Die Arbeit der Vögel (eBook)

Seelenstenogramme
eBook Download: EPUB
2022
352 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-23055-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Arbeit der Vögel - Marica Bodrožić
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Auf der Flucht vor den Deutschen gelangt Walter Benjamin im September 1940 auf einem alten Schmugglerpfad vom französischen Grenzort Banyuls-sur-Mer ins nordspanische Portbou. Tags darauf setzt er seinem Leben ein Ende. Acht Jahrzehnte später nimmt Marica Bodro?i? den letzten Weg des großen deutschen Schriftstellers und Philosophen zum Anlass, um über unsere Zeit, die Komplexität von Lebensläufen und Identität, Freundschaft und Flucht nachzudenken. Für sie wird der Gang über die Pyrenäen zu einem luziden Denkweg, auf dem die Natur als synästhetisches Gefüge mitspricht. Die äußere Bergwelt verschmilzt mit der inneren Lebenslandschaft. Kunstvoll webt Marica Bodro?i? in ihren Gedankenstrom die Schicksale auch anderer Intellektueller ein, die der Gewalt des 20. Jahrhunderts ausgesetzt waren - etwa der Widerstandskämpferin Lisa Fittko oder des Dichters Ossip Mandelstam. Entstanden ist dabei eine überzeitliche Wanderung durch die inneren Landschaften der Seele, die das schmerzverzahnte Gedächtnis mit dem leuchtenden Kern von Poesie verbindet. »Ein großes Projekt des Denkens ganz im Geiste Benjamins.« (Paul Reitter).

Marica Bodro?i? wurde 1973 in Dalmatien geboren. 1983 siedelte sie nach Hessen über. Sie schreibt Gedichte, Romane, Erzählungen und Essays, die in über sechzehn Sprachen übersetzt wurden. Für ihr bisheriges Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis, dem Manès-Sperber-Literaturpreis für ihr Gesamtwerk sowie dem Irmtraud-Morgner-Preis. Marica Bodro?i? lebt mit ihrer Familie als freie Schriftstellerin in Berlin und in einem kleinen Dorf in Mecklenburg.

Der Weg über die Pyrenäen


Die Rätsel eines Weges offenbaren sich den Füßen erst auf der eigentlich zu gehenden Strecke, wenn mit jedem Schritt das Gespräch mit der Erde, dem Geröll, den Steinen, Bäumen, Sträuchern und Blumen beginnt und die wechselnden Farben des Gebirges das Sehen verändern, es genauer werden lassen und im Einklang mit dem ergangenen Atem in neue Erkenntnisse überführen. Das größere Gedächtnis fängt an mitzusprechen. Die Wahrheit der kleinen Steine und die Verstrebungen einer sich selbst erzählenden Baumkruste, eines der aufsteigenden Geherin helfenden, festen, aber im Wind noch gerade genug biegsamen Astes haben keine eigentliche Mitteilung zu machen. Alles in der Natur steht für sich und hat keine Forderungen. Darin ist aus der Sicht der Atmenden gleichermaßen ihre Kälte wie ihre Schönheit enthalten. Aber später, im Rückblick und aus dem schrittweise erfahrenen Lungenvolumen eines Weges, aus dem Aufbruch der gestanzten Schmerzens-, Lust- und Lebenszeit eines im Gehen denkenden Menschen, entsteht ein neues Fassungsvermögen, ein Sprachvolumen, dem die Leere, das Nichtwissenkönnen, was beim nächsten Schritt geschehen wird, das Nicht-vor-die-Wahrheit-der-Füße-Treten-Können, zuvorkommt. So ist es auch an diesem frühen, noch frischen Februarmorgen im langsam sich ankündigenden Geleit der Tramontana, die mir ihre Kühle tief in die Lungen schleust und so von Beginn an in aller Deutlichkeit ihr königliches Terrain markiert. Die Luft mit dieser Windsprache zu teilen und den Füßen Vertrauen zu schenken, das ist die einzige Aufgabe für diesen Lebenstag, für diese kommenden Stunden, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in sich bündeln, schwanger sind mit der Kraft und Geschichte dieses Weges, den es nun auch für mich gibt, weil es Menschen auf der Flucht gab, denen er einst Rettung versprach. Einer dieser Menschen war Walter Benjamin, ein Erdenbürger, der Europäer war, lange noch bevor dieses Wort als Denkmodell in unserer verwandlungsbereiten Welt schwebte. Benjamin redete nicht über sich als Europäer, er lebte diesen verletzlichen Zustand eines Ausgesetzten, in Teilen wohl, weil es seiner Rastlosigkeit entsprach und dann, weil