Winterherz -  Rainer Gross

Winterherz (eBook)

Bericht eines Bestehens

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
236 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7543-6971-5 (ISBN)
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Ein Schriftsteller, der an einer Borderline-Struktur leidet, macht sich bereit, den ersten Corona-Winter zu überstehen. Dabei baut er auf sein Schreiben, auf die Liebe seiner Frau Anna und nicht zuletzt auf seine Beziehung zu Gott. Die kleinen Dinge des Alltags helfen ihm dabei: Rauchen auf dem Balkon, Tee trinken, Windlichter anzünden, die Duftlampe, ein heißes Bad am Abend. Aber der Winter ist lang und dunkel. Wird er ihn bestehen? Ein Buch, das einen ganz besonderen Alltag beschreibt, das Mut macht und zeigt, wie wichtig es ist, jeden Tag eine Hoffnung zu haben.

Rainer Gross, Jahrgang 1962, geboren in Reutlingen, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Heute lebt er mit seiner Frau als freier Schriftsteller wieder in seiner Heimatstadt. Bisher u.a. erschienen: Grafeneck (2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (2008); Kettenacker (2011); Kelterblut (2012); Die Welt meiner Schwestern (2014); Yûomo (2014); Haus der Stille (2014); Schrödingers Kätz-chen (2015); Haut (2015); My sweet Lord (2016); Die sechzigste Ansicht des Berges Fuji (2017); In der fernen Stadt (2017); Räucherstäbchenjahre (2018); Der Teehändler (2019); Er sollte nicht ahnen (2019); Lebkuchenstadt (2020); Schatzkiste (2020); Ein Nachmittag am Bondi Beach (2020); Flieg zum Regenbogen (2020); Im Herz aller Dinge (2020); In La Coruna geht Picasso zu den jungen Stieren (2021); Neugeboren (2021); Skymning (2021).

Dienstag, 29. September


Er steht nackt im Bad und lässt das Wasser einlaufen. Eine Kappe Wacholderöl, gelb und duftend. Dann setzt er sich hinein. Das heiße Wasser kribbelt an den Beinen. Es ist ein bisschen beengt, ja, die Badewanne ist tatsächlich zu klein – aber diese Wohltat am Körper!

Er streckt sich lang, stellt die Beine auf. Anna heizt schon einmal die Stube ein. Aus dieser Perspektive hat er das Badezimmer noch nie gesehen. Er hat hier in den sieben Jahren noch nie gebadet, weil ihm die Wanne immer zu klein war.

Er liest ein japanisches Graphic Novel. Ein Mann geht mit dem Hund seiner Freunde spazieren. Durch die Straßen von Tokio. Er lässt ihn einen Ball apportieren und erinnert sich an seine Kindheit, als er für die Großen beim Baseball immer die Bälle holen musste.

Dann seift er sich mit Rosmarinseife aus Südfrankreich ein.

Im Wohnzimmer schlüpft er gleich unter die Decke und zieht die Kapuze seiner Sweatjacke über. Es ist noch hell. Anna bereitet in der Küche das Abendessen vor.

Nun kann der Winter kommen, denkt er und reibt sich vergnügt die Hände.

Freitag, 2. Oktober


Der Föhnsturm reißt ihm die Asche vom Zigarillo. Warm wie ein Frühlingswind, heftig wie der Mistral. Mülleimer rasseln keine durch die Straßen. Aber bei jeder Bö auf dem Balkon tanzen die Töpfe. Jetzt drinnen sitzen am Kamin, denkt er, das Dachgebälk ächzen hören und in seiner Knold-Pfeife eine Orientmischung rauchen – das wär‘s!

Samstag, 3. Oktober


Dreißig Jahre deutsche Einheit. Festakt und Wendefilme, Regen und grauer Himmel. Anna feiert die Goldene Hochzeit ihrer Eltern. Er sitzt auf dem Balkon, in Gedanken versunken, und raucht seinen Nachtmützentabak ruhig und gemächlich vor sich hin. Der autobiografische Roman, den er überarbeitet, weckt Erinnerungen an damals, als alles anfing. Aber sie halten still. Es ist friedlich in ihm.

