Der Rächer von Mile End (eBook)

Ein Daniel-Pitt-Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
416 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-28181-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Rächer von Mile End - Anne Perry
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London, 1911: In einem äußerst verrufenen Viertel muss Daniel Pitt eine Leiche identifizieren - es handelt sich um einen Kollegen seiner Anwaltskanzlei, Jonah Drake, der offensichtlich gewaltsam zu Tode kam. Da die Polizei merkwürdig wenig Interesse an der Aufklärung der Tat zeigt, nimmt Daniel kurzentschlossen die Ermittlungen in die eigene Hand. Doch zwei Zeugen, die er befragt, werden kurz darauf ebenfalls ermordet. Als Daniels Mutter entführt wird, ahnt der junge Anwalt, dass er dem Täter bereits zu nahe gekommen ist. Einem Täter, dessen Beziehungen und dunkle Machenschaften bis in die höchsten Kreise der Politik und Wirtschaft hineinreichen ...

Die Engländerin Anne Perry, 1938 in London geboren, verbrachte einen Teil ihrer Jugend in Neuseeland und auf den Bahamas. Ihre historischen Kriminalromane begeistern ein Millionenpublikum und gelangten international auf die Bestsellerlisten. Anne Perry verstarb 2023 in Los Angeles.

KAPITEL 1

Daniel machte sich Sorgen. Toby Kitteridge ließ schon beinahe eine volle Stunde auf sich warten, was seiner Art in keiner Weise entsprach. Gewiss, er war nicht besonders ordentlich, so sehr er sich auch bemühte. Seine Haare standen immer zu Berge, er schien in keinem Geschäft Hemden zu finden, deren Ärmel lang genug waren, um seine knochigen Handgelenke zu bedecken, und gelegentlich trug er zwei verschiedenfarbige Socken, ohne es zu merken, aber mit der Pünktlichkeit nahm er es sehr genau. Er verspätete sich nie. Seiner Ansicht nach war so etwas nicht nur unhöflich, sondern auch ein Zeichen von Unfähigkeit und für einen Anwalt unentschuldbar.

Daniel warf einen Blick auf die Wanduhr in seinem Büro. Acht Minuten vor zehn.

Das zweimalige leise Klopfen an der Tür ließ ihn vermuten, dass der Kanzleidiener Impney davorstand, und so sagte er: »Herein.«

Der Mann trat ein und schloss die Tür hinter sich. Diesmal lag statt des üblichen Ausdrucks der Verbindlichkeit unübersehbar Verärgerung in seinen Zügen.

»Was gibt es?«, erkundigte sich Daniel in schärferem Ton, als er beabsichtigt hatte.

»Ein Polizeibeamter wünscht Sie zu sprechen, Mr. Pitt.«

»Hat er ausdrücklich nach mir gefragt, oder will er einfach zu jemandem aus der Kanzlei?«, sagte Daniel.

»Nein. Er möchte Sie persönlich sprechen. Er hat eine Ihrer Visitenkarten.«

Kitteridge. Dem Kollegen musste etwas zugestoßen sein. Daniel schluckte. Bemüht, seiner Stimme einen festen Klang zu verleihen, sagte er: »Lassen Sie ihn herein.«

»Ja, Sir.« Impney verließ den Raum und öffnete kurz darauf die Tür erneut.

Ein junger Polizeibeamter, der äußerst bekümmert zu sein schien, trat ein. »Mr. Pitt?«, fragte er.

Mit belegter Stimme gab Daniel zurück: »Ja?«

»Ich bedauere, Sie behelligen zu müssen, Sir, aber man hat diese Karte gefunden.« Er griff in eine seiner Taschen und holte die Karte hervor.

Ein flüchtiger Blick genügte Daniel – es war seine. »Woher haben Sie die?«

Der Mann trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Man hat sie in der Manteltasche eines Mannes gefunden, der unglücklicherweise tot ist, Sir. Erst hatten wir angenommen, es sei seine eigene, aber einer unserer Kollegen kennt Sie vom Sehen und hat gesagt, dass Sie das nicht sind.«

»Und Sie wissen nicht, um wen es sich handelt?«

»Nein, Sir. Würden Sie bitte mitkommen und sich ihn ansehen? Mit großer Wahrscheinlichkeit ist es jemand, den Sie kennen.«

Daniel erhob sich. Er merkte, dass er ein wenig unsicher auf den Beinen war.

»Fehlt Ihnen auch nichts, Sir?«, erkundigte sich der Beamte besorgt.

