Die rote Pyramide (eBook)

Erzählungen | »Wer Russland verstehen will, muss Vladimir Sorokin lesen.« taz
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
192 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32056-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die rote Pyramide -  Vladimir Sorokin
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Neue Erzählungen von Russlands Meister der Groteske. In »Die rote Pyramide« versammelt Vladimir Sorokin, einer der wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller Russlands, neun Erzählungen aus den letzten Jahren, die alle auf ganz unnachahmliche Weise das Leben im postkommunistischen Russland aufs Korn nehmen. In den neun Erzählungen, die Vladimir Sorokin für diesen Band zusammengestellt hat, geht es immer um eine durch den Verfall der Sowjetunion deformierte Gesellschaft. Das zeigt sich beim Einzelnen, wie in der Titelgeschichte, in der der junge Jura eine Vision erfährt, die ihn bis zum Ende seines Lebens nicht mehr loslässt. Es zeigt sich aber auch im Politischen, wie in der Geschichte »Lila Schwäne«, in der die russischen Atomsprengköpfe plötzlich in Zuckerhüte verwandelt wurden und man sich nicht anders zu helfen weiß, als einen wundertätigen Religionsgelehrten um Hilfe zu bitten. Und es zeigt sich im Zusammenspiel der Menschen, ihrer gesellschaftlichen Interaktion, wie in der Geschichte »Der Fingernagel«, in der vier befreundete Ehepaare zu einem Abendessen zusammenkommen, das auf Grund von Toilettenpapiermangel vollkommen außer Kontrolle gerät. Vladimir Sorokin gelingt in diesem Erzählungsband das Kunststück, aus scheinbar unabhängigen Einzelgeschichten ein Ganzes zu schaffen. Die Komposition ist strukturiert und ausbalanciert. Sorokin zeigt einmal mehr, wie meisterhaft er auch die kleine Form und verschiedenste stilistische Mittel beherrscht und eröffnet seinen Leser*innen einen Blick auf Russlands Gegenwart und Vergangenheit, die so vergangen eben  doch nicht ist.

Vladimir Sorokin, 1955 geboren, gilt als der bedeutendste zeitgenössische Schriftsteller Russlands. Er wurde bekannt mit Werken wie »Die Schlange«, »Marinas dreißigste Liebe«, »Der himmelblaue Speck«. Bei KiWi erschienen zuletzt die Romane »Der Schneesturm«, »Telluria«, die Literaturgroteske »Manaraga« und der Erzählungsband »Die rote Pyramide«. Sorokin lebt inzwischen in Berlin und hat den dortigen PEN mitbegründet.

Vladimir Sorokin, 1955 geboren, gilt als der bedeutendste zeitgenössische Schriftsteller Russlands. Er wurde bekannt mit Werken wie »Die Schlange«, »Marinas dreißigste Liebe«, »Der himmelblaue Speck«. Bei KiWi erschienen zuletzt die Romane »Der Schneesturm«, »Telluria«, die Literaturgroteske »Manaraga« und der Erzählungsband »Die rote Pyramide«. Sorokin lebt inzwischen in Berlin und hat den dortigen PEN mitbegründet. Andreas Tretner, geboren 1959 in Gera, übersetzt aus dem Russischen, Tschechischen und Bulgarischen. Ausgezeichnet mit dem Paul-Celan-Preis (2001) und dem Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt (2011). Dorothea Trottenberg, geboren 1957 in Dortmund, übersetzt aus dem Russischen. Ausgezeichnet mit dem Paul-Celan-Preis (2012). 2017 erhielt sie die Kulturelle Auszeichnung der Stadt Zürich.

Inhaltsverzeichnis

Das schwarze Pferd mit dem weißen Auge


Nicht nur dass sie alle vier ganz unterschiedlich mähten, nein, auch bei der Vorbereitung zur Mahd und bei der Rast zwischen den Mahdgängen verfuhr jeder von ihnen auf seine eigene Art und Weise.

