Als lebe man nur unter Vorbehalt (eBook)

Tagebücher aus den Kriegsjahren 1939-1945
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
592 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11658-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Als lebe man nur unter Vorbehalt -  Hermann Stresau
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Eine beeindruckende literarische Wiederentdeckung von zeitgeschichtlichem Rang Vom Alltag während des Krieges inmitten der Diktatur handelt der 2. Band von Hermann Stresaus Tagebuchaufzeichnungen »Von den Nazis trennt mich eine Welt«, die 1939 mit dem Überfall auf Polen beginnen und im April 1945 mit dem Einmarsch der amerikanischen Truppen in Göttingen enden. Mit Kriegsbeginn verlegt Stresau seinen Wohnort nach Göttingen. Dort versucht er, abgeschnitten von den Nachrichten der Welt, aus den anhaltenden Jubelmeldungen der Nazis zu extrahieren, wie es wirklich steht. Dass in der deutschen Bevölkerung mit der Niederlage in Stalingrad und der zunehmenden Bombadierung ihrer Großstädte die anfängliche Siegesgewissheit in Mutlosigkeit umschlägt, kann aber auch die Propaganda nicht verdecken. Die Deportation der Juden ist für Stresau früh Gewissheit und hinter vorgehaltener Hand werden unter Gleichgesinnten zudem andere Kriegsverbrechen kolportiert. Es gibt Tage, an denen er gleichermaßen verzweifelt an deutscher Schuld und der Angst um das Leben der ihm nahestehenden Menschen. So verbindet sich der analytische Blick des Intellektuellen Stresau mit einer den Verhältnissen trotzenden, unerschütterlichen Menschlichkeit. Die tritt besonders zu Tage, als er verpflichtet wird, in einer Fabrik zu arbeiten, die auch Zwangsarbeiter aus Osteuropa und Frankreich beschäftigt.

Hermann Stresau, geboren am 19. Januar 1894 in Milwaukee, wuchs in Frankfurt am Main auf. Ab 1912 studierte er Germanistik und war zwischen 1929 und 1933 als städtischer Bibliothekar in Berlin tätig. Nach seiner Entlassung durch die Nationalsozialisten arbeitete er als Schriftsteller, Lektor, Kritiker und Übersetzer und wurde zu einem angesehenen Intellektuellen der Nachkriegszeit. Davon zeugen unter anderem seine Mitgliedschaft in der Akademie für Sprache und Dichtung sowie das Ehrenpräsidentenamt des Schriftstellerverbandes Niedersachsen.

Hermann Stresau, geboren am 19. Januar 1894 in Milwaukee, wuchs in Frankfurt am Main auf. Ab 1912 studierte er Germanistik und war zwischen 1929 und 1933 als städtischer Bibliothekar in Berlin tätig. Nach seiner Entlassung durch die Nationalsozialisten arbeitete er als Schriftsteller, Lektor, Kritiker und Übersetzer und wurde zu einem angesehenen Intellektuellen der Nachkriegszeit. Davon zeugen unter anderem seine Mitgliedschaft in der Akademie für Sprache und Dichtung sowie das Ehrenpräsidentenamt des Schriftstellerverbandes Niedersachsen. Peter Graf, geboren 1967, leitet den »Verlag Das Kulturelle Gedächtnis« und die Verlagsagentur »Walde + Graf«. Publizistisch begibt er sich vor allem auf die Suche nach vergessenen Texten, um sie heutigen LeserInnen neu zugänglich zu machen. Ulrich Faure, Jahrgang 1954, lebt als Herausgeber und Übersetzer aus dem Niederländischen, u. a. von Simon Carmiggelt, Thomas Heerma van Voss, Rob van Essen und Pieter Waterdrinker, in Düsseldorf.

5.9.39 [Göttingen]


Wir hängen am Radio und suchen Nachrichten aufzufangen. Der Warschauer Sender schickt Musik in den Äther, Symphonisches und dergleichen, dazwischen Meldungen, die regelmäßig mit »Uwaga, Uwaga!«[1] beginnen und unverständlich sind. Sonderbarer Eindruck. Krieg in Polen[2] und dazu diese Musik. Die Funktion des Radios, das als Geräuschkulisse nicht ausfallen darf.