»Es geht schon, danke«, gab Daniel zurück. Er straffte die Schultern.

Der junge Polizist war sichtlich erleichtert. Mit einem Blick zum Kleiderhaken an der Wand sagte er: »Draußen ist es schon recht warm, Sie brauchen keinen Mantel.«

»Es ist ziemlich weit«, erwiderte Daniel. Von Lincoln’s Inn Fields, wo die meisten der führenden Anwaltskanzleien Englands und mithin auch die Sozietät fford Croft and Gibson ihre Büros hatten, bis zum Leichenschauhaus der Pathologie waren es gut eineinhalb Kilometer.

»Ich habe die Droschke warten lassen, mit der ich gekommen bin, Sir.« Der Beamte öffnete die Tür und trat auf den Gang hinaus.

Daniel ließ den Mantel am Haken hängen und folgte dem Mann, nachdem er Impney mitgeteilt hatte, er werde mitfahren, um der Polizei in einer dringenden Angelegenheit behilflich zu sein. Er wollte nicht ausdrücklich sagen, worum es ging; wie es aussah, machte sich Impney ohnedies bereits genug Sorgen.

»Sehr wohl, Sir.« Mit leicht schräg gelegtem Kopf fügte Impney hinzu: »Ich werde Mr. fford Croft informieren.«

Daniel dankte ihm und folgte dann dem Beamten zu der Motordroschke, die am Bordstein wartete. Es handelte sich um eines der neumodischen schwarzen Automobile, die nach und nach die Pferdedroschken verdrängten. Im Mai des Jahres 1911 lag der Übergang ins neue Jahrhundert schon eine ganze Weile zurück, und statt König Edward regierte inzwischen Georg V.

Unter anderen Umständen hätte Daniel die Fahrt genossen. Er war ein Freund des Fortschritts, empfand aber angesichts der Situation nicht das geringste Vergnügen. Ebenso gut hätte er auf einem Gemüsekarren sitzen können. Da er nicht mit dem Polizisten reden wollte, hielt er den Blick starr aus dem Fenster gerichtet. Allerlei Ängste erfüllten ihn. Ihm kamen Erinnerungen an Kitteridge, der einige Jahre vor ihm in die Kanzlei eingetreten war und unendlich viel mehr wusste. Seine Auftritte vor Gericht waren bemerkenswert. Zu Beginn einer Verhandlung fiel schlagartig jegliche Nervenanspannung von ihm ab, und bisweilen gelang es ihm sogar, sich zu ausgesprochen brillanten Plädoyers zu steigern. Außer Daniel wusste niemand, dass er vermutlich unterschiedliche Socken trug und vor lauter Zerstreutheit vergessen hatte zu frühstücken. Sie beide hatten eine ganze Reihe von Fällen gemeinsam gelöst. Manche hatten sich einfach mit Verweis auf die einschlägigen Paragrafen erledigen lassen, andere waren nicht nur verwickelt gewesen, sondern hatten auch die Gefühle aller Beteiligten tief aufgewühlt. Sie hatten gemeinsam Erfolge feiern dürfen, aber auch Niederlagen einstecken müssen, und oft genug hatten sie bis tief in die Nacht über den Akten gebrütet. Bestimmte Fälle mit tragischem Ausgang würde keiner der daran Beteiligten vergessen, ebenso wenig wie die, bei denen Menschen in großer Gefahr geschwebt hatten.

Vorhin noch hatte Daniel sich über Kitteridges Unpünktlichkeit geärgert. Jetzt empfand er eine tiefe Angst. Was hatte er am Vortag als Letztes zu ihm gesagt? Hoffentlich nichts, was er bis an sein Lebensende würde bereuen müssen, denn jetzt schien es zu spät zu sein, diese Worte zurückzunehmen.

Wie um seine Befürchtungen zu unterstreichen, saß die Droschke im dichten Verkehr fest. Um sich herum sah Daniel außer den neumodischen Automobilen Pferdefuhrwerke aller Art: neben Droschken und zweirädrigen Karren auch Tafelwagen, deren Kutscher sich gegenseitig wüst beschimpften. Er war in Eile, konnte es nicht erwarten, an Ort und Stelle zu sein, doch er musste sich damit abfinden, dass es nur gleichsam im Schritt vorwärtsging. Unruhig rutschte er auf seinem Sitz hin und her. Der Beamte warf ihm einen Blick zu, sagte aber nichts. Fast hätte Daniel Entschuldigung gesagt, schluckte das Wort aber im letzten Augenblick herunter. Vermutlich gehörte es für den Polizisten zu den unangenehmsten Aufgaben seines Berufs, dass er Menschen zur Identifizierung eines Toten holen musste, den sie gekannt oder sogar geliebt hatten.