Großvater Jakow sagte nach drei hintereinander gemähten Reihen jedes Mal: »Basta!«, schnaubte geräuschvoll, ging in die Knie, packte mit seiner dunklen, krebsscherenähnlichen Hand ein Büschel frisch gemähtes Gras, wischte damit die Sense ab, zog aus dem mit einem Riemen am Gürtel befestigten Lederbeutel einen Schleifstein hervor, wetzte flink die Klinge und murmelte dabei in seinen rotblonden Zottelbart. Sein ältester Sohn Filja, oder Chwilja, wie ihn alle nannten, der stets verschlafen und wortkarg war und einen ebenso rotblonden Bart und ebenso kräftige, kurze Arme hatte wie sein Vater, legte die Sense ins Gras, ging zum Feldrain, wo unter einer kleinen Eiche die Mutter und Dascha saßen, nahm ein paar Schluck aus der hölzernen Feldflasche, fuhr sich mit dem Hemdsärmel durchs Gesicht, hockte sich hin und blickte mit zusammengekniffenen Augen um sich. Der Mittlere, Grischa, der vom Gesicht, von seiner Eckigkeit und Schmächtigkeit her der Mutter glich, tat es dem Vater gleich und sagte: »Basta, und damit basta!«, packte seine Sense und schleppte sie keuchend zu einer mitten in der Wiese stehenden, vom Blitz gespaltenen und halb verdorrten Linde, wo er sich niederließ und bedächtig die Sense zu schärfen begann. Der Jüngste aber, Wanja, noch keine fünfzehn Jahre alt, mager, mit spitzen Schultern, großen Ohren und Sommersprossen, der mit einer kleinen, seinem Wuchs angepassten Sense mähte und immer weit hinter den anderen Schnittern zurückblieb, schulterte die Sense und folgte dem mittleren Bruder, um sich, das spitze Kinn auf die rauen Fäuste gestützt, bäuchlings unter die Linde zu legen und zu warten, dass Grischa nach seiner eigenen auch seine – Wanjas – kleine Sense schärfen würde.

Dascha saß unter der Eiche, den Rücken an den Stamm gelehnt, und beobachtete die Schnitter, die Wiese, den Wald, die Käfer, die Hummeln, die Schmetterlinge und den einsamen Bussard, der zuweilen in der blauen Höhe über der Wiese und dem Wald dahinglitt. Es gefiel Dascha, wie der bunte Bussard gleichmäßig seine Kreise zog und manchmal unvermittelt in der Luft stehen blieb, mit den Flügeln schlagend und kläglich piepsend wie ein Küken, um sich dann jäh nach unten fallen zu lassen. Die Mutter saß an die andere Seite der Eiche gelehnt und strickte an einer Socke aus grauer Ziegenwolle. Hin und wieder stand sie auf und wendete mit dem Rechen das frisch geschnittene Gras, das noch kein Heu war. Dann nahm auch Dascha ihren Haselstecken mit der Zwille am Ende und half der Mutter beim Wenden.

Die Panins hatten eine gute Wiese: flach und glatt, nahe beim Dorf und bei der Landstraße gelegen. Man hatte sie ihnen dank des alten Vorsitzenden, eines Schwippschwagers der Mutter, bereits im Jahre fünfunddreißig überschrieben.

Die Panins waren gerade den ersten Tag bei der Mahd – den halben Monat lang hatten sie zusammen mit dem ganzen Dorf die Wiesen der Kolchose am rechten Ufer der Bolwa gemäht, geharkt und geschobert. Sie hatten Glück mit dem Wetter – der Juni war heiß, bei trockenem Wind, »da macht sich das Heu von ganz alleine«, wie Großvater Jakow zu sagen pflegte.

