Frauen, an die ich nachts denke (eBook)

Auf den Spuren meiner Heldinnen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
560 Seiten
btb Verlag
978-3-641-25243-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Frauen, an die ich nachts denke - Mia Kankimäki
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Besondere Autor*innen, besondere Geschichten: btb SELECTION - Ausgezeichnet. Ungewöhnlich. Erstklassig.
Mia, Anfang vierzig, hat den Job gekündigt, die Wohnung verkauft, und während andere Familien haben und Sommerhäuser kaufen, denkt sie während zahlloser schlafloser Nächte an Frauen - und das hat nichts mit Sex zu tun, sondern mit der Suche nach dem Sinn des Lebens! Ihres Lebens! Ihre Nachtfrauen - furchtlose Entdeckerinnen, begabte Schriftstellerinnen und leidenschaftliche Künstlerinnen - sind Schutzheilige, die sie um sich versammelt, um sich den Weg weisen zu lassen. Und eines Tages beschließt sie, Ernst zu machen, die Welt zu bereisen und den Spuren ihrer Nachtfrauen wirklich zu folgen - Karen Blixen nach Tansania, Sei Sh?nagon nach Japan, vergessenen Renaissance-Malerinnen nach Florenz. Denn wenn diese Frauen es vor Hunderten von Jahren in die Welt geschafft haben, warum sollte Mia das dann nicht auch können?

Mia Kankimäki, 1971 in Helsinki geboren, hat an der Universität Helsinki allgemeine Literatur studiert. Bis zu ihrer Reise auf Sei Sh?nagons Spuren hat sie in verschiedenen Verlagen gearbeitet. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit der japanischen Kultur und hat an der Sogetsu-Ikeban-Schule in Tokio die Kunst gelernt, »aus wenigen Blumen und Zweigen ein kunstvolles Arrangement entstehen zu lassen, das durch Schlichtheit und Klarheit besticht«.

II DER WEISSE NEBEL, WINTER – FRÜHLING

Ausführlicher erzählt ist meine Situation folgende:

Es ist November, ein Jahr zuvor. Ich liege in Kyōto in meinem kalten, mit Tatamifußboden ausgestatteten Zimmer und habe nicht das geringste Interesse daran, mich vom Futon zu erheben. Vor zwei Monaten ist mein erstes Buch erschienen, und ich bin nach Kyōto gekommen, um darüber nachzudenken, was ich als Nächstes tun soll. Ich bin durch die engen Gassen dieser Stadt, die mir so lieb ist, gestreunt, habe mich mit Freundinnen und Freunden getroffen, in Teehäusern gesessen und bin durch orange leuchtende Herbsttempel gewandert, aber das Denken bleibt zäh.

Ich glaube, dies ist der absolute Nullpunkt.

Ich bin 42 Jahre alt. Ohne Mann, ohne Kind, ohne Arbeit. Ich habe meine Wohnung verkauft, mein erstes Buch zu Ende geschrieben und meine frühere Arbeitsstelle endgültig gekündigt. Ich bin in weißen Nebel hineingetreten. Ich bin frei und vollkommen ungebunden.

Aber der Nebel scheint von der schlimmen Sorte zu sein, und ich weiß absolut nicht, was ich als Nächstes tun soll. Wohin soll ich gehen? Wem soll ich folgen? Was kann eine Frau über vierzig, die keine Familie und ihre Arbeit und ihre Wohnung aufgegeben hat, mit ihrem Leben anfangen?

Andererseits sind die letzten Jahre die großartigste Zeit meines Lebens gewesen. Ich habe aus dem Koffer gelebt, viel Zeit in Kyōto, London, Thailand und Berlin verbracht, und wenn ich in Finnland war, habe ich entweder als Haushüterin bei Freunden oder im Dachzimmer meiner Eltern gewohnt. Ich habe ein Buch geschrieben und bin in der Freiheit geschwebt, mit dem unfassbaren Gefühl, meine Zeit so nutzen zu können, wie ich es will.

Wenn ich meine Freundinnen und Freunde sehe, die an der Grenze zum Burnout entlangtaumeln, überkommt mich ein diffuses Schuldgefühl. Keine Versklavung durch Arbeitszeiten, keine drohende Entlassung, zu Hause niemand, der darauf wartet, versorgt zu werden – es kommt mir vor, als wäre es mir gelungen, aus Alcatraz zu fliehen, und als würde ich jetzt aus den falschen Gründen auf einer Luftmatratze treiben und zuschauen, wie die anderen schuften. Es kommt mir geradezu unverschämt vor, selbst darüber zu entscheiden, was ich tun will. So darf das Leben doch nicht sein, oder?