Morgens müssen wir uns eine Zentnerlast vom Herzen schieben, um aufstehen zu können. Wir erheben uns sonst immer frisch und munter um 6 Uhr, selten später, aber jetzt ist’s das Gegenteil: ein furchtbares Gefühl nach dem Erwachen, ein unbeschreibliches Grauen, ein Alpdruck, man möchte die Menschheit verfluchen. Kaum weniger grauenhaft abends, wenngleich nicht so kraß, wenn wir, um ein wenig frischere Luft nach dieser Hitze zu schöpfen, nach den Kanalwiesen gehen. Kein Hauch in der Luft. Die Dämmerung über den schweigenden Wiesen, Lautlosigkeit. Im Südosten der rotglühende Stern, der Mars, und ein bitteres Gefühl in der Brust. Die Riesenhaftigkeit eines heraufbeschworenen Schicksals über Millionen, eines unmenschlichen Schicksals.

Inzwischen haben nun England und Frankreich den Krieg erklärt[3]. Da England die Garantie an Polen gegeben hatte, war das zu erwarten. Die ersten britischen Flieger über Hamburg.

Hitlers Rede vor dem Reichstag: wenn man das so hört und liest, »möchte es leidlich scheinen, allein –« ja, wenn einen nicht das Mißtrauen angesichts dieser Erklärung beseelte. Interessant die Ausführungen über den Pakt mit Rußland. Mit einem Mal, da Sowjetrußland seine Doktrin nicht nach Deutschland zu exportieren gedenkt, sieht Adolf keine Veranlassung mehr, »daß wir auch nur noch einmal gegeneinander Stellung nehmen sollen!« Der Pakt also schließt »für alle Zukunft« jede Gewaltanwendung aus. Adolf bezeichnete das als eine »ungeheure Wende für die Zukunft«, er erklärte sie für »endgültig«[4]. Der Reichstag jubelte ihm zu, als er verkündete, Rußland und Deutschland hätten sich einmal bekämpft: »Ein zweites Mal soll und wird das nicht mehr geschehen.« Molotows Rede, auf die Hitler bei dieser Gelegenheit hinwies, scheint sehr klar gewesen zu sein, jedenfalls merkt man eine gewisse nüchtern realpolitische Auffassung der Dinge insofern, als er offen von Verhandlungen mit den Westmächten sprach, auch militärischen, die zu nichts führten, angeblich vor allem wegen der Weigerung Polens, von der Sowjetunion militärische Hilfe anzunehmen, worin England Polen, nach Molotows Behauptung, sogar unterstützt haben soll. Die Standpunkte Englands und Frankreichs, sagte Molotow, seien von »schreienden Widersprüchen« erfüllt gewesen. Ganz offen behauptet er, die Engländer fürchteten von einem Pakt mit Rußland die Stärkung der russischen Position, woraus sich auch die polnische Haltung gegenüber der Sowjetunion ergäbe. Was den Pakt mit uns angehe, so seien unsere Beziehungen früher zwar gespannt gewesen. Aber Stalin habe nun einmal Frieden befohlen und vor den Kriegstreibern gewarnt, die gern »die Kastanien durch andere aus dem Feuer holen lassen«, d. h. Deutschland und Sowjetrußland gegeneinander hetzen möchten. Gewisse »kurzsichtige Personen« hätten sich in Rußland für die »einfältige antifaschistische Agitation« begeistert, aber Stalin habe eine glänzend gerechtfertigte Voraussicht bewiesen. Das alles klingt, noch im Hinblick auf vorteilhafte Wirtschaftsabkommen, durchaus vernünftig. Die Frage ist, wieweit unsere Herren gesonnen sind, den Vertrag zu halten. Man sollte meinen, diese Rückendeckung sei so kostbar, daß man sie unter gar keinen Umständen aufs Spiel setzen würde.

Wir haben, sagte Hitler, seit sechs Jahren über 90 Milliarden an den Aufbau der Wehrmacht gewandt. Er bezeichnet sie als die bestausgerüstete der Welt. Im übrigen möchte er der Umwelt versichern, daß es nie wieder einen 9. November in der deutschen Geschichte geben werde. »Ich habe wieder jenen Rock angezogen, der mir selbst der heiligste und teuerste war«, sagte er, »ich werde ihn nur ausziehen nach dem Sieg – oder – ich werde dieses Ende nicht erleben!«[5] Für den Fall, daß ihm was passiert, wird Göring sein Nachfolger, dann Heß.

In den Lüften herrscht hier über unserer Siedlung endlich Ruhe. Aber ich zöge den Radau vor, wenn Friede wäre. Leute werden einzeln eingezogen, meistens erhalten sie den Gestellungsbefehl nachts, d. h. der Amtsvorsteher persönlich fährt herum und trommelt die Leute aus dem Schlaf. Es sind auch Ältere darunter, Weltkriegsteilnehmer. Allerdings vorwiegend, wie es scheint, solche mit besonderen Fähigkeiten, Kraftfahrer und so.

Ich habe im Luftschutz zu tun: Schnellkurse. Jetzt soll man in zwei Stunden alles durchjagen, was vorher 10 Stunden beanspruchte.

