Bloggerin Viola lebt jeden Tag als könnte es ihr letzter sein - schließlich hat in ihrer Familie noch keine Frau ihren 35. Geburtstag gefeiert. Während einer Rucksacktour durch Kanada hat sie einen Unfall. Doch als sie im Krankenhaus erwacht, ist sie 35 und die Zukunft liegt plötzlich vor ihr. Krankenschwester Skye Cameron lädt sie ein, sich bei ihr auf Whale Island zu erholen. In Skyes Haus lebt seit Kurzem auch ihr jüngster Bruder, der Schriftsteller Glenn. Noch nie hat sich Viola bei jemandem so wohl gefühlt wie bei dem schüchternen aber attraktiven Glenn. Sie kann sich bald gar nicht mehr vorstellen, die Insel zu verlassen. Doch ist der Familienfluch wirklich gebrochen? Viola ahnt nicht, dass die Lösung auf der Insel selbst zu finden ist.
Miriam Covi wurde 1979 in Gütersloh geboren und entdeckte schon früh ihre Leidenschaft für zwei Dinge: Schreiben und Reisen. Ihre Tätigkeit als Fremdsprachenassistentin führte sie 2005 nach New York. Von den USA aus ging es für die Autorin und ihren Mann zunächst nach Berlin und Rom, wo ihre beiden Töchter geboren wurden. Nach vier Jahren in Bangkok lebt die Familie nun in Brandenburg. Zur zweiten Heimat wurde für Miriam Covi allerdings die kanadische Ostküstenprovinz Nova Scotia, in der sie viele Sommer ihrer Kindheit und Jugend verbringen durfte und wo sie heute auch immer wieder Inspiration für neue Romane findet.
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Viola
Mein erster Gedanke, als ich die Augen aufschlage, ist: So sehen Engel also aus. Sie müssen gar keine langen blonden Locken haben wie auf kitschigen Bildern. Nein, dieser Engel hat kurzes, recht verstrubbeltes rotes Haar und bernsteinfarbene Augen.
»Hallo, Viola«, sagt der Engel und lächelt mich freundlich an.
Der Engel kennt meinen Namen. Klar, das ist wohl nicht verwunderlich. Engel müssen sicherlich von Berufs wegen alles über uns wissen.
»Hallo«, krächze ich mühsam, weil sich mein Mund staubtrocken anfühlt.
»Wie geht es dir?« Der Engel mustert mich eingehend, und ich überlege, wie es mir geht. Mein Kopf tut weh, mein Oberkörper auch, und mir ist schwindelig. Irgendwie … fühlt sich das hier gar nicht himmlisch an. Der Sicherheitsgurt ist zu straff, er lässt mich kaum atmen. Mühsam ringe ich nach Luft.
Stopp. Sicherheitsgurt? Irritiert will ich nach unten sehen, aber mein Kopf protestiert mit pulsierenden Schmerzen. Gequält stöhne ich auf.
»Bitte nicht bewegen«, sagt der Engel rasch, in hörbar besorgtem Tonfall. »Hilfe ist unterwegs. Du solltest im Auto sitzen bleiben, bis die Sanitäter dich durchchecken können.«
»Sanitäter?«, stammele ich mühsam und sehe den Engel entgeistert an. Was denn für Sanitäter? Die haben doch nun wirklich nichts im Jenseits verloren!
Während der Engel nur nickt und mich beruhigend anlächelt, dämmert mir ganz langsam eine unglaubliche Tatsache: Ich bin nicht tot. Oder? Zögernd bewege ich meine Finger. Dann einen Fuß. Den anderen. Alles da. Alles funktioniert. Außerdem – wenn ich tot wäre, hätte ich ganz sicher keine Schmerzen.
»Sie sind kein Engel«, stelle ich mit belegter Stimme fest und mustere das Gesicht der Rothaarigen fassungslos. Ihre Augen werden von vielen Fältchen umrahmt und wirken irgendwie … weise. Jetzt erkenne ich das Silbergrau an ihren Schläfen und zwischen den leuchtend roten Strähnen. Spontan frage ich mich, ob ich in einigen Jahren auch so aussehen werde, mit Silber in meinem roten Haar, das nicht ganz so leuchtend ist wie das dieser Frau.
Moment mal – habe ich gerade wirklich gedacht‚ in einigen Jahren? Nein … bloß nichts überstürzen, Viola! Nur, weil du nicht tot in diesem Wrack klemmst, heißt das noch lange nicht, dass du die Chance haben wirst, graue Haare zu bekommen!