Im Prinzip ist alles prima, aber etwas bedrückt mich.

Mein Leben scheint in die entgegengesetzte Richtung zu laufen, als das meiner Freunde. Sie richten ihr Zuhause ein, backen Kuchen für den Schulbasar ihrer Kinder, laufen Marathon, kaufen sich Sommerhäuser und verbringen Verwöhnwochenenden in Mitteleuropa. Ich hingegen bin als Vierzigjährige in die Lebenslage einer Zwanzigjährigen zurückgekehrt. Ich habe keine Zeitpläne, keine Verpflichtungen, keinen Job und schon gar kein Geld und bin in ein winziges Ein-Zimmer-Apartment gezogen. Nicht einmal während des Studiums habe ich in so einer Hundehütte gewohnt. Ich bin frei, aber ich bin auch eine Außenseiterin.

In schlechten Momenten habe ich das Gefühl, innerhalb von zwanzig Jahren nichts erreicht zu haben.

In guten Momenten habe ich das Gefühl, dass ich es geschafft habe, mich von allem zu befreien.

Und jetzt müsste ich für diese Expedition – für das Leben einer Frau über vierzig – eine neue Richtung und Bedeutung finden. Während ich in Kyōto wach auf dem Futon liege, schleicht sich allmählich ein größenwahnsinniger Gedanke in meinen Kopf: Vielleicht sollte ich den vorbildhaften Frauen folgen, an die ich nachts denke. Ich könnte eine schreibende Forschungsreisende werden und die Landschaften dieser Frauen in Afrika, Mexiko, Polynesien, China, in der Wüste Neu-Mexikos, auf der ganzen Welt bereisen. Aber wie soll ich das machen?

Dann trinke ich eines Abends in einem magischen Teehaus, das ich entdeckt habe, zu spät noch eine Tasse starken hellgrünen Matcha, und mein Gehirn läuft auf Hochtouren. Ich denke, dass ich mich derzeit am meisten für Afrika interessiere. Und dass Afrika verdammt beängstigend ist. Aber dass ich genau deswegen hinmuss.

Als ich von Kyōto nach Finnland zurückkehre, beschließe ich, Sei Shōnagon mit der Post nach Tansania zu schicken. Auf das Päckchen schreibe ich eine Adresse, die ich im Internet gefunden habe: Box 10, Arusha, Tanzania. Ich schicke mein erstes Buch an einen finnischen Wildtierforscher, unter dem Vorwand, dass er auf Seite 26 erwähnt wird, und lege einen Zettel dazu, auf dem ich ihm mitteile, dass ich von einer Fahrt in die Savanne träume. Ich stelle mir träumerisch (und vollkommen absurderweise) vor, wie Sei, meine Botschafterin, meine Späherin, mein exotischer Lockvogel, mich mitzieht auf die Reise.

Und das tut sie auch.

Zu Silvester bekomme ich eine SMS vom Wildtierforscher: »Danke für das Buch! Ich schreibe später noch eine E-Mail, aber wenn dir danach ist, bist du jederzeit willkommen.«

Falls ich auf irgendein Zeichen gewartet haben sollte – hier ist es. In meinem Bauch rumort das Entsetzen, aber verflixt noch mal, wenn ich mich nicht traue zu fahren, werde ich mir das nie verzeihen. Ich kenne diesen Olli überhaupt nicht, wir sind uns nie begegnet, aber aus seinen Büchern über die Natur in Tansania und aus einem drei Jahre zurückliegenden Telefonat habe ich den Eindruck gewonnen, dass er ein aufrichtiger (und äußerst gesprächiger) Mann ist. Im Internet lese ich, dass er ein Haus auf dem Land hat, irgendwo in der Nähe von Arusha. Lädt er mich dorthin ein? (Vor meinem inneren Auge sehe ich Jakaranda-Alleen, Köche und Gärtner, aber es kann sich auch um wer weiß was für eine Lehmhütte handeln.) Und er glaubt doch wohl nicht, dass ich irgendwelche romantischen Absichten hege, weil ich mich so aufdränge? (Mein Ex: »Also weißt du, wenn ein weißer Mann in Afrika lebt, dann ist eine finnische Frau über vierzig für ihn nicht unbedingt eine wahnsinnige Attraktion.«)

Vielleicht wäre jetzt der Zeitpunkt, das Karen-Blixen-Konto anzutasten – das Sparkonto, auf das ich seit Jahren Geld für meine Traumreisen einzahle. Für solche, die ich mich traue, und für solche, die ich mich nicht traue.

Für mich steht Karen Blixen nicht nur für unbekannte Kontinente und die wilde Natur Afrikas, sondern auch für vorbildlichen Mut.

