Wenn unsere Welt zerspringt (eBook)
176 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60120-7 (ISBN)
Samira Sedira, geboren 1964 in Algerien, ist Schauspielerin und Schriftstellerin. Ihr erster Roman wurde 2014 mit Sandrine Bonnaire in der Hauptrolle für das Theater adaptiert. In Frankreich wurden ihre Werke mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrer Familie in einem Vorort von Paris.
Samira Sedira, geboren 1964 in Algerien, ist Schauspielerin und Schriftstellerin. Ihr erster Roman wurde 2014 mit Sandrine Bonnaire in der Hauptrolle für das Theater adaptiert. In Frankreich wurden ihre Werke mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrer Familie in einem Vorort von Paris.
Während des ersten Monats weinte ich, konnte gar nicht damit aufhören. Lange habe ich zu verstehen versucht, was passiert war. Noch heute kommt es vor, dass ich die Geschichte vom Anfang bis zum Schluss durchgehe, wobei ich mich bemühe, kein Detail auszulassen. Manchmal stoßen sich meine Gedanken an einem Bruchstück der Geschichte, so sehr, dass ich über mehrere Nächte hinweg keinen Schlaf finde. Ein Detail, das ich durchgehe, analysiere, bis zum Wahnsinn auseinandernehme und das mir doch zwischen den Fingern zerrinnt, sobald ich bereit bin, das Geheimnis zu lüften. Dennoch kündigen sich diese Grübeleien jedes Mal an, als wären es die letzten, zumindest will ich das glauben, aber dann empfängt mich die Nacht, im Kopf der Schmerz, der die Erinnerung hervorbringt und mich zurücklässt, allein, im Morgengrauen, in einer kalten Ecke des Bettes.
So auch in der letzten Nacht, eine sich endlos wiederholende Frage, ein unlösbares Problem, das ich im klammen Verstreichen der Stunden wieder und wieder wälzte. Diese Frage, die mich die ganze Nacht wach hielt, die ich unablässig durchging, ohne eine Antwort darauf zu finden, obwohl der Staatsanwalt im Gerichtssaal sie dir ganz vernehmlich gestellt hatte: Warum haben Sie sich die Hände im eiskalten Fluss gewaschen, nachdem Sie alle Angehörigen der Familie Langlois brutal ermordet hatten? Er liegt über fünfhundert Meter vom Tatort entfernt. Warum haben Sie nicht eines der vielen Waschbecken im Haus benutzt? Jeder andere hätte das so gemacht, das wäre logisch gewesen. Jeder andere hätte das Waschbecken im Badezimmer, das Spülbecken in der Küche oder aber auch das Wasser im WC benutzt! Nicht so Sie. Sie sind wie ein Wahnsinniger losgerannt, ohne zu befürchten, gesehen zu werden, und haben dann, beim Fluss angekommen, ganz verbissen auf das Eis eingeschlagen, denn, wie Sie während Ihrer Aussage angegeben haben, wollten Sie sich ganz unbedingt die Hände waschen. Sie müssen zugeben, dass das etwas eigenartig ist, warum ausgerechnet der Fluss?
Angesichts deines gehetzten Gesichtsausdrucks war er gereizt geworden: Hören Sie auf, mich so anzustarren, Monsieur Guillot, und antworten Sie bitte!
Seine Stimme hatte eine große Reichweite, das war ganz natürlich bei ihm, mit einem Tonumfang, den er mühelos hielt. Du hingegen schwiegst, starrtest ihn nur hartnäckig an, einzig deine Lippen zuckten.
Das Schweigen als Einladung, dein Gewissen zu erleichtern, steigerte dein Unbehagen nur noch mehr. Widersprüchliche Gefühle wechselten sich in dir ab: Das Verlangen, etwas zu sagen, führte unweigerlich zur Unfähigkeit, mit der geringsten Erklärung aufzuwarten. So in die Enge getrieben fandest du keinen anderen Ausweg, als dümmlich zu lächeln. Tatsächlich hattest du keine Antwort für ihn, dein Schweigen hallte wie jene Verzweiflung nach, die schreckliche Katastrophen begleitet. Zum ersten Mal seit Beginn der Verhandlung hatte ich Mitleid mit dir.