Endlich erreichten sie ihr Ziel. Der Wagen hielt an, der Beamte entlohnte den Fahrer und führte Daniel in das Gebäude, in dem es so durchdringend nach Karbol und scharfer Lauge roch, dass es ihm im Rachen brannte. Die Ausdünstungen des Todes hingen sogar noch in der Luft, nachdem man die Leichen hinausgebracht hatte.

Ein Angestellter kam herein und schloss die Tür leise hinter sich.

»Hier entlang, Sir«, sagte der Polizist und sah Daniel besorgt an.

Daniel nickte wortlos. Ihm war klar, dass der Ärmste tat, was er konnte. Er schätzte ihn auf Mitte zwanzig; sie waren also wohl beide annähernd gleich alt. Es ging durch eine Tür am Ende des Korridors, die in einen Vorraum führte. Dort sah Daniel etwas, was ihn wie ein Blitz traf. Der Schock ließ seinen Atem stocken. An einer Garderobenleiste hing ein Mantel mit einem auffallenden Karomuster. Unmöglich konnte es zwei Mäntel von so schreiender Hässlichkeit geben. Kitteridge hatte ihn erst vor Kurzem gekauft, und Daniel hatte sich zu der Behauptung hinreißen lassen, er beleidige das Auge. Was gäbe er jetzt darum, diese scherzhaft gemeinten Worte zurücknehmen zu können! Kitteridge stand mit jeder Art von Eleganz auf Kriegsfuß, und ganz davon abgesehen, dürfte es nicht einfach gewesen sein, für seine Figur überhaupt etwas Passendes zu finden.

Daniel merkte, dass ihn jemand am Arm fasste, und zwar so fest, als wolle er verhindern, dass er umfiel. Er wollte die Hand abschütteln, doch der Polizist ließ nicht los und führte ihn in den nächsten Raum.

Wie konnten Menschen nur in einer solchen Umgebung arbeiten? Jeder, der hierher gebracht wurde, hatte einmal gelebt, war Kind, Bruder, Gattin … oder Freund eines anderen gewesen.

Der Pathologe begrüßte ihn mit einem grimmigen Lächeln. Daniel hatte den Mann früher schon einmal gesehen, doch sein Name fiel ihm nicht ein. Es war jetzt auch nicht wichtig.

»Danke, Sir«, sagte der Mann sanft. »Wenn Sie sich bitte einmal das Gesicht ansehen würden. Sind Sie bereit?«

Nein, das war er keineswegs, und er würde es nie sein. Er bemühte sich um sein seelisches Gleichgewicht. Auf keinen Fall durfte er seinen Gefühlen nachgeben. »Ja …«

Der Arzt zog das von Blut getränkte Laken vom Gesicht des Toten. Daniel zwang sich hinzusehen. Er erkannte den Mann sofort, obwohl klaffende Wunden, in denen das Blut dick geronnen war, den Hals und beide Wangen entstellten. Wer da lag, war nicht Kitteridge, sondern Jonah Drake, seit vielen Jahren in der Kanzlei tätiger Teilhaber der Sozietät, ein äußerst erfahrener Jurist, dessen Plädoyers und Beweisanträge vor Gericht ihresgleichen suchten. Auch wenn Daniel nie richtig mit ihm warm geworden war, konnte er ihm seine herausragenden Fähigkeiten nicht absprechen. Er musste sich eingestehen, dass er ihn widerwillig bewundert hatte.

Er schämte sich wegen der tiefen Erleichterung, die er darüber empfand, dass nicht...

Erscheint lt. Verlag 10.8.2022
Reihe/Serie Daniel-Pitt-Serie
Daniel-Pitt-Serie
Übersetzer K. Schatzhauser
Sprache deutsch
Original-Titel Death With a Double Edge (Daniel Pitt 4)
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Historische Kriminalromane
Schlagworte 2022 • Anwalt • Daniel Pitt • eBooks • Großbritannien • Historische Kriminalromane • historischer Krimi • Historische Romane • historisches London • Justizkrimi • Krimi • Kriminalromane • Krimis • London • Neuerscheinung • Thomas Pitt • Viktorianisches London
ISBN-10 3-641-28181-4 / 3641281814
ISBN-13 978-3-641-28181-6 / 9783641281816
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