Ich bin zweimal in Afrika gewesen. Beide Male habe ich mir einen Traum erfüllt, und beide Male habe ich mich zu Tode geängstigt. Auch wenn ich nicht weiß, wie ein Mensch auf einer organisierten Gruppenreise Angst haben kann, denn auf einer solchen wird man ja geradezu hospitalisiert. Auf der Südafrika-Reise saßen wir so lange in Kleinbussen (manchmal fuhren wir 700 Kilometer am Tag), dass ich nicht einmal Lust hatte, mein aufblasbares Nackenkissen abzunehmen, wenn ich mitten in Swasiland ausstieg, um mir die Beine zu vertreten. Dennoch hatte ich Angst. Als ich in meiner ersten Safari-Nacht in der Savanne schlief und zum ersten Mal einen Löwen brüllen hörte, hatte ich solche Angst, dass mir die Zähne klapperten. (Bis dahin hatte ich nicht gewusst, dass man vor Angst mit den Zähnen klappern kann.)

Karen Blixen hingegen hatte garantiert keine Angst. Sie verwaltete eine Farm im ostafrikanischen Hochland und unternahm Jagdsafaris, die Wochen und Monate dauerten. Dabei wurden am Lagerfeuer von Dienern zubereitete Mahlzeiten verspeist, Champagner aus Kristallgläsern getrunken und Schubert auf dem Grammophon gehört. Hinter Karen Blixen, die in meiner Vorstellung einen langen Rock, eine weiße Bluse und geschnürte Schuhe mit Schaft trägt, sieht man, so weit das Auge reicht, gelbgrasige Savanne, regenschirmartige Akazienbäume, Zebras, Giraffen und eine Schreibmaschine. Wer den Film Jenseits von Afrika gesehen hat, sieht auf dem Bild eventuell noch einen gutaussehenden Mann mit Safarituch um den Hals, der sich auf den Ellenbogen stützt.

Liest man Karen Blixens Erinnerungen Jenseits von Afrika, wird deutlich, dass Karen mutig, wach, gewandt und klug war und dass sie über beneidenswerte Überlebenskünste verfügte. Manchmal wirkt sie geradezu wie eine unüberwindbare Superfrau, fast wie ein Mann. Schon wenn man aufgrund des Buches eine grobe Liste ihrer Meriten zusammenstellt, kommt etwas Beeindruckendes heraus:

  1. Karen baut Kaffee in Afrika an.
  2. Karen ist eine geschickte Jägerin. Einmal wird sie von Massai gebeten, einen Löwen zu erschießen, der es auf ihr Vieh abgesehen hat, manchmal schießt sie ein oder zwei Zebras als Sonntagsmahlzeit für die Leute auf der Farm.
  3. Karen unternimmt Touren in die Wildnis. Sie zieht mit Kikuyu und Somali los und reitet mit ihren Hunden in Antilopenherden hinein.
  4. Karen ist eine angesehene Ärztin, die jeden Morgen Patienten empfängt. Die Patienten haben Pest, Pocken, Typhus, Malaria, Wunden, Prellungen, gebrochene Gliedmaßen, Verbrennungen und Schlangenbisse. Die schlimmsten Fälle bringt Karen nach Nairobi ins Krankenhaus oder in eine Missionsstation. Einmal nimmt sie selbst eine Überdosis Arsen, kommt aber auf die Idee, in Alexandre Dumas’ Roman nachzuschlagen, worauf es ihr gelingt, das Arsen mit Milch und Eiweiß zu neutralisieren.
  5. Karen ist außerdem Lehrerin, Richterin und Wohltäterin. Sie hat auf ihrer Farm eine Schule gegründet und fungiert bei Streitigkeiten der Einheimischen als Richterin. Morgens pflückt sie mit ihren Arbeitern, die sie liebt, Kaffee. Sonntags gibt sie Kautabak an alte Frauen aus.
  6. Einmal findet Karen den alten Knudsen tot auf einem Pfad und trägt den Toten zusammen mit einem Jungen aus der Gegend in die Hütte. Sie fürchtet sich nicht vor...

Erscheint lt. Verlag 16.5.2022
Übersetzer Stefan Moster
Sprache deutsch
Original-Titel Naiset joita ajattelen öisin
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2022 • Afrika • "Dinge, die dasHerz höher schlagen lassen" • eBooks • Finnland • Frauen • Italien • Japan • Kenia • Neuerscheinung • Reisen • Roman • Romane • Starke Frauen • Tansania
ISBN-10 3-641-25243-1 / 3641252431
ISBN-13 978-3-641-25243-4 / 9783641252434
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