Der Staatsanwalt, der deine Reaktion als eine persönliche Kränkung auffasste (damit war zu rechnen), stand umgehend auf: An Ihrer Stelle und in Ihrem eigenen Interesse würde ich davon absehen zu lächeln, Monsieur Guillot!
Seine tiefe Stimme, der eine natürliche Autorität innewohnte, war einem Donnern gleich hervorgebrochen und hatte alle dazu genötigt, sich auf ihrem Platz abrupt aufzurichten.
Bei diesen Worten erlosch dein Lächeln unvermittelt. Der Staatsanwalt schluckte, ehe er fortfuhr: Sie sind nach draußen gerannt, so haben Sie es den Gendarmen erzählt, und Sie haben, ich zitiere: »einen Sprint bis zum Fluss hingelegt«.
In diesem Moment hob der Staatsanwalt die Arme, als wäre eine Waffe auf ihn gerichtet, und schürzte die Lippen. Ein Sprint!? Er legte eine Pause ein. Wer …? Er legte eine zweite Pause ein … einen Sprint hinlegen, mitten im Winter, bei Temperaturen von annähernd minus zehn Grad, um sich die Hände zu waschen, die mit dem Blut der Opfer verschmiert sind, für die man verantwortlich zeichnet? Wovor genau sind Sie weggelaufen? Pause. Er wiederholte: Wovor sind Sie weggelaufen?
Seine Frage verlangte nach keiner Antwort, denn er blieb einen Moment lang reglos stehen, auf seine eigenen Gedanken konzentriert, ohne dich anzusehen, dann sagte er: Der Fluss war vereist, aber das hat Sie nicht abgehalten, Monsieur Guillot. Wie ein Wahnsinniger haben Sie auf die Eisschicht eingeschlagen, zunächst mit dem Schaft Ihres Gewehres, schließlich mit den Fäusten, bis das Eis brach. Eine zehn Zentimeter dicke Eisschicht! Es braucht einiges an Wut, um zehn Zentimeter dickes Eis zu zerschlagen, und Sie hatten gerade eine ganze Familie mit einem Baseballschläger ermordet! Sie schlugen so fest darauf ein, dass Ihre Hände aufgeplatzt sind, »Das Blut hat nur so gespritzt«, das sind doch Ihre Worte?
Der Staatsanwalt verließ seinen Platz, seine Arme hingen wieder zu beiden Seiten herunter, er war leicht außer Atem und baute sich vor dir auf.
Die hinter ihm sitzenden Geschworenen hörten ihm ernst zu. Er wusste, dass nichts von dem, was er sagte, ihrer Aufmerksamkeit entgehen würde und ein einziges Wort ausreichte, um ihre endgültige Entscheidung kippen zu lassen. In seiner Eigenschaft als Mann des Gesetzes war er für die Gewissen aller verantwortlich.
