Kindheit, Künstler, Kommunisten -  Dr. Sabine Neumann-Röder

Kindheit, Künstler, Kommunisten (eBook)

Auch das war Teil der Wiener Nachkriegskultur
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2021 | 1. Auflage
myMorawa von Dataform Media GmbH (Verlag)
978-3-99129-193-0 (ISBN)
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Dr. Sabine Neumann-Röder, geboren in Wien im Nachkriegsjahr 1946, Studium der Psychologie und Kunstgeschichte in Wien und Salzburg, beschreibt ihre Erinnerungen an ihr Leben als Kind und junge Erwachsene in einem nicht alltäglichen familiären und Freundes Umfeld in Wien der Nachkriegszeit. Dies ist keine Biographie der Autorin, Psychologin und Psychotherapeutin, es ist ein Bericht über Lebensverläufe von Freunden ihrer Familie, welche in dieser Zeit bei vielen Begegnungen erzählt und bleibende Erinnerungen wurden.

Dr. Sabine Neumann-Röder, geboren in Wien im Nachkriegsjahr 1946, Studium der Psychologie und Kunstgeschichte in Wien und Salzburg.

DER SEMPERHOF


SEMPERHOF, Wien 18, Semperstraße 58

Hätte meine Mutter gewusst, dass die Straße, in der sie wohnte, bevor sie 1894 nach dem Architekten Gottfried Semper5 benannt wurde, ursprünglich Leichenhof beziehungsweise Freithofstraße genannt wurde, wäre sie vielleicht nicht in den Semperhof gezogen.

Sie glaubte nämlich an Omen, besonders an unheilbringende, und hatte ein Faible für okkulte Erscheinungen. Sie war zum Beispiel überzeugt, dass einmal im Haus ihrer Freundin Annemarie in Bruck an der Mur ein Fürst Liechtenstein, mit seinem Kopf unter seinem Arm, an ihrem Bett erschienen war. Am nächsten Tag hätte man ihr erzählt, dass sich dieser Fürst in diesem Haus erhängt hatte.

Ob die Vormieterin, die sich in der Wohnung in der Semperstraße Top 3 ebenfalls erhängt hatte, auch in Erscheinung getreten war, weiß ich nicht. Vielleicht aber spukte sie nicht bei erklärten Anti-Nazis.

In der Nachbarwohnung wohnte Frau Hertzka. Sie war damals schon eine alte, durch Osteoporose sehr verkrümmte Frau. Ihre weißen Haare hatte sie zu einem Knoten gebunden und die nicht zu bändigenden Strähnen mit Kämmen festgesteckt. Sie trug stets lange Röcke und Blusen. Ihre Füße steckten, in Relation zu ihrer kleinen Gestalt, in überdimensional großen orthopädischen Schuhen. So schien es, dass dieses krumme, kleine Weiblein dank seiner riesigen Füße nicht umfallen konnte. Wenn sie für sich neue Schuhe anfertigen ließ, gab sie die alten unserer Haushälterin, die sie freudig entgegennahm. Ihrer Meinung nach zahlte es sich nicht mehr aus, eigene neue Schuhe zu kaufen. Frau Hertzka wohnte schon ewige Zeiten in dem Haus und kannte alle Mieter. Sie wusste, wer die Nazis waren und wer sich anständig verhielt. Sie war Witwe, ihr jüdischer Mann war gestorben, bevor die Verfolgungen begannen. Sie hatte einen Sohn, der 1941 als Arzt nach Pottendorf dienstverpflichtet wurde und der sie regelmäßig besuchte. Da war auch der fanatische Nazi im Parterre, der sich sofort nach dem „Umbruch“ erschoss.

Außerdem gab es den geheimnisvollen, stets sehr bescheidenen Mann, dessen Familie fast unsichtbar war und um den sich laut Frau Hertzka das Gerücht rankte, dass er mit der Regimentskasse durchgegangen war. Und da war die schon erwähnte Frau Holländer, die der Untergang des Dritten Reiches in den Selbstmord getrieben hatte.

Das waren die Hausparteien, mit denen Frau Hertzka keinen Kontakt pflegte.

