Von einem Sohn dieses Landes (eBook)
240 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-44083-7 (ISBN)
James Baldwin, 1924 geboren, ist einer der bedeutendsten US-amerikanischen Schriftsteller. Sein bereits zu Lebzeiten vielfach ausgezeichnetes Werk umfasst Essays, Romane, Erzählungen, Gedichte und Theaterstücke. Er starb 1987 in Südfrankreich.
James Baldwin, 1924 geboren, ist einer der bedeutendsten US-amerikanischen Schriftsteller. Sein bereits zu Lebzeiten vielfach ausgezeichnetes Werk umfasst Essays, Romane, Erzählungen, Gedichte und Theaterstücke. Er starb 1987 in Südfrankreich.
Vorwort
LOVE BALDWIN
Mithu M. Sanyal
Ich habe einmal gewettet, dass es niemandem gelingt, ein Buch von James Baldwin zu lesen, ohne zu weinen. Zumindest gelingt es mir nicht. Meine Freundin Sandra meint, das läge daran, dass ich neidisch auf die glühende Schönheit von Baldwins Prosa bin. Natürlich bin ich das!
Neid im Sinne von Begehren.
Von so schreiben wollen wie.
Weil es das Nächstbeste ist, zitiere ich ihn ständig, zum Beispiel in meinem Roman »Identitti«, zum Beispiel folgende Stelle aus ebendieser Essaysammlung hier, in der Kinder in einem Schweizer Bergdorf Baldwin das N-Wort rufend hinterherlaufen, weil sie noch nie einen Schwarzen gesehen haben (allerdings durchaus die Schimpfworte dafür kennen):
»Wenn ich überhaupt reagierte, dann mit dem Bemühen, freundlich zu sein – da es (lange vor der Einschulung) vordringlich zur Erziehung des schwarzen Amerikaners gehört, Menschen dazu zu bringen, ihn zu ›mögen‹. Diese Lächle-und-die-Welt-lächelt-zurück-Masche funktionierte in dieser Situation ungefähr so gut wie in der, für die sie ersonnen worden war, nämlich gar nicht.«[1]
Diese Stelle stammt aus dem Essay »Fremder im Dorf«, in dem Baldwin gespenstisch großartig beschreibt, was es mit einem Menschen macht, wenn er nicht als Mensch wahrgenommen wird. Die Kinder rufen das N-Wort nicht mit derselben Intention wie amerikanische Kinder das tun würden, trotzdem fährt es ihm wie Eis unter die Haut (S. 211 als Service für alle, die in den aktuellen Debatten darüber, ob wir das N-Wort verwenden dürfen oder nicht, nach Inspiration suchen), ihr Interesse an Baldwin ist nicht feindlich, es ist nicht einmal unfreundlich, es hat nur nichts mit den Gefühlen zu tun, die wir mit unseresgleichen teilen.
»Schließlich kann niemand gemocht werden, dessen menschliche Geltung und Komplexität nicht anerkannt wurde oder werden kann. Mein Lächeln war lediglich ein weiteres unerhörtes Phänomen, das ihnen erlaubte, meine Zähne zu sehen – mein Lächeln sahen sie eigentlich gar nicht, und mir kam der Gedanke, dass niemand den Unterschied bemerken würde, wenn ich stattdessen die Zähne fletschte.«[2]
Aber ich will den Text hier gar nicht nacherzählen. Das kann Baldwin selbst besser. Und Sie können selbst lesen. Was kann ein Vorwort also leisten?
Es ist mein größenwahnsinniger Versuch, die Essenz dieser Essays zu erfassen und herauszufinden, was Baldwins Texte so besonders macht. Und zwar besonderer als andere brillante Essays anderer brillanter Autor:innen.
Deshalb war es eine solche Überraschung, als ich sie zu diesem Zweck wieder las und bemerkte, dass sie nicht ein Best-of seiner klügsten Gedanken sind, sondern Baldwins Autobiographie.