Die Fremde lacht amüsiert auf. »Ich soll kein Engel sein? Oh, das ist wohl Ansichtssache, meine Liebe. Manche sagen ja, mache sind anderer Meinung. Aber für alle bin ich Rae MacLaughlin, die fahrende Bibliothekarin.«
Ein paar Herzschläge lang mustere ich die Rothaarige sprachlos, und da wird auch sie wieder ernst und hakt sanft nach: »Du dachtest wirklich, du seist tot, hm?«
Ich muss schlucken, bevor ich leise wispere: »Ja.«
»Nun, ich kann dir versichern, meine Liebe, dass du noch einen Puls hast. Das habe ich eben selbst kontrolliert, als ich dich hier aufgefunden habe. Und du warst auch nicht lange ohne Bewusstsein, höchstens fünf Minuten. Ich habe nämlich aus der Ferne gesehen, wie die Lichter deines Wagens von der Straße abgekommen sind. Als ich hier eingetroffen bin, hat dein Auto mitten im Unterholz gesteckt. Nur gut, dass ich die Fahrertür aufbekommen habe, zwischen all diesen Ästen.«
Erneut versuche ich, meinen Kopf zu bewegen, um mich umzusehen, doch wieder protestiert mein Schädel mit Schmerzen, und so bleibe ich ergeben sitzen. Draußen ist es ohnehin zu dunkel, um etwas zu erkennen, nur die Scheinwerfer meines Mietwagens leuchten in das schwarze Unterholz, als wäre nichts geschehen.
Da kommt mit einem Schlag die Erinnerung zurück.
Der Elch.
Ich bin einer gewundenen Straße durch dichten Wald gefolgt, und hinter einer Biegung stand mit einem Mal dieser ausgewachsene Elchbulle mit eindrucksvollem Geweih vor mir. Ich weiß noch, dass ich gedacht habe: So geht es also zu Ende. Eine Kollision mit einem Elch. Wie passend, mitten in der kanadischen Wildnis. Ich bin auf die Bremse gestiegen wie noch nie in meinem Leben. Der Wagen schlingerte, ich riss das Lenkrad herum … das Unterholz kam auf meine Windschutzscheibe zugerast. Lautes Knirschen und Knacken und dann … Stille. Dunkelheit.
»Wo ist der Elch?«, frage ich heiser und sehe die Frau aus den Augenwinkeln an, ohne den Kopf zu drehen. Ein Lächeln flackert über ihr Gesicht.
»Es war also ein Elch, ja? Dachte ich es mir doch. Elche sind oft schuld an Unfällen in dieser Gegend. Keine Sorge, Kindchen, der Bursche ist längst über alle Berge. Du hast ihn schließlich nicht erwischt. Glaub mir, dein Auto sähe anders aus, wenn du mit ihm kollidiert wärst. Oder mit dem Baum dort.« Die Frau zeigt auf einen dunklen Schatten, der nur wenige Schritte von meiner Motorhaube entfernt aus dem Unterholz in die Höhe ragt. »Das dichte Gestrüpp hat dich zum Glück abgebremst, sonst wärst du gegen die Kiefer gerauscht.«
Erschüttert schließe ich kurz die Augen und atme tief durch, während ich an einen anderen Unfall denken muss. An ein anderes Auto, das nicht vom Unterholz abgebremst wurde. Das gegen einen Baum geprallt ist. An meine Mutter, die nicht das Glück hatte, fünfunddreißig werden zu dürfen.
Aber … noch bin ich auch nicht fünfunddreißig. Noch kann so viel passieren.
»Wie spät ist es?«, frage ich die Rothaarige. Wie hieß sie noch? Rae.
»Kurz nach einundzwanzig Uhr«, erwidert sie nach einem Blick auf ihre Armbanduhr. »Keine Sorge, die Ambulanz vom Seaside Hospital in Scott’s Harbour müsste bald hier sein, und die Feuerwehr und der Sheriff auch.«
»Hm«, murmele ich gedankenverloren. Dabei wollte ich gar nicht deshalb hören, wie spät es ist. Vielmehr wollte ich wissen, wie lange ich womöglich noch auf dieser Erde habe.
Drei Stunden bis Mitternacht.
Hat sich Esmeralda damals womöglich vertan? Dachte sie … ich würde dem Elch nicht ausweichen? Würde hier sterben, mitten im dichten Wald an der Ostküste Kanadas, in der Atlantikprovinz Nova Scotia? Oder … wird noch etwas geschehen, bis Mitternacht ist? Bis ich die Chance bekomme, tatsächlich fünfunddreißig zu werden?
Eine entfernte Sirene reißt mich aus meinen durcheinandergaloppierenden Gedanken. Und dann noch eine. Und noch eine. Himmel, ich habe wirklich einen ganz schönen Aufruhr in diesem stillen nächtlichen Wald verursacht! Was der Elch jetzt wohl macht?