11.9.39


(Aus Gretes Aufzeichnungen): Die deutschen Truppen sind in Warschau eingedrungen, um den Bug und die Weichsel tobt die Schlacht. Bis zur Weichsel ist Polen in deutschen Händen. Heute fiel seit Wochen der erste Regen, unser Garten war fast vertrocknet.

Heinz[6] ist noch in Frankfurt, wir sollen hinkommen, aber wir kommen hier aus finanziellen Gründen nicht los. Jeden Tag wache ich nach schweren Träumen zu der Tatsache auf, daß Krieg ist. Hermann wacht ohne Träume auf, fällt aber regelmäßig einer sehr deprimierten Stimmung anheim, die sich erst langsam im Laufe des Tages bessert.

Mit der Ernährung geht es noch. Fett und Zucker sind knapp. Hier gibt es wenigstens Milch nach Belieben, auch Quarkkäse. Die Stimmung der Bevölkerung ist mäßig.

15.9.39


War heute in Berlin. Mein Lektoratsverhältnis zu S. Fischer ist zum 1. Oktober gekündigt, da wir mit englischer und amerikanischer Literatur nichts mehr machen können. Überdies scheint man bei den Verlegern mehr und mehr mit einer Stillegung der Betriebe zu rechnen, d. h. mit totalem Kriege, Massenverpflegung und dergleichen. Wenigstens rechnet Suhrkamp damit, und es mag ja sein, daß höheren Orts so etwas erwogen wird. Die Stimmung in der Bevölkerung ist trotz der Siege alles andere als begeistert, eher gedrückt. Nur bei Aschinger am Potsdamer Platz[7] sah ich ein paar Spießbürger, die offenbar unter der Einwirkung mehrerer Schnäpse verwegene Redensarten machten. Das sind seltene Ausnahmen.

Dr. v. C.[8], den ich besuchte, war gleichfalls sehr bedrückt und pessimistisch. Erzählte, er sei am Abend vor der englischen Kriegserklärung in einer Gesellschaft von Wirtschafts- und Parteiführern gewesen, wo man zu seinem Erstaunen allgemein in bester Laune der Ansicht war, England werde nicht in den Krieg eintreten. Er war noch nachträglich entsetzt über diese Ahnungslosigkeit. Wir waren uns einig darüber, daß sich die Geschichte zu einem langdauernden Weltkrieg auswachsen werde.

Das Entsetzliche ist dabei die ohnmächtige Erbitterung, die in einem hochsteigt, wenn man an die Lumpen denkt, die das Feuer angezündet haben. Der britische Botschafter Henderson[9] soll von einer seiner letzten Unterredungen mit Hitler mit dem Ausdruck des Abscheus zurückgekehrt sein (»abhorring« soll er gesagt haben), da Hitler schließlich ausgebrochen sei: wie lange er denn auf »seinen Krieg« warten solle, er sei über fünfzig! Dr. R.[10] erzählte mir das, auch er bedrückt und eine böse Zukunft voraussehend.

17.9.39


Täglich hört man hier von diesem und jenem, daß er eingezogen sei, d. h. nachts oder gegen Morgen seinen Gestellungsbefehl bekam.

Wir haben soeben Tee getrunken, an der offenen Balkontür, und aßen Apfelstrudel dazu. Man muß sich das Leben noch ein bißchen angenehm machen. Draußen schüttelt der Wind die Bäume, Regenschauer sprühen vorbei.

Wir wissen noch nicht, was mit unserer Existenz wird und was wir machen sollen. Für den Winter wollen wir nicht hierbleiben. Die Hauptfrage ist die, wo und wie ich Geld verdienen kann. Die ständige Verbindung mit der Frankfurter Zeitung ist recht gut, reicht aber nicht aus. Wir überlegen, ob wir nach Frankfurt zu den Kindern oder nach Göttingen ziehen können, wo wir Freunde haben. Der Zustand hier in dieser Siedlung wird unmöglich. Außerdem meint Grete halb scherzhafterweise: Berlin wird russisch, Göttingen englisch, und wir ziehen englisch vor – wenn’s schiefgeht.

18.9.39


Ich soll mich, auf Empfehlung von Bekannten, bei einer Nachrichtenstelle der Wehrmacht vorstellen, auf Grund meiner paar...

Erscheint lt. Verlag 20.10.2021
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Deutschland • Faschismus • Krieg • Machtergreifung • Nationalsozialismus • Tagebuch • Weltkrieg • Zeitgeschichte • Zeitzeuge
ISBN-10 3-608-11658-3 / 3608116583
ISBN-13 978-3-608-11658-8 / 9783608116588
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