Mon Chéri und unsere demolierten Seelen (eBook)

Roman
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2022 | 1. Auflage
512 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30285-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mon Chéri und unsere demolierten Seelen -  Verena Roßbacher
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»Mit zwölf Jahren wurde mir schlagartig klar, dass ich nie durch Anmut überzeugen würde.« Charly Benz. Wie gestaltet man sein Leben, wenn man zwei linke Hände, eine demolierte Seele und jede Menge Probleme hat? Eine hinreißende Tiefstaplerin, der man nicht so ganz trauen kann, führt uns durch den neuen Roman von Verena Roßbacher. Mit unverbrüchlichem Optimismus und irre gut gelaunt strauchelt Charly Benz seit 43 Jahren durch ihr Leben. Sie arbeitet im Marketing einer Berliner Foodcompany, ernährt sich von angebrannten Croissants und bespricht ihre Beziehungsprobleme - die darin bestehen, dass sie keine Beziehung hat - mit ihrem einzigen Freund: Herr Schabowski, ein sechzigjähriger Mann, der ihre Post und Ängste sortiert. Doch als dieser eine tödliche Diagnose erhält, ihr erster Versuch einer Systemischen Familienaufstellung in einem Debakel endet und plötzlich gleich drei Männer ihr Leben gehörig durcheinanderbringen, verlässt Charly allumfassend der Mut. Den sollte sie schleunigst wiederfinden, sie ist nämlich schwanger. Sie und Schabowski beschließen, ihre Probleme proaktiv anzugehen: Sie flüchten. Und zwar nach Bad Gastein, ein ehemals mondäner Kurort im Südwesten Österreichs. In einem leerstehenden Hotel der Jahrhundertwende, das einst Charlys Vater gehörte, stellen sie fest: Man kann sich die Menschen, mit denen man verwandt ist, nicht aussuchen - seine Familie aber schon.

Verena Roßbacher, geboren 1979 in Bludenz/Vorarlberg, aufgewachsen in Österreich und der Schweiz, studierte einige Semester Philosophie, Germanistik und Theologie in Zürich, dann am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. »Mon Chéri und unsere demolierten Seelen« ist nach ihrem Debüt »Verlangen nach Drachen« (2009), »Schwätzen und Schlachten« (2014) und »Ich war Diener im Hause Hobbs« (2018) ihr vierter Roman bei Kiepenheuer & Witsch.

Verena Roßbacher, geboren 1979 in Bludenz/Vorarlberg, aufgewachsen in Österreich und der Schweiz, studierte einige Semester Philosophie, Germanistik und Theologie in Zürich, dann am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. »Mon Chéri und unsere demolierten Seelen« ist nach ihrem Debüt »Verlangen nach Drachen« (2009), »Schwätzen und Schlachten« (2014) und »Ich war Diener im Hause Hobbs« (2018) ihr vierter Roman bei Kiepenheuer & Witsch.

Der PostEngel


Also, sage ich halt noch ein bisschen was zu Schabowski. Zwar hatte ich seit unserem Telefongespräch ständig dieses Ohr vor Augen, derart zerschlagen und wieder verheilt und vernarbt, dass es aussah wie ein prächtiger Kreuzblütler, zwar ließ er mich fast eine ganze Woche lang schmoren, bevor er sich meinen Sorgen widmete, aber ich verzieh ihm. Trotz allem nämlich war er seit vielen Jahren der ruhende Pol in meinem Leben, und, ja, so etwas wie ein Freund.

Seit ich in Berlin lebte, brachte ich die Sendungen, die mich erreichten, also um Klartext zu reden: meine ganze Post, alle zwei Wochen zu einem Fachmann, er hieß Herbert Schabowski und sah aus wie ein typischer Bürohengst, er sah genau genommen exakt so aus wie sein Namensvetter Günter Schabowski von der SED, mit feistem Gesicht und halber Brille und so, aber mein Schabowski bestritt hartnäckig, mit dem Mann verwandt zu sein. Er sah aus, wie ein Beamter aussehen musste.

