Oderbruch. Noch lagen Reste des letzten Schnees in den Furchen der Äcker und in Winkeln, wo die spärliche Frühlingssonne sie nicht erreicht hatte. Südöstlich von Bad Freienwalde und einige Kilometer weiter hinter dem Ort Wriezen erreichte ich das Ziel meiner kleinen Exkursion: das Dörfchen Kunersdorf, von dem weithin sichtbar zuerst die kuppelbedachte Kirche auftauchte.[13]
Wer auf den Spuren Chamissos wandeln wolle, der müsse nach Kunersdorf im Oderbruch fahren, hatte man mir empfohlen. Natürlich war ich neugierig auf diesen Genius Loci, den literarisch-historischen Ort, in den sich seinerzeit, kaum eine Tagesreise von Berlin entfernt, Chamisso im späten Frühjahr 1813 geflüchtet hatte. Nachdem die Heere Napoleons einmal mehr durch Europa marschiert waren, hatte man endlich begonnen, sich von seiner Herrschaft zu befreien. Um in diesem Krieg gegen den französischen General und Kaiser nicht zwischen die Fronten zu geraten, verbrachte der geborene Franzose und Wahlpreuße auf Anraten und Vermittlung wohlmeinender Freunde einen Sommer auf dem Land. Und schrieb seine phantastische Novelle Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte.
Ich wollte den Geburtsort dieser Geschichte kennenlernen, mit der sich Chamisso erstmals wenigstens in Gedanken auf Weltreise begeben hatte. Von hier aus hatte er seinen Peter Schlemihl, ausgerüstet mit den sagenhaften Siebenmeilenstiefeln, rund um die Erde geschickt. Kaum aber war ich an jenem trüben Tag in das Dorf mit seinen nicht einmal 200 Einwohnern gelangt, wurde mir klar: Es ist zweifelsohne einer der unwahrscheinlichsten Orte, wenn es um den Startpunkt zu einer großen abenteuerlichen Weltreise geht. Kunersdorf heute ist brandenburgische Provinz par excellence, das diametrale Gegenteil von Weltläufigkeit und Abenteuer; ein gänzlich unscheinbares märkisches Dorf, im Schatten der Geschichte und auch nach der Wende lange kaum verändert. Dabei hat dieser Ort keineswegs immer so weltvergessen vor sich hin gedämmert.
Die Frauen von Friedland
Immerhin hat er eine lange Geschichte. Als »Kunradestorp« oder »Dorf eines Konrads« wird es im Jahre 1343 erstmals urkundlich erwähnt. Im Jahre 1765 wurde das alte Rittergut Kunersdorf verkauft, und der friderizianische General Hans Sigismund von Lestwitz begann, ein Schloss zu bauen, das genau genommen eher ein geräumiges Landhaus war, ein dreigeschossiger, beinahe 40 Meter langer Massivbau mit Mansardwalmdach, Rokokofassade und breiter Freitreppe. Der einzigen Tochter, der 1754 geborenen Helene Charlotte von Lestwitz, wurde nach Heirat und baldiger Scheidung erlaubt, den Namen des einstigen Ehegatten mit dem Namen der vom König vermachten Familiengüter zu vertauschen. Als »Frau von Friedland« übernahm Helene Charlotte 1789 nach dem Tod ihres Vaters jene Friedländischen Güter, zu denen nun auch Kunersdorf mit seinem Herrenhaus gehörte. Weniger dieses, sondern die Frau von Friedland selbst hat bei Zeitgenossen einen tiefen Eindruck hinterlassen. Sie war, wie Theodor Fontane es in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg ausdrückte, »eine seltene und ganz eminente Frau; ein Charakter durch und durch«. Energisch und entschlussfreudig, unabhängig im Geist, vor allem aber durch das Gedankengut der Aufklärung geprägt, versuchte sie, mit der Anwendung neuer Ackerbaumethoden die Erträge ihrer Güter zu steigern. Statt auf traditionellen Frondienst setzte sie auf die Selbständigkeit der Bauern, führte geregelte Lohnarbeit ein, unterrichtete sie in deren Arbeit, wie sie auch deren Kinder zur Schule gehen ließ. Vor allem führte sie fortschrittliche landwirtschaftliche Methoden im damaligen Preußen ein und machte die Friedländischen Güter so zu einem geachteten sozialen Agrarunternehmen, in dem auch mit der Ansiedlung neuer Pflanzenarten in der Forst- und Agrarwirtschaft experimentiert wurde. Für die Entwicklung des Oderbruchs, in dem sich seinerzeit eine blühende Agrarlandschaft ausbreitete, blieb das nicht ohne Folgen. Die »Baronesse von Friedland in der Mark« war mehr als »bloß eine Landwirtin«, vielmehr, nach Urteil eines Zeitgenossen, »eine höchst geistreiche und in allen Dingen unterrichtete Frau«.[14]
Zudem hatte Helene Charlotte auf ihren Friedländischen Gütern erstmals eine systematische Pflanzensammlung angelegt; insbesondere von Gräsern, mittels deren man die Bewirtschaftung der Grünlandflächen zu verbessern suchte. Dazu wurden gezielt Samen von ohnehin im Oderbruch gedeihenden Pflanzen gesammelt. Diese und andere Pflanzen – darunter auch fremdländische Gehölze, deren Nutzungsmöglichkeiten man testen wollte – wurden einst in Kunersdorf in einem eigens dazu von Helene Charlotte von Lestwitz angelegten botanischen Garten kultiviert. Gern hätte ich diesen Garten gesehen. Aber ich wusste, ich würde ihn in Kunersdorf vergeblich suchen. Bei meinem Streifzug durch das Dorf konnte ich mich schnell davon überzeugen, dass unmittelbare Zeugnisse aus der Zeit dieser ersten Frau von Friedland höchst rar sind. Jener botanische Garten, den Chamisso einst in reichem Maße zu nutzen wusste, verschwand bereits in den Jahrzehnten nach seinem Sommeraufenthalt ebenda.
