Der Geschichtenbäcker (eBook)
256 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60122-1 (ISBN)
Carsten Henn, geboren 1973 in Köln, ist neben seiner Tätigkeit als Autor auch als Weinjournalist und Restaurantkritiker tätig. Viele erfolgreiche kulinarische Kriminalromane stammen aus seiner Feder, aber auch Liebeskomödien, Theaterstücke und ein Bilderbuch. Sein Roman »Der Buchspazierer« stand über zwei Jahre auf der SPIEGEL-Bestsellerliste, wurde allein in Deutschland über eine halbe Millionen Mal verkauft, in mehr als 30 Sprachen übersetzt und mit Christoph Maria Herbst in der Titelrolle verfilmt. Auch seine nächsten Romane »Der Geschichtenbäcker« und »Die Butterbrotbriefe« waren große Bestseller-Erfolge. Für seine literarischen Werke erhielt er mehrere Auszeichnungen.
Carsten Henn, geboren 1973 in Köln, arbeitet als Schriftsteller, Weinjournalist und Restaurantkritiker. Er ist Chefredakteur des Weinmagazins Vinum. In St. Aldegund an der Mosel besitzt er einen Steilstweinberg mit alten Rieslingreben, den er selbst bewirtschaftet. Wenn er einmal nicht seiner Leidenschaft fürs Kochen nachgeht, ist er auf der Suche nach neuen Gaumenfreuden.
Kapitel 2
Hefe
Als Sofie wieder vor dem Mietshaus in der Beller Straße ankam, stand Florians alter himmelblauer Citroën noch davor. Sie schlich die Stufen zur Wohnung hinauf, jeden Laut vermeidend, und öffnete leise die Tür. Florian hatte einige der Tanzfotos und Zeichnungen wieder aufgehängt, wenn auch nur von Produktionen, an denen Sofie nicht beteiligt gewesen war. Sie drehte alle sachte um, denn mehr als die Rückseiten konnte sie gerade nicht ertragen.
Florian selbst saß vor dem Fernseher, in dem riesige, merkwürdig geformte Bäume zu sehen waren. Auf Zehenspitzen ging Sofie Richtung Küche.
Erste europäische Entdecker berichteten davon, dass der Baobab aussehe, als stünde er auf dem Kopf. Seine großen, runden Früchte erinnerten sie an Brötchen, weshalb er seinen umgangssprachlichen Namen erhielt: Affenbrotbaum.
Sofie blieb stehen. Trieb das Leben einen Scherz mit ihr? Affenbrotbaum?
Baobabs können bis zu dreitausend Jahre alt werden. Doch in letzter Zeit starben gleich neun der dreizehn ältesten Baobabs Afrikas – alles Bäume, die Namen trugen. Sie verschwanden einfach von einem Tag auf den anderen, weswegen die lokale Bevölkerung glaubte, sie seien gar nicht gestorben, sondern abgeholzt worden.
Es wurde ein Vorher-nachher-Foto gezeigt, zwischen dem nur ein Tag lag. Auf dem einen sah man riesige, rosagraue Bäume, die neben einigen kleineren Sträuchern standen, auf dem anderen war keine Spur mehr von den Baobabs vorhanden.
Forscher lüfteten nun das Geheimnis. Die Bäume verrotten von innen heraus, bis nur noch die äußere Hülle steht. Diese kann bei einem starken Sturm dann einfach weggeweht werden, und nichts bleibt zurück.
Sofie wurde blass. Das bin ich, dachte sie. Alle sehen noch den großen, kraftvollen Baum, dabei gibt es ihn schon längst nicht mehr. Der Kern ist weg. Es existiert nur noch eine Hülle. Als Jugendliche hatte sie damit begonnen, ihren Lebensjahren Namen zu geben. Manchmal im Vorhinein und voller Hoffnung (Das Jahr meines ersten Kusses), manchmal erst währenddessen und ernüchtert (Das Jahr des Muskelkaters). Dem aktuellen hatte sie noch keinen Namen verliehen. Bis jetzt – Das Jahr des Baobab.
