Aufruhr der Meerestiere (eBook)
304 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-21560-6 (ISBN)
Luise ist klug, Luise ist unabhängig, Luise ist eine Insel. Als Meeresbiologin hat Luise sich einen exzellenten Ruf erarbeitet, ihr Spezialgebiet: die Meerwalnuss, eine geisterhaft illuminierte Qualle im Dunkel der Ozeane. Als Luise für ein Projekt mit einem renommierten Tierpark nach Graz reisen soll, zögert sie nicht lang. Doch Graz, das ist auch ihre Heimatstadt, das ist die Wohnung ihres abwesenden und plötzlich erkrankten Vaters. Und das ist die Geschichte einer jahrelangen Sprachlosigkeit und Fremdheit zwischen ihnen.
Soghaft und strömend erzählt Marie Gamillscheg von der allmählichen Befreiung aus den Zwängen der eigenen Kindheit, des eigenen Körpers und aus den Gesetzen, die andere für einen gemacht haben. Es ist zugleich der Versuch, die Unmöglichkeit einer Beziehung zu erfassen: zwischen Mensch und Tier, Mann und Frau, Vater und Tochter.
Marie Gamillscheg, geboren 1992 in Graz, lebt als freie Autorin in Berlin. Veröffentlichungen in zahlreichen literarischen Zeitschriften und Magazinen. Ihr Roman 'Alles was glänzt' wurde für den aspekte-Literaturpreis nominiert und mit dem Österreichischen Buchpreis für das beste Debüt 2018 ausgezeichnet. Mit ihrem zweiten Roman 'Aufruhr der Meerestiere' landete sie auf der ORF-Bestenliste und auf der SWR-Bestenliste.
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In Schillings Tierwelt waren alle Pflanzen und Tiere stolz oder fesch oder fröhlich gewesen. »Die stolze Natur zeigt sich in der Morgenröte« oder »die fröhlichen Murmeltiere« hieß es dort, »der stolze weiße Tiger« und »munter und fröhlich springen die Kinder um ihre Mutter herum«. Die Störche waren Verlobte, die einen Hochzeitstanz auf dem Dach aufführten, der kurz darauf auftretende Rivale war der eifersüchtige Geliebte. Meistens stand Schillings Co-Moderatorin Franzi, die damals im gleichen Alter wie Luise gewesen war, zu Beginn der Sendung vor einem Gehege des Tierparks und wunderte sich über die Eigenart eines Tiers, stellte dazu eine Frage in die Kamera, Schnitt, Schilling spazierte durch einen Wald/Urwald/durch den Tierpark und antwortete darauf. War er ebenfalls im Tierpark, war er meist am Ende seiner Antwort bei ihr angelangt, die beiden nebeneinander (er so groß!), sie stellte noch eine Nachfrage, kurze Antwort, Schnitt, Tierbaby der Woche. Jeden Samstagvormittag hatten Luise und ihr Bruder die Sendung gesehen, während die Eltern im oberen Stockwerk noch schliefen, so nah wie nur möglich am Bildschirm und die Lautstärke auf der leisesten Stufe. Hier lernte Luise, wer auf dieser Welt wen zu jagen und wen zu paaren hatte, warum die männlichen Vögel meist die schöneren Farben hatten und warum die australische Krabbenspinne die beste Mutter war. Schilling sprach auch die Texte aus dem Off. Ein dunkler Klang, der über die weichen Laute hinwegknatterte, der sich stets anhörte, als spräche ein ganzer Chor exakt übereinandergelegter Stimmlagen unisono. »Die Stimme der Natur« hieß es über Schilling, oder »Die Stimme einer Generation«. Auch Luise verband sie mit einem gewissen Gefühl. Eines, das mit dem gebannten Blick auf den Fernseher zu tun hatte, mit dem Flügelausbreiten eines Habichts im Sturzflug zu aufbrausenden Orchestertönen, mit einer Welt, die man nach einer halbstündigen Doku in seiner Gänze und Schönheit erfasst hatte und die keine Fragen offenließ. Wenn Luise sich bei den Schulgottesdiensten langweilte, dann stellte sie sich Gott mit der Stimme Schillings vor und mit dem immer roten Kopf des Pfarrers. Er spazierte mit ihr zwischen Bäumen hindurch und erklärte ihr den Nahrungskreislauf des Waldes. Sein weißes Gewand verfing sich nie in den Büschen. Ein ähnliches trug Luise selbst bei der Aufführung einer griechischen Sage in der Schule. Sie wusste nicht mehr, welche Sage das war. Nur, dass das Gewand ein weißes Leintuch war, mit einem schmalen, geflochtenen Ledergürtel in der Bauchmitte geschnürt, Luise noch so klein, dass sie eine Schleppe hatte. Wie eine viel zu junge Braut sah sie aus.