Gestern war Dascha zehn Jahre alt geworden. Der Großvater hatte ihr neue Bastschuhe geflochten, der Vater hatte ihr eine kleine Tonpfeife geschenkt und die Mutter ein weißes Tuch mit roter Borte. Dascha war zufrieden. Das Tuch verwahrte sie bei der Großmutter in der Truhe, in den weiten, auf Zuwachs gefertigten Bastschuhen war sie heute zur Mahd gekommen, und die Tonpfeife hatte sie auch dabei. Jedes Mal, wenn der Vater zur Eiche kam, um etwas zu trinken und sich eine Weile hinzuhocken, zog Dascha die Pfeife aus der kleinen Tasche am Oberteil ihres Kattunkleidchens, das ein fliegender Schneider in Scholtouchi genäht hatte, und blies hinein. Der Vater bedachte sie dann mit beifälligen Blicken, kraulte sich den Bart und lächelte mit den Augen. Er war ein wortkarger Mensch. Auch die Mutter war nicht gesprächig. Bei den Panins hatte lediglich Großvater Jakow ein flinkes Mundwerk.

»Warum so langsam, Daschucha?«, hatte er sie unterwegs gefragt. »Was stolperst du denn so, kratzt dich der Bast vielleicht am Po?«

Alle lachten, und Dascha fasste den Großvater bei seinem krummen, von der Arbeit dunkel verfärbten Daumen mit dem dicken schwarzen Nagel und lief, mit den neuen Bastschuhen über die staubige Landstraße schlappend, neben ihm her.

Als die Schnitter ein Drittel der Wiese gemäht hatten und die Sonne sengend heiß hoch über den Köpfen stand, winkte Großvater Jakow: »Mittagessen!«

Die Schnitter ließen die Sensen fallen und streckten sich unter der Eiche aus. Während sie gierig tranken und einander die Feldflasche weiterreichten, breiteten die Mutter und Dascha ein fadenscheiniges Leinentuch aus und holten die mitgebrachten Leckereien aus dem Flechtkorb: ein halber Laib Roggenbrot, ein ganzer Bund Lauchzwiebeln, ein Dutzend gebackener Kartoffeln, ein Tonkrug mit gedämpfter Milch, ein kleines Stück Speck in einem Tuch und Salz in einem spitzen Papiertütchen.

»O Herr … und segne, was du uns bescheret hast …«, seufzte Großvater Jakow erschöpft, nahm den Laib Brot, presste ihn gegen die Brust und säbelte mit einem großen alten Messer mit dunkel verfärbtem, abgewetztem Holzgriff geschickt ein paar Scheiben ab.

Die Brüder nahmen je eine Scheibe und begannen sofort zu essen.

Großvater Jakow bekreuzigte sich, stippte das Brot ins Salz, biss ein Stück ab, nahm eine Lauchzwiebel, drückte sie zusammen, schob sie in den Mund und begann hastig zu kauen, wobei sein Zottelbart lustig zu zittern begann. Dascha sah Großvater Jakow gern beim Essen zu. Er schien sich mit einem Mal in einen alten, mümmelnden Hasen zu verwandeln. Die Brüder hingegen aßen so ernsthaft, als würden sie arbeiten, und waren fade und mürrisch. Obendrein wurde Wanja, der Jüngste, beim Essen sofort irgendwie erwachsen und genauso ein Mann wie der Vater und Grischa.

Die Mutter schnitt den Speck in acht Stückchen und verteilte ihn an die Männer. Der Speck war alt und gelb – der Eber war im letzten Sommer an irgendeiner Krankheit krepiert, und ein neues Ferkel hatten sie erst im Frühling bekommen. Aber sie hatten noch die Kuh Dotscha. Und die gab ordentlich Milch.