Sonntag, 4. Oktober


Die Sonne scheint ihm ins Gesicht. Die Markise ist wegen des Windes nicht auszufahren. Eine Trauer, eine Last im Gemüt. Traurigkeit ist verdrängte Wut. Lieber wütend als traurig, denkt er an den Titel einer Biografie über Gudrun Ensslin. Marmorkuchen und eine Tasse Milch. Im TV-Märchen werden die Wackersteine auf der Wiese wieder zu Jungfern. Etwas ist schief heute. Er selbst wahrscheinlich. Wie immer.

Der Duft des Marmorkuchens in der Wohnung. Heute ist wieder so ein Tag, an dem die Angst zurückkommt. Der Überdruss. Das Ausbrechen und Nichtaushalten. Anna schläft auf dem Sofa. Er legt sich zu ihr, schließt die Augen, lässt sich hinein in den kleinen Frieden. Er hat um Hilfe gebetet. Die kleine blaue Tablette in der großen Handfläche. Ein Frieden, als wären die Langstreckenraketen in der Luft.

Montag, 5. Oktober


Eine weißlichgraue Wolkendecke. Das Dröhnen des Laubbläsers. In ihm eine herbstliche Wacholderheide, öde Albhochfläche, weltfern. Er will heute nichts wissen. Kleines Gedankengetier wimmelt lästig in den Hecken. Aber er schweigt hartnäckig. Er beharrt auf seinem Nichtwissen. Ich weiß nichts, sagt er. Nein, ich weiß gar nichts mehr. Habe alles vergessen. Der Herbst naht gleichmütig.

Manchmal denkt er, dass er sich die Wut hält wie ein Haustier. Immer wieder hat sie fünf Minuten, in denen sie freigelassen wird. Wut worauf? Er könnte vor Enge aus der Haut fahren – nein: Er wollte aus diesem Leben fahren und hineinfahren in ein wohltuend anderes.

Zündholzschachtel. Ein harmloses, beruhigendes Wort. Klingt nach der kleinen Ordnung in der Küche. Nach dem Liegen auf dem Fensterbrett. Nach der angerissenen Flamme für die Petroleumlampe oder den Teewärmer oder die Stumpenkerze auf dem Tisch. Nach der Stille, wenn die Flamme brennt. Nach dem Zurücklegen an ihren Platz, dem leisen Rütteln der Zündholzer im Schächtelchen. Danach, dass jetzt das Eigentliche kommt.

Dienstag, 6. Oktober


Auf dem Balkon unter grauem Himmel raucht er seine Olivenholzpfeife, gestopft mit dem Auenlandtabak. Der Tabak schmeckt nach Nuss, Kakao und Malz. Tatsächlich raucht er ihn aber in Hobbingen vor der Tür auf der Bank, riecht Gras und Kraut. Heute erwartet er Besuch aus dem Zwergenland, oder Tom Bombadill schaut auf einem seiner Streifzüge vorbei. Ein Fass Bier ist noch da, und Brot und Käse gehen auch nicht aus.

Anna fehlt ihm. Er spürt es am ganzen Körper. Ein verlorener Tag.

Mittwoch, 7. Oktober


Morgens um sechs nimmt er in der Küche seine Tabletten. Morgens sieben und abends vier: Blutdruck, Cholesterin, Diabetes, Sodbrennen, Wassertablette, Risperidon und Paroxat. Er lebt damit. Ohne die Tabletten würde er es nicht aushalten. Sie geben Stabilität und erleichtern den Tag.

Ja, er braucht Hilfe.

Er raucht seine Rhodesian mit dem Vierkantholm, gestopft mit dem Nachtmützentabak. Die Schwaden ziehen auf dem Balkon davon, mit einem würzig-rauchigen Duft nach behaglichen Kaminzimmern und alter Oxford-Gelehrsamkeit.

Indianerkräuter. Tabakersatz. Damiana, Himbeerblätter und Nachtkerze. Es ist heute nichts. Er wartet bloß, bis der Tag überstanden ist. Er freut sich auf Anna. Aber er ist auch in einer Beziehung mit Gott, zweifellos. Er braucht dazu gar nichts zu tun. Oder doch: die Beziehung gestalten, sie pflegen, sie leben. Tag für Tag. Das ist jetzt die Erfüllung.