Gegenüber den anderen war sie gnädiger gestimmt. Da war der jüdische Bankdirektor, der dank seiner arischen Frau den Krieg überlebte. Er und seine Frau waren immer zu zweit zu sehen. Als sie starb, ging er mit der Schwester der Verstorbenen, die ihr genaues Ebenbild war, eine Partnerschaft ein. Als auch diese verstarb, konvertierte er zum katholischen Glauben und wurde von einem sehr aufmerksamen Pfarrer betreut. Dieser wurde für seine Fürsorge durch reichliche Zuwendungen entlohnt, die sicherlich seiner Gemeinde zugutekamen, und die Kirche als Alleinerbe seines stattlichen Vermögens eingesetzt. Die restlichen Hausbewohner waren harmlos. Im ersten Stock wohnte eine sehr kultivierte Dame mit ihrer Tochter, darüber ein Universitätsprofessor mit seiner strengen Frau, einer Lehrerin.

Ihnen gegenüber wohnte eine Witwe, die großen Kummer mit einer ihrer beiden Töchter hatte, weil diese unter psychischen Problemen litt.

Ganz oben in der Atelierwohnung wohnte ein Kohlenhändler mit Frau und Tochter und darunter ein sehr beleibtes Ehepaar, angeblich Fleischhauer von Beruf.

Von einer Gemeinschaft war in diesem Haus nichts zu bemerken. Man grüßte sich immerhin höflich. Nur mit meinen Eltern pflegte Frau Hertzka näheren Umgang. Wenn sonst niemand auf mich aufpassen konnte oder wollte, hatte sie ein Auge auf mich, wenn meine Eltern ausgingen. Meine Mutter weihte sie in die Geheimnisse der gehobenen Wiener Küche ein. Ihre Topfenknödel waren legendär. Einmal beherbergte sie einen über zwei Meter großen Berliner Verwandten meiner Mutter. Der musste sich, wenn sie mit ihm sprach, weit weg in eine Ecke stellen, da sie ihn sonst nicht überblicken konnte. Wenn sie kochte – das tat sie oft und gern und für eine Person stets zu viel –, brachte sie ihre Köstlichkeiten herüber.

Also ein konfliktfreies, harmonisches Nachbarschaftsverhältnis.

Doch eines Tages sollte sich dieses dramatisch ändern. Frau Hertzka erwarb einen Fernsehapparat. Schwarz-Weiß und gesendet wurde nur am Abend. Nach Sendeschluss erschien ein schwarz-weißes Testbild, zu dem die Österreichische Bundeshymne ertönte. Um nicht allein vor dem Gerät zu sitzen, lud sie meine Eltern dazu ein. Was am Anfang recht nett war, entwickelte sich so langsam zur Plage. Die gemeinsamen Fernsehabende wurden zum Zwang. Wenn sich meine Eltern manchmal verweigerten, herrschte schlechte Stimmung. Also kamen sie am darauffolgenden Abend wieder. Frau Hertzka war dann wieder zufrieden. Da saß sie klein und krumm in einem riesigen Ohrwaschelsessel6 in der ersten Reihe, die Füße auf einem Schemel, ein riesiges Hörgerät an ihrem Ohr. Gebannt starrte sie auf den Fernsehschirm. Reden durfte keiner, da sie sonst durch zu viele Geräusche gestört wurde. Um dem abendlichen Zwang zu entfliehen, schafften sich meine Eltern einen eigenen Apparat an.

Der totale Bruch war da. Es gab keine Köstlichkeiten mehr, keine Kochrezepte, keine Kitschromane, die sie von einem Lesezirkel bezog und an meine Mutter weitergab, keine Plauscherln. Sie kappte jeglichen Kontakt. Der Ausdauer meiner Mutter und ihre Bereitschaft zu tätiger Reue war es zu verdanken, dass sich die Beziehungen normalisierten. Aber so wie früher wurde es nie wieder.

Eine Quelle häufiger Aufregungen waren die Bewohner der Portiersloge. Dort wohnte die Hausmeisterin mit ihrem Mann, einem Maurer, und ihren drei Söhnen Willi, Schurli und Hermann, ebenfalls von Beruf Maurer. Willis Brüder Georg, genannt Schurli, und der jüngste, Hermann, sowie Willi selbst wohnten alle auf 40 Quadratmetern mit ihren Eltern in der Hausmeisterwohnung. Es gab ein Wohn-/Schlafzimmer, in dem die Brüder schliefen, ein WC innen, einen kleinen Vorraum, eine Küche und ein Kammerl. Im Kammerl logierten die Eltern, das Leben spielte sich in der Küche ab. Die männlichen Familienmitglieder waren also allesamt Maurer. Die Mutter war unsere Hausmeisterin, meine Mutter bezeichnete sie als Concierge. Sie war klein, rundlich, ihr Busen hing ihr bis zum Bauch. Ihre Haare waren grau, schütter und eine alte Dauerwelle ließen sie zu Berge stehen. Sie lächelte immer und dabei waren ihre beiden verbliebenen Zähne zu sehen. Einer links oben und der Zweite rechts unten.