»Die Geschichte meiner Kindheit ist die übliche Schauergeschichte, die wir mit der nüchternen Feststellung übergehen können, dass ich sie ganz gewiss nicht noch einmal durchleben möchte. Damals hatte meine Mutter die leidige und mysteriöse Angewohnheit, Kinder zu kriegen. Waren sie geboren, übernahm ich sie mit einer Hand und in der anderen hielt ich ein Buch.«[3]
Das Wort »Buch« verrät, dass es sich hier nicht um Baldwins Lebensgeschichte handelt, sondern um die Geschichte, wie er sich ins Leben geschrieben, wie er mit Worten auf Papier eine Existenz für sich beansprucht hat, die ihm die Welt a priori absprach. Dabei unternimmt er die nahezu unmögliche Aufgabe, über unfaire Dinge fair zu schreiben. Nicht nur über race relations, sondern auch über family relations. Der titelgebende Essay »Von einem Sohn dieses Landes« handelt vom Tod seines Vaters. Seines Vaters, der ihm ständig gesagt hatte, wie hässlich er sei – und das James Baldwin, einem der schönsten Männer, die ich je gesehen habe. All das erwähnt er nicht einmal in dem Text, stattdessen versucht er möglichst wahrhaftig über seine Gefühle zu schreiben. (Das ist auch so eine Baldwin-Sache, dass es ihm nicht um große, abstrakte Konzepte wie Wahrheit geht, sondern um formbare, intersubjektive wie Wahrhaftigkeit.)
»Am 28. Juli, es war ein Mittwoch, glaube ich, besuchte ich meinen Vater zum ersten Mal während seiner Krankheit und zum letzten Mal in seinem Leben. Sobald ich ihn sah, wusste ich, weshalb ich den Besuch so lange aufgeschoben hatte. Ich hatte meiner Mutter gesagt, ich wolle ihn nicht sehen, weil ich ihn hasste. Aber das stimmte nicht. Ich hatte ihn gehasst, und an diesem Hass wollte ich festhalten. Ich wollte ihn nicht als Wrack sehen: Ein Wrack hatte ich nicht gehasst. Wahrscheinlich halten die Menschen auch deshalb so stur an ihrem Hass fest, weil sie ahnen: Ist der Hass einmal verschwunden, kommt der Schmerz.«[4]
James Baldwin stellt sich dem Schmerz. Aber er bleibt nicht beim Schmerz stehen. Würde er von Heilung sprechen? Vielleicht. Aber vor allem geht es ihm um das (Weiter-)Leben. Darum, sich nicht endlos von der Vergangenheit verstümmeln zu lassen. Ohne sie zu verleugnen. Aber auch ohne sie zu seiner Raison d’Être zu machen. Er weiß, wie die Mechanismen der Entwertung funktionieren, wie eine Entwertung die nächste bedingt, und es geht ihm darum, diese Kette zu durchbrechen.
Der Titel des Essays, so wie der ganzen Sammlung, ist ein Verweis auf die andere Vaterfigur in seinem Leben: auf den Schriftsteller Richard Wright und seinen Roman »Native Son«. Das ist jetzt übrigens nicht besonders belesen von mir, sondern Baldwin stellt es direkt im ersten Essay der Sammlung, »Jedermanns Protestroman«, und in nahezu allen weiteren klar. Hier geht es um Traditionen und Belonging. Es geht um Stimmen, die einander antworten und in sich das Echo von anderen, älteren Stimmen tragen. »Die Gesellschaft wird durch unsere Bedürftigkeit zusammengehalten, durch Legende, Mythos und Zwang entstanden aus der Furcht, andernfalls könnten wir in jene Leere geschleudert werden, in der sich, wie die Erde vor dem ersten Wort, die Grundfesten der Gesellschaft verbergen.«[5]
Welche Geschichten wir uns über etwas – Menschen, Ereignisse, race und sex und life – erzählen, bestimmt wie wir darüber denken. Eine Geschichte ist niemals »nur« eine Geschichte. Storys öffnen und verschließen Türen, sie haben die Kraft, die Wirklichkeit zu verändern. Davon ist Baldwin überzeugt, und deshalb ist er – so nachsichtig er bei Menschen ist – so knallhart, wenn es um Storys geht. Ich habe noch nie eine gnadenlosere – und nebenbei überzeugendere – Kritik gelesen als seine Beschreibung von Bigger, dem Antihelden aus »Native Son«, der für Baldwin keine Figur, sondern eine Parabel ist und damit blutlos und bedeutungslos bleibt: Bigger »hat keine erkennbare Beziehung zu sich selbst, zu seinem Leben, zu seinen Leuten, auch nicht zu anderen Leuten – in dieser Hinsicht ist er vielleicht besonders amerikanisch –, und seine Kraft bezieht er nicht aus seiner Bedeutung als soziales (oder asoziales) Element, sondern als Verkörperung eines Mythos«. (S. 71)