»Ah, da sind sie ja«, sagt Rae mit einem zufriedenen Lächeln und nickt mir aufmunternd zu, bevor sie sich von mir abwendet und den rot und blau aufleuchtenden Lichtern entgegengeht, die nun den schwarzen Wald um uns herum erhellen.
Während sie sich von meinem Mietwagen entfernt und mich zurücklässt, den Blick auf den aufgeblasenen Airbag und die Windschutzscheibe mit dem Spinnennetz aus Rissen dahinter gerichtet, flackert plötzlich eine Frage durch meinen schmerzenden Kopf: Hat diese Rae mich eben bei meinem Namen genannt? Hat sie wirklich Viola zu mir gesagt? Woher … wie konnte sie wissen, dass ich so heiße? Liegt mein Pass hier herum? Aber nein, der steckt in den Tiefen meines Rucksacks, und der ist im Kofferraum. Und mein Führerschein ist in meinem Portemonnaie. Hat sie womöglich meine Handtasche geöffnet, um herauszufinden, wie ich heiße? Ganz vorsichtig und langsam drehe ich meinen Kopf ein wenig und spähe angestrengt zum Beifahrersitz. Meine Handtasche liegt im Fußraum, sie ist verschlossen. Es ist unmöglich, dass diese Rae von meiner geöffneten Fahrertür aus an mir vorbei bis in den Fußraum des Beifahrersitzes reichen konnte.
Aber … woher …? Oder … habe ich mir das nur eingebildet?
Ja, das wird es sein. So muss es sein. Um Himmels willen, ich habe doch hoffentlich kein schwerwiegendes Schädel-Hirn-Trauma?
Vielleicht sterbe ich doch noch, bevor ich fünfunddreißig bin, wispert die Stimme der Angst in meinem Kopf, die mich seit so vielen Jahren begleitet. Drei Stunden. Drei Stunden, in denen so viel passieren kann. Nur weil ich noch lebe, heißt das doch nicht, dass ich überlebe! Eine Hirnblutung vielleicht. Oder eine andere innere Verletzung, von der ich noch gar nichts ahne. Oder …
Schritte nähern sich, schwerere diesmal, das ist nicht Rae. Der Lichtkegel einer Taschenlampe scheint in meinen Mietwagen, und eine männliche Stimme fragt in ruhigem Tonfall: »Guten Abend, Ma’am, wie geht es Ihnen?«
»Ähm … ganz gut«, ächze ich leise. Soll ich sagen, dass ich Halluzinationen hatte? Noch ehe ich mich dazu durchringen kann, beugt sich der Sanitäter zu mir herein und sieht mich freundlich an.
»Das hören wir gern. Mal wieder ein Elch, hm? Cape Breton ist voller Risiken. Jetzt wollen wir mal sehen, wie es Ihrem Kopf geht, und dann holen wir Sie hier heraus. Können Sie sich denn an den genauen Ablauf des Unfalls erinnern?«
Ich beantworte die Fragen des Mannes und lasse mir in die Augen leuchten. Nach einer Weile redet er mit seinen Kollegen und den Feuerwehrleuten, die ich draußen um das Auto herumlaufen höre, und dann nickt er mir zu und sagt: »Also, dann wollen wir Sie mal aus dem Wagen holen, Viola.«
»Woher … kennen Sie meinen Namen?«
Das hatte ich ihm doch nicht gesagt! Ich habe ihm nur erzählt, dass ich aus Deutschland komme, dass ich vierunddreißig bin (noch!) und auf einer Rundreise durch Kanada war, von der Westküste bis zur Ostküste. Ehrlich gesagt hatte ich mich schon gewundert, dass er mich nicht nach meinem Namen gefragt hat.
»Den haben wir von Rae«, sagt...
Erscheint lt. Verlag | 13.10.2022 |
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Reihe/Serie | Whale-Island-Reihe | Whale-Island-Reihe |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2022 • Bay of Fundy • Bücher für den Urlaub • Cameron • Cameron Lodge • Cape Breton • Carley Fortune • eBooks • Ella Thompson • every summer after • Frauenromane • fünf sommer mit dir • Große Gefühle • Herbstroman • Hotel • Indian Summer • Kanada • Lake Paradise • Liebesgeschichte • Liebesromane • Manuela Inusa • Neuerscheinung • Neuerscheinungen 2022 • Romane für Frauen • Small Town Romance • Sommerlektüre • Sommerroman • Wale • Whale watching |
ISBN-10 | 3-641-27609-8 / 3641276098 |
ISBN-13 | 978-3-641-27609-6 / 9783641276096 |
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