Dabei war er gar kein Beamter. Er war ein Spezialist für Fälle wie mich, für Leute mit Postangst. Ich hatte ihn im Internet gefunden, er betrieb ein Unternehmen namens »PostEngel« und bot drei verschiedene Abokategorien an, Basis, Standard und Premium. Ich war Premium-Kundin, zahlte monatlich 89,90 Euro und kam damit in den Genuss des vollumfänglichen Gesamtpakets, und das bedeutete: Bearbeitung vorhandener Briefe/Dokumente (Flatrate), Gesprächstermine im Büro (ebenfalls unbegrenzt), Amtsgänge (maximal viermal im Monat und im Umkreis von 50 km, ab 50 km mit Aufpreis) und Telefongespräche. Dazu kam die regelmäßige Aufklärung, wie man auf einen Brief zu reagieren hatte – das war bei jeder der drei Abokategorien mit dabei, und man konnte es auch nicht abbestellen. Ich hätte es gerne abbestellt. Ich hätte das Super-Premium-Abo für 99,90 bezahlt, wenn ich dafür nicht aufgeklärt würde. Aber es gab kein Super-Premium-Abo, nein, da blieb der Herbert Schabowski hart wie Kruppstahl. »Schauen Sie, Frau Benz«, sagte er jedes Mal väterlich, wenn er mich aufklärte, »es kann zwar sein, dass das nicht unbedingt von Geschäftstüchtigkeit zeugt, aber ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich es mich macht, wenn ein Kunde irgendwann sein Abo kündigt. Ich habe ja selbst keine Kinder, aber so muss es sich anfühlen, wenn die eigenen Sprösslinge flügge werden – eine Mischung aus Stolz, Zuversicht, Sorge und Wehmut.«

»Herr Schabowski«, sagte ich dann immer (ich liebte seinen Namen, ich ließ keine Gelegenheit verstreichen, ihn auszusprechen – das war eigentlich so ein Trick von Leuten, die dir was verkaufen wollten, sie merkten sich sofort deinen Namen und erwähnten ihn über Gebühr häufig, dadurch entstand das irrige Gefühl von Vertrautheit), »Herr Schabowski«, sagte ich dann immer, »und wenn alle Sie im Stich lassen, ich bleibe Ihnen treu.«

Und dabei hatte Herr Schabowski in seiner Diele eine nicht ganz kleine Petersburger Hängung von lauter Ölbildern in Birnholzrahmen, die ehemalige Klienten zeigten, die seine Dienste nicht mehr brauchten.

Klar, die Aussicht, niemals im Birnholz und in Öl in der Diele unter diesen ganzen Helden zu hängen, wurmte mich manchmal, aber niemals so, dass ich in Versuchung gekommen wäre, meine Briefe selbst zu öffnen.

Herr Schabowski übrigens, das fällt mir jetzt, wo ich so darüber nachdenke, auf, Herr Schabowski sagte übrigens auch sehr häufig »Frau Benz«, wenn er sich mit mir unterhielt – klar, er war eben auch ein Profi und wollte was verkaufen, nämlich seine Basis-, Standard- und Premium-Abos. Wenn Herr Schabowski und ich uns unterhielten, war es wie ein Wettkampf der Werbeprofis, er sagte dauernd »Frau Benz«, ich sagte dauernd »Herr Schabowski«.

Dass ich mit dem Problem der Postangst nicht alleine dastand, beflügelte mich, dass es aber doch nicht so viele von uns gab, dass man dafür ein Fremdwort erfunden hätte, enttäuschte mich wiederum. Für jeden Blödsinn gab es ein Fremdwort, für jede dümmste Angst hielt das Griechische was Schönes parat, es gab die Halitophobie, die Angst vor Mundgeruch, es gab die Spektrophobie, die Angst vor dem eigenen Spiegelbild, und die Tetraphobie, die Angst vor der Zahl vier, und diverse andere ungeschickte Ängste, aber die Postangst hatte keine Gnade gefunden vor der griechischen Phobiejury, die Postangst war vielleicht ein deutsches Phänomen.

»Die Griechen leiden vermutlich unter einer schlimmen Germanophobie!«, sagte ich zu meinem Spezialisten, in der Hoffnung, in den Griechen irgendwie einen gemeinsamen Feind zu haben, aber er war ein Paragrafenreiter und Kleinkrämer. »Postangst«, sagte Herr Schabowski, während ich in seinem Büro herumsaß und seinen Filterkaffee trank und meine Zigaretten mit ihm teilte, »ist streng genommen keine Krankheit.«

Ich war gern bei Herrn Schabowski. Ich kam immer pünktlich zu den Gesprächsterminen, aber ich hatte ihm schon ganz zu Anfang klipp und klar gesagt, dass ich nur, wenn es absolut unbedingt notwendig wäre, über Geschäftliches mit ihm reden würde, nur, wenn er mit der vollumfänglichen generellen Generalvollmacht, die ich ihm für sämtliche postalische Belange ausgestellt hatte, wirklich nicht mehr weiterkam und ich mich zu irgendeinem Schrieb persönlich äußern musste.

Stattdessen sprach ich mit Herrn Schabowski über Gott und die Welt, und ich muss sagen, ich fühlte mich danach immer viel besser. Es half mir nicht in Bezug auf die Postangst, aber, davon war ich fest überzeugt, es half mir in Bezug auf alles andere.