In jener Zeit gab es einen Unfall im Tierpark. Luise war zehn, elf, als eine Pflegerin von einem Leoparden getötet wurde. Die Pflegerin bereitete gerade das Fleisch für die Fütterung vor, als der Leopard sie in der Schleuse zwischen Pflegebereich und Gehege angriff. Sie hatte vergessen, eine Tür zu schließen. Schilling wurde von Tierparkbesucherinnen informiert und lief sofort zum Raubkatzenpark. Er versuchte, den Leoparden wieder zurück in das Gehege zu treiben, dabei wurde er selbst attackiert und verletzt. Die Pflegerin war bereits tot. Auf dem Titelblatt der Zeitung war am nächsten Tag ein Foto von der Krankenliege vor dem Tierparkeingang abgedruckt, Schillings weißes Haar und die glatten, dicken Wangen gut zu erkennen. Ein Paparazzifoto, wie heimlich aus den Büschen geschossen. Damals das Layout der Lokalzeitung noch in dicken, serifenlosen Lettern: LEOPARDEN-ATTACKE IM ZOO: SCHILLING SCHWER VERLETZT
Aber er ist doch nicht tot!
rief die Mutter, als Luise am Frühstückstisch nicht aufhörte zu weinen. Rief es mit dem Rücken zu ihr, während sie die kalte Butter mit wenigen Strichen auf einer Scheibe Brot verteilte und in eine Jausenbox packte. Luise weinte recht häufig damals. Schließlich war sie zehn, vielleicht elf, und es gab viele Gründe, um zu weinen. Vor Wut, aus Angst, zum Beispiel wenn nachts die kopfgroßen Spinnen über die Bettdecke ihr in den Kragen kriechen wollten. Diesmal weinte sie, weil sie keine Antwort wusste. Ernst und traurig weinte sie über ihrer Schüssel, in der sich die Cornflakes in der warmen Milch zerfaserten, auch im Kopf nur zermalmte Worte, die auf einmal in den Magen stürzten und weiter noch, in die Zehen und Fingerspitzen, bald eine Hitze, die ihr die Nagelbetten von den Nägeln hob und in immer stärkeren Wellen zurück hinauf bis in den Kopf schlug. Es brannte. Da, hinter den Ohren, und am Nacken, auch die rauen Stellen an den Händen.
Über den Unfall hieß es später: Es war menschliches Versagen. Über die namenlose Pflegerin hieß es: Sie hatte einen Beruf, der ihre Berufung war.
Bald danach wurde Schillings Tierwelt abgesetzt. Franzi spielte später die schlaue, tierliebende Nelly in der Serie Die Schröttergassenbande, in der fünf Jugendliche verschiedene Abenteuer erlebten, und machte Werbung für eine Beratungshotline für Jugendliche. Einige Jahre spielte sie noch in Serien und Fernsehfilmen mit, doch über die Rolle der Tochter des Hauptdarstellers wuchs sie nicht hinaus. Vor kurzem hatte Luise im Internet nach ihr gesucht. Auf dem aktuellsten Foto, das Luise fand, hatte sie pink gefärbte Haarspitzen und trug eine ausgefranste Jeansjacke über einem orangefarbenen, nabelblitzenden T-Shirt, wie Nelly damals.
*
Es gefiel Luise, Menschen beim Essen zu beobachten. In der Straßenbahn aß jemand ein Croissant aus einer Papiertüte heraus. Ein Mann hielt ein ordentliches, quadratisches Brot in beiden Händen, von dem er in regelmäßigen Zeitabständen abbiss. Während er langsam, sehr langsam, kaute, schaute er auf den Inhalt zwischen den beiden Brotscheiben, als gäbe es darin stets etwas Neues zu entdecken. Zum Glück hatte Luise nicht gefrühstückt, ihr Magen knurrte angenehm. Sie erinnerte sich, hier in der Straßenbahn, auf dem Weg zum Tierpark: ein Scheidungskinderausflug mit dem Vater. Wie er sich von der Straßenbahn in die Kurven legen ließ, Luise und ihr Bruder saßen vor ihm. Der Vater, wie er klagte, wie viel ihn die neue Wohnung kosten würde. Luise, die immer lauter vom Farbwechsel der Pantherchamäleons erzählte: nicht zur Tarnung, eher ein Gefühlsausdruck, aus Stress, aus Angst. Der Bruder, der Vorschläge zur Einrichtung machte.