er keine Wahl hatte und die Menschen seiner Zeit ihn dazu zwangen, sich so zu bewegen – wie er es nicht wollte. Er wusste, dass nur derjenige, der eine Straße geht, von ihrer Herrschaft Kenntnis erlangen kann. Mit der Freiheit, die das jegliche Wollen abstreifende Gehen mit sich bringt, wird für mich auf diesem Weg auch Gott zu einem kleinen Stein zur anderen Seite der Berge. Der Stein liegt zwischen zwei Ländern und erinnert mich daran, dass ich ein Kind in mir trage. Es ist schwer, sich zu bücken und den kleinsten Stein aufzuheben. Im vierten Monat seiner Menschwerdung ist der neue Mensch nun dem Einflussbereich der Tramontana auf die gleiche Weise ausgesetzt wie ich, verbunden durch den Blutkreislauf unserer Leben und den Atem seines Vaters, der mit uns geht. Bald schon wird uns vielleicht ein blauer Gipfel unter einem hohen Himmel grüßen, ein Gipfel, der sich aber eine ganze Weile versteckt hält und doch zugleich von immer dunkler werdenden Wolken angekündigt wird. In der Ferne, längst schon, wie ich nun sehe, zum Stadtmenschen geworden, stelle ich mir die vibrierende Lunge von Marseille vor. Ich reise in meinen Gedanken zu den flimmernden Lichtern dieser Stadt und ihres Hafens, so, als könnte der Blick noch nicht aus sich selbst heraus ruhig werden, sich noch nicht einlassen auf diesen Weg, der für mich von Berlin nur zwei Flugstunden bis Barcelona und von dort zwei Stunden Autofahrt entfernt ist und der für unzählige Menschen im Zweiten Weltkrieg der letzte mögliche Fluchtweg in die Freiheit war. Viele waren von Paris über Marseille nach Banyuls-sur-Mer gekommen und einige von ihnen trauten sich nun mit der deutsch-jüdischen Widerstandskämpferin Lisa Fittko die wagemutige Flucht auf die andere Seite der Welt in ein Spanien zu, das mit neuen Gesetzen für weitere existentielle Verunsicherungen sorgte. Walter Benjamin ist der Einzige von ihnen, dem zwar mit Fittkos Hilfe die Flucht gelang, der sie aber nicht überlebte und der seinem Leben selbsttätig ein Ende setzte in dieser anderen, immer noch vielversprechenden Welt. Wer aber tötet eigentlich einen Menschen, wenn er sich selbst tötet? Die Zeit tötet ihn nicht. Das können nur Menschen als Teilhaber der Zeit, die sie mit anderen verbindet. Ich gehe diesen Weg, und er denkt mit, geht mir voraus. Dem Weg ist äußerlich nichts eingeschrieben. Dennoch hat seine innere Beschriftung Anteil an meiner Lunge und dem Drängen der Fragen, die sich im Gehen herausschälen. Alles, was ich hier innen und außen sehe, stelle ich mir zusammen mit dem Weg vor, der mir zuarbeitet. Der Weg und ich, wir sind ein Zusammen-Sehen. Ein schwerer Anstieg, der immer kälter werdende Wind, rutschiges Gelände, der nasse Boden, von den starken Regenfällen der letzten Tage unwägbar geworden, all das ist Sprache für den ausgesetzten Menschen, eine Sprache, die Punkte, Kommas und Semikolons verweigert. Ob das der Grund dafür ist, dass einige Menschen auf ihrer gefährlichen Flucht kurz vor dem Übergang nach Spanien, in der Nähe der aufmerksamen Ohren der Grenzwachen, sich selbst in Gefahr brachten, indem sie lautstark nach Äpfeln, Kuchen oder anderen weit entfernten und wie in einen anderen Kosmos ausgelagerten Dingen verlangten? Obwohl Lisa Fittko ihnen vorher eingehend erklärt hatte, an welcher Stelle des Fluchtweges nicht einmal gesprochen, geschweige denn geschrien werden durfte, zerriss etwas in ihnen, eine feine Naht ging auf, die sie in ihrer Beherrschung Wochen und Monate beschützt hatte. Der Ausbruch aus der Syntax der Gewalt, er klingt jetzt für mich angesichts der Gefahr, der diese Menschen ausgesetzt waren, wie ein Akt der notwendigen Selbstermächtigung. Selbst um den Preis der Zerstörung einer Freiheit, die sie mit jedem Schritt ersehnten, war es der Ausdruck ihrer Freiheit. Das Gewicht des wachsenden Lebens in mir tragend, kann ich es mir, umringt von den Gipfeln der Berge und mit dem Blick auf ein immer weiter sich entfernendes, hinter unserem Rücken zurückbleibendes Meer mit seinen kleinen, mediterranen Städtchen, Häfen, Cafés, plötzlich vorstellen – diesen