Helene Charlotte starb 1803, nur 49-jährig, an den Folgen einer schweren Erkältung. Die Güter samt Schloss und Garten übernahm ihre 1772 geborene Tochter Henriette Charlotte. Auch sie, die das Erbe ihrer Mutter bewahrte, nannte sich Frau von Friedland. Henriette war im September 1792 zu Kunersdorf mit Peter Ludwig Alexander Johann Friedrich von Itzenplitz vermählt worden, dem sie in den ersten sieben Jahren ihrer Ehe vier Kinder gebar.[15] Auf ihren Gütern setzte sie die fortschrittliche landwirtschaftliche Tätigkeit ihrer Mutter fort, von der sie neben der für die Landwirtschaft auch die Liebe zur Botanik geerbt hatte. Durch Henriette entwickelte sich Schloss Kunersdorf zu einem Treffpunkt bedeutender Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kunst und Politik; nach dem Vorbild der geistig-künstlerischen Berliner Salons, gleichsam als deren ländliche Dependance im Oder-Märkischen. So war zur Zeit Chamissos das Schloss derer zu Itzenplitz als Kunersdorfer Musenhof allgemein bekannt, wenngleich als ein Ort mehr des wissenschaftlichen denn des künstlerischen Austausches.
Die Aufzählung der Besucher aus der preußischen Hauptstadt, die sich hier einst ein Stelldichein gaben, liest sich wie ein »Who’s who« der Berliner klassischen Zeit. Unter den Gästen waren etwa die Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt; aber auch Albrecht Daniel Thaer, der als Begründer der Landwirtschaftslehre gilt. Dieser siedelte sich, auf Betreiben der Eheleute von Itzenplitz, im Jahre 1804 auf dem Kunersdorf benachbarten Rittergut Möglin an, wo er kurz darauf ein landwirtschaftliches Lehrinstitut begründete, in dem Hunderte Landwirte wissenschaftlich ausgebildet wurden. Und über Fragen der Bewirtschaftung von Gütern wie das derer von Itzenplitz stand Thaer im engsten Kontakt vor allem mit Henriette Charlotte. Ihn beeindruckten nicht nur deren botanisches Interesse und ökonomische Kompetenz; vielmehr sei sie, so urteilte er, versierte Gutsherrin, Gelehrte und Frau von Welt. In den Quellen wird Albrecht Thaer mit den Worten zitiert: »Die Frau besorgt die ganze Wirtschaft, … studiert, schreibt in allen Sprachen, korrespondiert mit den größten Gelehrten in Europa über die verschiedenartigsten Gegenstände, erzieht ihre Kinder, … kennt alle Menschen in der Hauptstadt und im Lande und ist unter ihnen wie die alltäglichste Weltfrau.«
Dass Chamisso in Kunersdorf erscheint, verdankt er seinem Mentor am Zoologischen Museum in Berlin, bei dem er studiert. Der Mediziner und leidenschaftliche Zoologe Martin Hinrich Carl Lichtenstein, Afrika-Reisender und erster Professor auf dem Lehrstuhl für Zoologie an der Universität in Berlin, spielt in Chamissos Leben ohnehin eine Schlüsselrolle. Er ist im damaligen Berlin, wie wir heute sagen würden, sehr gut vernetzt und auch dem Hause derer von Itzenplitz freundschaftlich verbunden. Lichtenstein empfiehlt Chamisso, den talentierten und an Botanik höchst interessierten Studiosus der Naturwissenschaften, als Hauslehrer nach Kunersdorf. Und es dürfte wohl die Frau von Itzenplitz gewesen sein, die an seinem Kommen Interesse gehabt hat; obgleich wir darüber bei Chamisso selbst leider so gar nichts erfahren. Dabei kann ich mir angesichts ihrer Charakterisierung kaum vorstellen, dass Henriette Charlotte keinen starken Eindruck auf ihn gemacht hat. Während ich durch Kunersdorf wanderte, rätselte ich, warum sie wohl keine weitere Erwähnung bei Chamisso findet.[16] Und als ich dort zurück zum einstigen Schlosspark ging, fiel mir ein kurioser Umstand auf. In Chamissos Erzählung des Peter Schlemihl wird dieser als Graf Peter in die Geschichte eingeführt;...
Erscheint lt. Verlag | 4.5.2023 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Abenteuer am Amazonas und am Rio Negro • Adel • Adelbert von Chamisso • Alexander von Humboldt • Am Ende des Archipels • Berlin • Biografie • Botanik • Charles Darwin • Deutschland • E.T.A. Hoffmann • Expedition • Forschungsreise • Frankreich • Französische Revolution • Matthias Glaubrecht • Napoleon • Naturkunde • Nordsternbund • Reisebericht • Reiseschriftsteller • Reise um die Welt • Romantik • schlemihl • Welterkunder |
ISBN-10 | 3-462-30437-2 / 3462304372 |
ISBN-13 | 978-3-462-30437-4 / 9783462304374 |
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