Erinnerst du dich, sagte sie zum Bruder am Telefon, wie oft wir damals im Tierpark waren. Der Bruder schwieg. Er saß in einem Auto in einer anderen Stadt, Würzburg glaubte sie, Würzburg oder Nürnberg.
Und jetzt treffe ich gleich Schilling, sagte Luise, weißt du noch?
Als sie aus der Straßenbahn ausstieg, sah sie gleich die ersten Hinweisschilder, die die Meter zum Tierpark auswiesen, fünfhundert Meter, vierhundertfünfzig Meter, ein Panda lud sie ein, ihn zu besuchen und sich für den Schutz seiner Artgenossen in China einzusetzen, auf einem anderen Plakat zwei Giraffen, die ihr von ihrer Heimat erzählen wollten. Als seien sie wirklich mehr Tierschutzorganisation als Freizeitpark, sagte sie zu ihrem Bruder, wie sie sich die Schuld weg- und die Verantwortung zuschreiben, das ist doch eigentlich recht geschickt.
Ruf mich nach deinem Treffen mal in Ruhe an, sagte der Bruder.
Sie war früh dran. Sie ging ins Bistro auf der gegenüberliegenden Straßenseite, bestellte einen Kaffee, schwarz, klein, und setzte sich an einen Tisch am Fenster. Von hier aus konnte sie auf den Eingang des Tierparks sehen. Zwei Sonnen hingen dort über den Kassen, eine davon war verlässlicher, immergelb, immerstrahlend. Sie versuchte, sich weiter an die Ausflüge in den Tierpark zu erinnern. Wollten der Bruder und sie in den Tierpark, oder war es der Vorschlag des Vaters gewesen? Standen sie lange vor den einzelnen Gehegen, aßen sie etwas an den Essensständen? Ob der Vater ihr damals noch in die Augen sah? Aber Luise konnte nicht einmal sagen, wie oft sie wirklich hier gewesen waren oder welche Tiere sie gesehen hatten. Luise und ihr Vater. Sie hatten sich nicht im Laufe der Zeit verloren, hatten sich nie gegenübergestanden und gemerkt, dass sie nicht mehr wussten, wie miteinander zu sprechen war. Sie hatten sich der gemeinsamen Sprache irgendwann bewusst verweigert. Luise teilte ihren Kummer nicht, wenn sie etwas quälte. Sie teilte Kummer nur, wenn sie ihn damit noch einmal reizen wollte bei den wenigen Graz-Besuchen, dann erzählte sie ihm von Männern, er sagte darauf: Dein Vertrag läuft doch nur zwei Jahre, was machst du danach? Ob ihnen das In-die-Augen-Schauen zugleich mit dem Sprechen abhandengekommen war, fragte Luise sich jetzt. Und wer hatte damit angefangen? Auf einige zurechtgeschnittene Sport- und Wettersätze hatten sie sich in den letzten Jahren für den Notfall geeinigt, wenn der Bruder nicht dabei war. Noch einfacher war es im Winter, wenn zum Wetter die Schneeprognosen hinzukamen und man von dort ganz einfach zum Skifahren gelangte. Einfach nur schweigen konnten sie nicht. Schweigen hieß die Anwesenheit des anderen in seiner Gänze zu ertragen.
Habe alles gefunden in der Wohnung. Ist bei dir alles in Ordnung? LG
Sie faltete den Orientierungsplan des Tierparks auf. Afrikanische Elefanten. Giraffen, Berberaffen. Eisbären, Riesenlaubfrösche, Seelöwen, Zwergflusspferde, Amurtiger. Mit dem Zeigefinger fuhr Luise die gekennzeichneten Wege nach. Sie lenkte ihn links am Löwengehege vorbei, geradewegs auf das Tropenhaus zu, bog knapp davor noch zu den Elefanten ab, am Imbiss vorbei, zum Raubkatzenpark. Aber auch wenn Luises Finger den Tierpark über den Fußweg am Nordeingang betrat, Antilopen, Kärntner Brillenschafe, Luchse, scheu in die Bäume gemalt: keine Leoparden. Luise stellte sich vor, dass sie ausgebrochen und in den...
Erscheint lt. Verlag | 8.3.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2022 • Alles was glänzt • Debütpreis des Österreichischen Buchpreis • eBooks • Graz • Longlist Deutscher Buchpreis 2022 • Meeresbiologie • Meerwalnuss • Neuerscheinung • Österreich • Österreichische Gegenwartsliteratur • Quallen • Roman • Romane • SWR Bestenliste 2022 |
ISBN-10 | 3-641-21560-9 / 3641215609 |
ISBN-13 | 978-3-641-21560-6 / 9783641215606 |
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