Unvermittelt starrte er dich an und fragte: Erinnern Sie sich an das, was Sie sagten, als Sie Ihre Aussage machten? Du zucktest mit den Schultern, leicht verloren. Nun, ich werde es Ihnen sagen. Sie haben gesagt: »Mein Blut hat sich mit ihrem vermischt, das habe ich nicht ertragen.«
Wieder schüttelte er den Kopf, von links nach rechts, von oben nach unten, und mit einer Miene, die Fassungslosigkeit vortäuschte, wiederholte er etwas leiser und mit einer überdeutlichen Betonung auf jedem Wort: »Mein Blut hat sich mit ihrem vermischt, das habe ich nicht ertragen.«
Genau in diesem Moment lachte er höhnisch auf. Das war seltsam, unangebracht. Auch ihm musste das aufgefallen sein, denn er lief rot an. Um sich nicht von Verlegenheit übermannen zu lassen, fasste er sich umgehend wieder und lenkte mit einem knappen Heben des Kinns die Aufmerksamkeit abermals auf dich: Und dann haben Sie als Erläuterung für Ihre Abneigung noch hinzugefügt: »Ich habe meine Frau nicht zu den Entbindungen begleitet, ich fühle mich unwohl im Krankenhaus, und wenn ich Blut sehe, kippe ich um.«
Das lange Schweigen, das folgte, ließ die Zuhörer in eine Mischung aus Entsetzen und eisiger Erstarrung verfallen. Er hatte dich in eine Sackgasse getrieben. In die Falle gelockt wie eine Ratte. Er konnte nicht glauben, dass du zu der Sorte Mann gehörtest, der Angst vor Blut hatte. Für ihn war das eine List, dazu gedacht, die Geschworenen milde zu stimmen. Denn wie sollte jemand, der in der Lage war, fünf Menschen zu töten, beim Anblick von Blut erzittern? Das erschien grotesk, unvorstellbar. Und dennoch. Dich grauste tatsächlich vor Blut. Nicht einmal den Anblick des kleinsten Blutstropfens ertrugst du. Schlug sich eine unserer Töchter das Knie oder die Hand auf, warst du wie erstarrt, sahst zu, wie sie wimmerte, konntest jedoch keinen Finger rühren, und unabänderlich riefst du letztlich nach mir, damit ich die Wunde versorgte. Ein Psychiater sollte später bestätigen, dass einen die Angst vor Blut nicht vom Töten abhielt: Es sind schon Soldaten mutig an die Front gezogen, die dennoch beim Anblick einer Spritze ohnmächtig wurden!
Doch zu diesem Zeitpunkt des Prozesses wollte das niemand glauben. Mit gesenktem Kopf und blassem Gesicht presstest du die Zähne aufeinander.
Aus einem Grund, den ich mir nach wie vor nicht erklären kann, wandte sich der Staatsanwalt unvermittelt zu mir um, als wäre das ein letzter Ausweg, und sagte, wobei er jedes einzelne Wort wieder überdeutlich betonte: Für jemanden, der den Anblick von Blut nicht erträgt, kann man bei Ihnen sagen, dass Sie Ihre Aversion mit Leichtigkeit überwunden haben. Gelächter im Saal. Dabei starrte er mich unumwunden an, zumindest glaubte ich das, bis mir bewusst wurde, dass er mich tatsächlich gar nicht sah. Sein Blick war zufällig an dieser Stelle hängen geblieben, und leider war das in meiner Richtung gewesen. In diesem Aufruhr, der mich erfasst hatte, fühlte ich mich ebenso schuldig, wie du es warst. Als würde mir schon allein die Tatsache, deine Frau zu sein, zur Last gelegt. Umgehend stiegen mir Tränen in die Augen. Die vorgetäuschte Gefasstheit, die ich bis dahin an den Tag gelegt hatte, wenngleich sie beträchtlicher Anstrengungen bedurfte, fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Ich war...
Erscheint lt. Verlag | 31.3.2022 |
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Übersetzer | Alexandra Baisch |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Des gens comme eux |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | abgelegenes Bergdorf • Affaire Flactif • Aufwühlend • Belletristik Neuerscheinung 2022 • bewegend • Chris Whitaker • erschütternde Tat • Familie • Familientragödie • Frankreich • Französischer Roman • Kinder • kraftvoll • Leila Slimani • Mord • Nachbar • Nature writing • Neid • Preisgekrönt • Psychogramm • Rassismus • sensibel • Wahre Begebenheit |
ISBN-10 | 3-492-60120-0 / 3492601200 |
ISBN-13 | 978-3-492-60120-7 / 9783492601207 |
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