Herrn Schabowski aber bekümmerten meine mangelnden Fortschritte. Für Herrn Schabowski war das Briefeöffnen ein erholsames Hobby, seine eigene Post bearbeitete er beispielsweise gerne in der Mittagspause. Herr Schabowski hätte gerne, wie alle Leute, die enthusiastisch einem Hobby nachgingen, die ungeheure Schönheit dieses Zeitvertreibs mit mir geteilt, in Herrn Schabowskis liebsten Fantasien saß er vermutlich mit seinen Klienten in seinem Büro, sie öffneten gut gelaunt die Post und lasen sich die schönsten Auswüchse des gemeinen Bürokratendeutschs vor, nur unterbrochen von fröhlichem Lachen und dem zufriedenen Schlürfen am Filterkaffee.

Es gab in der Zwischenzeit eigentlich fast keinen Bereich meines Lebens mehr, über den Herr Schabowski nicht umfassend informiert war. Ich sprach über meine Unzufriedenheit in meinem Job, ich sprach über meine diversen neuen Ängste, seit ich regelmäßig die Zeitung las, und er wusste über fast alle Beziehungsdebakel meiner Vergangenheit bestens Bescheid, ja, Herr Schabowski wusste sogar von dem Dings, dem Familiendings, und er, der Dahlemer Spießer vom Dienst mit seinen Melittafiltern und dem Dallmayr-Prodomo-Kaffee, hatte nicht skeptisch das Gesicht verzogen, als ich ihm von dem fragwürdigen Geburtstagsgeschenk erzählt hatte, nein, er hatte gemeint, der Mensch sei ja von Natur aus neugierig, nur jemand, der sehr, sehr unsicher sei, nur ein Angsthase würde das Neue fürchten, jeder andere könne es freudvoll ausprobieren.

»Herr Schabowski, ich bin ein Angsthase.«

»Das glaube ich nicht.«

»Sparen Sie sich Ihre Witze. Hören Sie, ich habe eine brutale Angst, meine Post zu öffnen. Ich habe Angst vor einer neuen Naziära. Ich habe Angst, dass es nie wieder Winter wird und die Klimakatastrophe das Leben beendet, wie wir es kennen, ich habe Angst, in meinem blöden Werbejob zu vergammeln, ich habe Angst vor allerlei Krankheiten, zum Beispiel vor diesem schlimmen Schnupfen, der in der Firma gerade umgeht und –«

»Frau Benz, ich würde sagen, das alles sind reine Stellvertreterkriege.«

»Ist das ein Begriff aus dem Kalten Krieg? Herr Schabowski, ich weiß, ich sehe aus wie hundert, aber ich bin damals wirklich nicht dabei gewesen, ich weiß nicht, was das sein soll, ein Stellvertreterkrieg.«

»Nun«, er holte die Kanne aus seiner Krups-Maschine und schenkte uns behaglich Kaffee nach, »da Sie schon vom Kalten Krieg sprechen, damals standen sich die USA und ihre Verbündeten auf der einen Seite und die Sowjetunion und ihre Verbündeten auf der anderen Seite gegenüber. Ihre ideologischen Differenzen haben sie aber, aus Angst vor einer Eskalation, die in einem Atomkrieg hätte enden können, in vergleichsweise kleinen Drittstaaten ausgetragen, beispielsweise in Korea und Vietnam. Der Sieg über diese Länder war nicht wirtschaftlich interessant, nur ideologisch. Es waren Stellvertreterkriege. Mächtige Staaten neigen dazu, weniger mächtige Länder für ihre Zwecke zu missbrauchen.«

Herr Schabowski förderte aus seiner Schreibtischschublade eine Packung Toffifee zutage und wir langten einträchtig zu. Sein Schreibtisch war ganz Stasibehörde, in diesem fahlen Beige, ausnehmend hässlich, und immer thronte ein Usambaraveilchen oder ein anderes trauriges Gewächs neben seinem Computerbildschirm. Auch der Rest des Büros erinnerte an ein vergessenes Amt in Rumänien, nacktes Linoleum auf dem Boden, angestoßene Aktenschränke an den Wänden, auf einem stand ein Gratiskalender von dm, jeden Monat priesen die Bilder attraktive Produkte an, und an einer anderen Wand hingen drei Urkunden von Wettkämpfen – Herr Schabowski hatte sich früher einmal im Eisstockschießen versucht.

»Herr Schabowski, nur damit ich...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2022
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bad Gastein • Berlin • Beziehungen • Buchpreis 2022 • Familien-Geheimnis • Gegenwartsliteratur • Humor • Ich war Diener im Hause Hobbs • Liebe • Nationalpark Hohe Tauern • Österreich • Österreichischer Buchpreis • Österreichischer Buchpreis 2022 • Schwangerschaft • Tod
ISBN-10 3-462-30285-X / 346230285X
ISBN-13 978-3-462-30285-1 / 9783462302851
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