Ein Seufzer entfuhr ihr.
Florian drehte sich um.
»Hey du.«
»Nicht!« Sie schüttelte den Kopf.
»Was nicht?«
»Was auch immer du mir sagen oder wozu auch immer du mich drängen willst – tu es nicht. Bitte. Lass mir Zeit. Ich muss dir etwas erzählen.«
Florian sah sie lange an, dann nickte er, stand auf und kam auf sie zu. Sofie wich unwillkürlich zurück, als er sie sanft umarmte.
»Du duftest anders als sonst«, sagte Florian, als er seine Arme wieder löste. »Trägst du ein neues Parfüm?«
Sie schnüffelte an sich herab. Er hatte recht. Aber was war es bloß? Sofie roch an ihrer Bluse, hob die Hände, und mit einem Mal wusste sie es. Ihre Finger dufteten wie Orangen. Nach dem Teigkneten hatte sie die teuer duftende Backstubenseife benutzt. Warum leistete sich ein Bäcker so etwas? Andererseits war es nur eine weitere merkwürdige Seite eines sonderbaren Mannes.
»Ich habe einen Job.«
»Du hast … was? Warum erzählst du mir nichts davon?«
»Tu ich doch jetzt. Ist aber nichts Richtiges, ich mach das nur, damit ich weiter das volle Arbeitslosengeld beziehe.«
Florian benetzte sich die Lippen. »Magst du einen Tee? Ich habe gerade welchen aufgesetzt, deine Lieblingsmischung, die mit Ingwer. Komm, wir setzen uns, ja?«
Dieses zögerlich-höfliche Verhalten machte Sofie noch mehr bewusst, wie viel gerade zwischen ihnen stand. »Aber kein Wort zu gestern.«
»Nein.« Er lächelte sie an und hob eine Hand wie zum Schwur. »Versprochen.«
Sie setzten sich in die warmen Sonnenstrahlen, die vormittags auf die Hocker am Küchentisch fielen.
»Ich werde nach drei Tagen wieder kündigen«, erklärte Sofie, als sie die Teetasse nach einem kurzen Nippen wieder absetzte. »Dann habe ich ausreichend guten Willen gezeigt.«
»Wo arbeitest du denn? Ist dir das irgendwie peinlich?«
Sofie sah aus dem Fenster auf den Kirchturm des Dorfes, dessen Hahn sich im Wind drehte. »Ich arbeite in einer Bäckerei. Als … Bäckerin.« Sie lachte trocken. »Lach ruhig. Ich meine: Brot? Ausgerechnet ich?«
Florian grinste und goss ihr frischen Tee ein.
»Und der Bäcker ist ein echter Sonderling, genau wie es mir die Frau Nittels vom Hofladen mal erzählt hat.«
»Gilt das in einem Dorf nicht als Kompliment? Sind wir hier nicht auch zwei Sonderlinge?« Er nahm sanft ihre Hand.
»Es gibt solche von der richtigen und von der falschen Sorte.« Sofie zog ihre Hand zurück.
»Ich habe ihn erst einmal gesehen«, sagte Florian und umklammerte seine Teetasse. »Als ich für die Kompanie Apfelkuchen zum ersten Probentag gekauft habe. Da war diese schreckliche alte Verkäuferin ausnahmsweise mal nicht da. Das ist vielleicht eine Hexe.«
»Und wie fandest du ihn?« Sofie setzte die Teetasse wieder an die Lippen und nahm den wundervollen Orangenduft ihrer Finger wahr.
»Er hat nicht viel gesagt. Aber so kräftig, wie er ausschaut, bekommt er Hebefiguren sicher gut hin.«
Sofie musste schmunzeln. »Wen soll er denn in der Backstube hochheben? Die Hexe?«
»Die Hexe und der Bäcker, den Namen gibt es bestimmt noch nicht für ein Ballett.« Florian versuchte wieder, Sofies Hand zu nehmen, aber bevor er sie berühren konnte, legte sie sie in ihren Schoß und blickte in die Teetasse.