In »Von einem Sohn dieses Landes« versucht Baldwin Bigger – und damit sich selbst – diese Vergangenheit und damit auch eine Zukunft zu geben, eine Persönlichkeit, aber vor allem geht es ihm um das Beschreiben und damit Gestalten von Beziehungen, Beziehungen zu anderen Schwarzen, zu der Welt um ihn herum, zu sich selbst. »Denn Biggers Tragik besteht nicht darin, dass er friert, schwarz ist oder Hunger hat, nicht mal, dass er Amerikaner ist, ein schwarzer Amerikaner, sondern dass er sich einer Glaubenslehre verschrieben hat, die ihm das Leben verwehrt, dass er die Möglichkeit einräumt, ein Untermensch zu sein, und sich daher gezwungen sieht, nach jenen brutalen Maßstäben, die ihm bei seiner Geburt zugewiesen wurden, um sein Menschsein zu kämpfen. Doch unser Menschsein ist unsere Bürde, unser Leben; wir müssen nicht darum kämpfen, wir müssen nur das tun, was so unendlich viel schwerer ist – nämlich, es auf uns nehmen.«[6] Wenn’s weiter nichts ist.
Denn das ist ja nicht nur das Problem der Protest Novel, sondern das jedes sozialen Protestes: Es reicht nicht, mit denselben Bildern – nur mit umgekehrten Vorzeichen – zu operieren. Wenn ich mir anschaue, wie schwierig es für mich war – okay: ist – eine eigene Stimme zu finden, Bücher zu schreiben, die nicht nur die Stimme der Gesellschaft imitierten, indem ich sie anklagte, wird mir das Ausmaß von Baldwins Leistung überhaupt erst klar. Dazu kommt die Leistung, das so leicht wirken zu lassen. Wenn man diese Essays liest, erscheint es nicht nur einfach, so wie Baldwin zu denken, sondern unumgänglich: so frei, so warm, so selbstverständlich. Dabei war die Gesellschaft unvergleichlich brutaler zu ihm als Schwarzem Mann in den USA als zu mir als braunem Mädchen in der BRD.
Und unvergleichlich selbstgefälliger. 1965 trat James Baldwin in der berühmten Cambridge Debate gegen den konservativen Autor und Kommentator William F. Buckley an. Das Thema: Geht der amerikanische Traum auf Kosten der Schwarzen? In Anbetracht der Tatsache, dass nur ein Bruchteil der Schwarzen Bevölkerung zu den Wahlen zugelassen wurde und kurz vor der Debatte Hunderte von Schwarzen, inklusive Schulkindern, verhaftet worden waren, weil sie für de facto und nicht nur theoretisch gleiches Wahlrecht auf die Straße gegangen waren, ist es zumindest verblüffend, dass Buckley diese Diskriminierung auf die Schwarzen selbst zurückführt, auf: »… das Versäumnis der schwarzen Gemeinschaft, wie andere Minderheiten in Amerika gewisse Anstrengungen zu...
Erscheint lt. Verlag | 15.6.2022 |
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Übersetzer | Miriam Mandelkow |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Afroamerikanische Literatur • amanda gorman • Amerika • Black History • Black lives matter • Bürgerrechtsbewegung • Diskriminierung • Diversität • Essay • Europa • Frankreich • Fremdenfeindlichkeit • George Floyd • Geschenke für Männer • Gesellschaft • Gesellschaftskritik • Harlem • Hass • Homosexualität • I can’t breathe • Identitätspolitik • James Baldwin bücher • James Baldwin deutsch • Kindheit • Klasse • Liebe • Literatur • New York • Paris • Polizeigewalt • Protest • Rassismus • Schwarz • Schweiz • Sehnsucht • Trump • USA • Vater • Vater-Sohn-Geschichte • weiß • Wiederentdeckung • Wut |
ISBN-10 | 3-423-44083-X / 342344083X |
ISBN-13 | 978-3-423-44083-7 / 9783423440837 |
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