unermesslichen Wunsch nach Selbstbestimmung, die in ihm enthaltene eigene Autonomie, auch in Gefahr der eigenen Stimme Ausdruck geben zu wollen. Merkwürdigerweise denke ich jetzt, ich selbst hätte aber wohl eher versucht, mich vernünftig zu verhalten. Vernünftig, was meine ich damit? Vielleicht still und leise. Dabei ist immer in meinem Leben alles in die richtige Bewegung gekommen, wenn ich mich, mit dem Maßstab eben dieses Vernünftigen gemessen, vollkommen unvernünftig, unlogisch, unberechenbar verhalten habe. Wir können keinen Weg dauerhaft gehen und im Gehen zeitgleich von oben, aus der dahinschwebenden weiten Luft der Vögel, auf uns selbst sehen. Wir müssen manchmal aufbrechen, ohne zu denken, der Aufbruch muss die Regie über das Ziel und den Blick auf unsere Füße übernehmen. Und uns die Gefahren vergessen lassen. So jedenfalls erscheint es mir am Anfang der achtzehn Kilometer langen Strecke durch die Pyrenäen, die uns noch bevorsteht. Später, viel später, erreicht mich die wirksame Wahrheit der Schritt um Schritt mitzählenden Lunge. Sie hat sich bei jedem Auftreten und Weitergehen Fragen erlaubt, sie in der inneren Zeit wie Fische in einem Netz gesammelt, und diesen Vorrat an Fragen und Zahlen, diese offenen Fragen und Zahlen, die zu Lebensfragen und Lebenszahlen werden können, hat sie mir für die nächsten Jahre mit auf den Weg gegeben und gezeigt, dass das eigene Leben nie außerhalb der Welt da ist, sondern immer in ihr wirkt, sie abbildet und das Große im Kleinen spiegelt. Auf dem Vogelweg singen alle Stimmen der Erinnerung mit. Er kann und muss allen äußeren Zielen trotzen und kann nur im Innen aufleuchten. Der Vogelweg ist ein Seelenweg, ein Bindeglied zwischen Himmel und Erde, er singt seine Schneise zwischen Göttern und Menschen ein, so leise, wie die Farben am Morgen mit dem Aufgang der Sonne sich ins Erwachen bringen. Der Vogelweg ist der Weg, nach dem man uns richten wird jenseits aller Geschäfte, der Stimmschall, der uns einschreibt in sich, weil wir sein Buch sind im Tal der Entscheidung. Sonne und Mond verdämmern, die Sterne raffen ihren Strahl ein. Unzugehörige durchziehen deinen Weg nicht mehr, jetzt aber bist du durch und durch verletzlich. Gerade weil du keine Feinde hast, bist du eine sichtbare Spur im Leben. Vogelweg, labe mein Herz und befreie es von falschen Bedeutungen. Denn jetzt, da du da bist, wo du vorher nicht warst, sehe ich, dass ich dich immer nur erahnt, oft ersehnt, mit dem Kopf herbeigerufen habe, du aber warst nicht zu erzwingen und ohne die stille und doch so einfallsreiche Mitarbeit der Füße warst du uneinnehmbarer Fels hinter allen Welten und Alten Träumen. Jetzt zieht deine Weltzeit ein in die Füße, die einem Quell gleich den Akaziengrund trinken. Es gibt keine probierbare Gnade. Gnade ist unteilbar, allwaltend nimmt sie sich alles, was ihr gehört – du kannst in ihr Schlaf und Erholung und auch atmende Tage in einem Semikolon finden. Und so sieht jetzt der Blick hinter dem Blick, dass kein Leben von einem anderen Leben getrennt ist, dass kein Weg von einem anderen Weg getrennt ist, dass keine Not von einer anderen Not getrennt ist, dass kein Aufblitzen der Wahrheit in einem Einzelnen getrennt ist von der aufblitzenden Wahrheit eines anderen Einzelnen. Wo diese Arbeit der Vögel beginnt, dort hat das eindimensionale und Besitzansprüche stellende Ich an Einfluss verloren. Ein weiter gefasstes, großzügigeres Selbst stellt uns seine Offenheit zur Verfügung, und Langmut und Huld des Lebens sind Nahrung dann im Wogen der Halme, die wir erblicken. Es...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2022 • Banylus-sur-Mer • eBooks • Erinnerungen • Flucht • Frankreich • Freiheit • Hannah Arendt • Identität • irmtraud-morgner-literaturpreis 2023 • Manès-Sperber-Preis • Neuerscheinung • Poetik • Portbou • Preisgekrönte Autorin • Pyrenäen • Reflexion über unsere Zeit • Roman • Romane • Spanien • Walter Benjamin • Wanderung • Widerstand
ISBN-10 3-641-23055-1 / 3641230551
ISBN-13 978-3-641-23055-5 / 9783641230555
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