Es gab auch weibliche Familienmitglieder, Schwestern der drei Brüder, aber die wurden gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben, denn der Senior konnte „die Stuten nicht brauchen“. Um wie viele Schwestern es sich handelte, weiß ich nicht, es waren aber mehr als zwei. Eine davon lernten die Brüder, ohne zu wissen, wer sie war, auf einer Baustelle kennen. Die Brüder mauerten und das Mädchen war die Baustellenschreiberin. Alle drei verliebten sich in sie, alle drei machten ihr den Hof. Doch plötzlich, eines Tages – warum, weiß ich nicht – entdeckten sie, dass die junge Dame ihre Schwester war. Sie luden sie nach Hause ein, um sie ihren Eltern vorzustellen. Sie kam, sah und ergriff schaudernd die Flucht.

Die Portiersloge war direkt unter der Wohnung meiner Eltern, und wenn es dort Zoff gab, und den gab es öfter, läutete es nach einiger Zeit an unserer Tür. „Herr Direktor, bitte kumman‘s, der Willi wü uns schon wieder abstechen.“ Mit ernster, nachdenklicher Miene zog mein Vater dann seine Hausjacke aus und eine Strickjacke mit zwei aufgenähten Taschen an. In die eine Tasche steckte er ein Päckchen Zigaretten und in die andere sein Feuerzeug. Dann zündete er noch eine Zigarette an und ging wortlos mit der Hilfesuchenden hinunter. Meine Mutter rief ihm dann immer mit den gleichen Worten wenig aufgeregt nach: „Ich bitte dich, bleib da, wer weiß, was dem Besoffenen jetzt wieder einfällt.“

Nach längerer Zeit kehrte dann mein Vater, sichtbar genervt, zurück. Auf die Frage „Na, was jetzt?“, kam stets die Antwort „Jetzt schläft er, ist vom Sessel gefallen, Vollrausch“. Manchmal brachte mein Vater auch das Küchenmesser mit, mit dem Willi seine Familie bedroht hatte. Willi war der Schönste der drei Brüder. Er war groß, blond und blauäugig. Er hatte Talent zum Boxer, das auch – so wurde berichtet – der Boxerlegende Lazek7 auffiel. Leider aber verhinderte – laut Gerüchtebörse – Willis exzessiver Alkoholkonsum eine erfolgreiche Boxer-Karriere und Lazek ließ ihn schweren Herzens fallen.

Was Willis Alkoholikerkarriere betrifft, so begann diese schon in seiner Kindheit. Seine Mutter verabreichte nämlich ihren Söhnen, wenn diese weinten und unruhig waren, Mohnzutzel und ein Stamperl Rum. Eine Maßnahme, die sie als effizient pries und auch meiner Mutter empfahl. Bei Willi führte diese effiziente Maßnahme aber dazu, dass er sich zu Tode soff. Wenn er im Vollrausch vom Branntweiner nach Hause torkelte, fiel er im Stiegenhaus um und schlief ein.

Da lag er dann und die Gäste meiner Eltern hatten den Nervenkitzel, ob sie beim Kommen oder Gehen über ihn drübersteigen müssten. Die Gäste waren angespannt, meine Eltern nahmen es gelassen.

Für mich war das hausmeisterliche Ambiente exotisch und faszinierend, und so entwischte ich bisweilen meinen Aufsichtspersonen, um unten einzukehren. Dort wurde ich begeistert aufgenommen, vielleicht tröstete ich sie über den Verlust der weggegebenen Töchter hinweg. Meiner Mutter waren meine damaligen Ausflüge nicht sympathisch, meine Betreuer ließen sie aber gerne...

Erscheint lt. Verlag 3.8.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
ISBN-10 3-99129-193-2 / 3991291932
ISBN-13 978-3-99129-193-0 / 9783991291930
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