Die Mutter stellte den Krug mit gedämpfter Milch in die Mitte, verteilte kleine Holzlöffel, stach mit ihrem Löffel durch die dunkelbraune, im Hals des Krugs erstarrte Haut und rührte die Milch um:

»Esst …«

Die hautfarbene Milch vermischte sich mit dem dickflüssigen weißen Schmand, der sich oben angesammelt hatte. Die Männer hatten den Speck rasch hinuntergeschlungen und tauchten nun ihre Löffel in den Krug. Die Mutter und Dascha warteten, bis die Männer geschöpft hatten, und tunkten dann ihre eigenen Löffel hinein.

Die Milch war kühl und köstlich. Dascha schöpfte davon, schlürfte sie geräuschvoll und aß ein Stück Brot dazu. Am liebsten mochte sie die gedämpfte Milch wegen der gelben Butterbröckchen darin. Zu Hause wurde nur zu Ostern gebuttert, wenn die Großmutter Buchweizenblini buk. Die Butter duftete sehr lecker und zerlief auf den Blini sofort. Es war immer zu wenig da.

Die Mutter aß wie gewöhnlich ohne Hast, sie hielt den Löffel mit Milch über der Hand und schluckte leise, den schmalen, mit einem verwaschenen blassblauen Tuch umwundenen Kopf ergeben zur Seite geneigt.

Die Männer schlürften ihre Milch und schnauften dabei laut.

»Der Tau war heute mächtig schnell weg …«, brummte Grischa und wischte sich die Milch vom Kinn. »So bei Trockenheit mähen … das ist …«

»Eine feine Sache, und ob …« Chwilja nahm eine gebackene Kartoffel, stippte sie in das Salz und biss ein Stück ab.

»Nicht übel. Das haben wir schnell eingefahren.« Großvater Jakow schlürfte hastig seine Milch.

»Dann wird wenigstens alles schnell trocken.« Die Mutter schöpfte eine große Portion Schmand und hielt sie Dascha hin. »Hier, iss etwas von oben …«

Dascha schleckte ihren Löffel ab und legte ihn auf das Leinentuch. Mit beiden Händen ergriff sie den mit einem Berg Schmand randvoll gefüllten Löffel der Mutter. Der Schmand war weiß und dickflüssig, er passte kaum in den neuen Holzlöffel und quoll fast über den Rand hinaus. Vorsichtig balancierte Dascha den Löffel zum Mund. Der Schmand sackte leicht in sich zusammen und begann zu schwanken. Der obere Teil zerlief schon. Ein Strahl der Mittagssonne drang durch das Laub der Eiche, fiel auf den halbrunden weißen Schmandgipfel und blitzte auf. Die winzigen gelben Butterbröckchen im Schmand glänzten. Dascha öffnete den Mund. Plötzlich spiegelte sich in diesem duftigen, strahlenden Weiß etwas Dunkles. Dascha sah sich um.

Ganz in der Nähe stand ein schwarzes Pferd.

Dascha zuckte zusammen. Der Schmand glitt vom Löffel herunter und klatschte ihr auf die Knie. Und alle sahen das Pferd.

»Ach, Teufel noch mal!« Jakow fuhr überrascht auf und kniff die Augen zusammen.

Das Pferd scheute und wich zurück, blieb dann in einiger Entfernung stehen und schlug mit seinem schwarzen, buschigen Schwanz. Es war eine tiefschwarze Rappstute, gedrungen, breitbrüstig und breitknochig wie alle Bauernpferde, mit großem Kopf, kleinen Ohren und einer üppigen, zottigen, lange nicht geschorenen Mähne, in der dicht an dicht die Kletten hingen. Um den...

Erscheint lt. Verlag 10.2.2022
Übersetzer Andreas Tretner, Dorothea Trottenberg
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 9 Erzählungen • Gesllschaftskritik • Groteske • Manaraga • Moskau • Postkommunismus • Russland • Schneesturm • Telluria • Vladimir Sorokin • Zukunftsvision
ISBN-10 3-462-32056-4 / 3462320564
ISBN-13 978-3-462-32056-5 / 9783462320565
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