»Es hat rein gar nichts mit Ballett zu tun. Und ich will wirklich nicht über Tanz reden.«
Florian fuhr sich nervös durch die Haare. »Warum tust du dir so einen Job an? Warum zeigst du dem Arbeitsamt deinen guten Willen nicht in einer Ballettschule? Das wäre wenigstens etwas, das Zukunft haben könnte.«
»Du verstehst es immer noch nicht!« Sofie stellte die Teetasse klirrend ab.
»Nein, das tue ich wirklich nicht.« Er schob die Teetasse von sich. »Du könntest Meisterklassen geben, du könntest choreografieren, du könntest Kritiken oder Bücher über Ballett schreiben. Du bist ein Ballettstar! Das ist deine Welt! Die Menschen warten nur darauf, dass du irgendwas in diese Richtung machst.«
Sofies Augen verengten sich. »Weißt du, wer überhaupt nicht darauf wartet? Ich!«
»Nein, du rennst davor weg.«
Was Florian nicht zu sagen brauchte, war, dass sie damit auch vor ihm wegrannte. Es hing in der Luft wie kalter, dichter Nebel, den man mit jedem Atemzug einsog.
»Vergiss nicht zu beten«, sagte er spöttisch und stand auf.
»Was? Wieso?«
»Unser täglich Brot gib uns heute …« Er faltete die Hände wie ein Mönch vor der Brust und verließ kopfschüttelnd den Raum.
Während Sofie ihm nachblickte, dachte sie, dass die Arbeit in der Bäckerei zumindest ein Gutes hatte: Sie musste früh ins Bett. Damit würde sie sich alle Diskussionen darüber ersparen, warum sie auch in dieser Nacht nicht miteinander schliefen. Was war nur mit dem Mann passiert, in den sie sich damals verliebt hatte? Der plötzlich bei den Proben ihrer ersten Kompanie aufgetaucht war, dieser stille dunkelhaarige Mann, der nur zuschaute. Niemand hatte ihn vorgestellt, und er hatte nie etwas gesagt. Nur geschaut und gezeichnet. Fast hatte sie die Berührung seiner Malkreide damals wie ein Streicheln auf ihrer Haut gespürt. Eines Tages war sie zu ihm gegangen und hatte gefragt, ob sie seine Sachen einmal sehen dürfe. Florian hatte ihr die Notizbücher gezeigt, drei hatte er vollgemalt, jede Seite, wunderschöne Zeichnungen. Und alle von Sofie.
Es hatte ihr gut gefallen, dass er ein wenig älter war als sie, knapp fünf Jahre, und viel mehr in sich ruhend. Ein Denker, der sich in Bücher versenken konnte und Naturdokumentationen liebte, weil sie ihm das Tor zu anderen Welten öffneten. Keiner, der ständig rausmusste, sondern einer, mit dem man ein Nest bauen konnte. Einer, der ihr im Winter warmen Tee aufgoss...
Erscheint lt. Verlag | 31.3.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Anfang eines neuen Lebens • Backen • Belletristik Neuerscheinung 2021 • Brot • Bücher 2021 Neuerscheinungen • Bücher für den Sommer • Bücher für den Urlaub • bücher für frauen • bücher selbstfindung • bücher selbstliebe • Buch für die Freundin • buch für frauen • Buch gegen Einsamkeit • carsten henn • Carsten Sebastian Henn • Der Buchspazierer • einsame Menschen • Gefühlvoller Roman • Inspirationsbuch • Körpergefühl • Märchen • Neuanfang • Roman einer Ehe • Roman einer Freundschaft • Romane über Liebe • Roman über das Leben • Roman über Freundschaft • Roman über Neuanfang • Roman über Selbstliebe • Roman zum Wohlfühlen • SPIEGEL-Bestsellerautor • Tanz • Tanzen • warmherzig • Wendepunkte • Wohlfühlbuch • Wohlfühllektüre • Wohlfühlroman |
ISBN-10 | 3-492-60122-7 / 3492601227 |
ISBN-13 | 978-3-492-60122-1 / 9783492601221 |
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