Donnerstag, 8. Oktober


Welche Tiere er mag oder welche ihm etwas bedeuten (unvollständig): Fuchs, Dachs, Igel, Eichhörnchen, Feldhamster, Maulwurf, Siebenschläfer, Bienen, Hummeln, Grashüpfer, Meise, Amsel, Waldkauz, Wanderfalke, Wiedehopf, Eisvogel, Salamander, Hecht, Luchs, Wolf, Delfin, Jaguar, Kleiner Panda, Okapi, Plumplori, Orang-Utan, Papagei, Kea, Tasmanischer Tiger (†). Interessanter als diese Liste sind jeweils die Gründe, warum sie ihm etwas bedeuten.

Samstag, 10. Oktober


Rainy Day heißt der Tabak. Hickorynuss und Tropenfrüchte. Auf dem Balkon rauscht es. Es ist kühl und unwirtlich. Keiner will heute das Haus verlassen. Sie lassen den Einkauf sausen und verkriechen sich zuhause.

Auf dem Sofa schmiegt sich Anna an ihn an und braucht ihn. Er braucht sie auch. Sie genießen die Behaglichkeit. Luftbilder der Halligen: die bizarre Formensprache der Wattlandschaft. Joshua Kimmich schießt das Eins zu Null gegen die Ukraine.

Sonntag, 11. Oktober


Bedeckter Himmel. Die Blecheinfassung des Flachdachs. Das Rufen der Krähen. Das gelbe und grüne Laub des Ahorns. Herbstsonntag. Der ruhige Rauchgang der Pfeife. Die Süße des vor sich hin glimmenden Black Cavendish. Ein Tag für Grünkohl mit Pinkel. Ein gelingender Tag.

Montag, 12. Oktober


Er überarbeitet seine Autobiografie weiter. Die Dachzimmerwohnung damals bei seinem Bruder. Die drohende Einberufung. Die Schuld an Gerda. Die Ausweglosigkeit. Der Suizidversuch. Librium und Anafranil. Fast vierzig Jahre ist das her. Und alles an einem grauen, verregneten Tag im Oktober.

Muss er wirklich einen Roman daraus machen? Es ist keine gute Idee, sich an so einem Tag mit der eigenen Lebensgeschichte zu beschäftigen.

Vor lauter Ärger geht ihm ständig seine Pfeife aus. Die schöne Vikingpfeife von Stanwell mit dem Virginia Flake. Vermutlich falsch gestopft. Nein, die Bedrückung bleibt. Ein verdrossener Tag.

Sechs Uhr abends. Hitomoshi: Zeit, die Lampen zu entzünden. Auf dem Teetisch brennt die Kerze. Eine Schale mit Spekulatius, Dominosteinen und Lebkuchen. Ein Film über Amrum. Lichterstuben in meerblauer Dämmerung. Fenster mit den sanften Wölbungen des Reetdaches. Teebüchsen im Regal hinter dem Tresen. Anna bereitet in der Küche das Abendessen vor. Tagsüber hat es unter zehn Grad. Sie drehen die Heizung auf.

Hamam-Bad. Es duftet. Der Holzhocker fürs Bad ist mit der Post gekommen. Darauf finden das Badetuch und das Buch Platz. Das heimelige Freiheitsgefühl, nackt im Badezimmer zu stehen. Die Gänsehaut, wenn er die Beine im heißen Wasser ausstreckt. Das wohlige Schaudern, wenn er sich zurücklehnt aufs kalte Porzellan und das Wasser ihm über die Schultern schwappt. Die Mattigkeit, die aufkommt. Die Zartheit der Haut. Anna wartet mit dem Badetuch, als er aus der Wanne steigt. Eine frische Unterhose. Im Wohnzimmer ist eingeheizt. Ein frisches T-Shirt und Socken, und dann schlüpft er unter die Decke und schwitzt sich aus.

Dienstag, 13. Oktober


Die Bärin hält im Zoo Winterschlaf. In einem abgedunkelten Raum mit viel Heu. Als der Pfleger kommt, wacht sie auf und macht einen kleinen Rundgang im Gehege. Schnüffelt im Schnee, hustet, schaut sich um. Dann hat sie genug und zieht sich wieder in ihren Bau zurück.

Das will ich auch, denkt er. Winterschlaf halten. Ab und zu aufwachen und aufs Klo gehen, etwas essen oder trinken. Und sonst tief schlafen, bis der Frühling kommt. Aber das ist ja nicht erlaubt.

Mittwoch, 14. Oktober


Einen Kaffee trinken, eine Virginia rauchen...

Erscheint lt. Verlag 6.10.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7543-6971-7 / 3754369717
ISBN-13 978-3-7543-6971-5 / 9783754369715
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