M. Der Mann der Vorsehung (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
640 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11659-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

M. Der Mann der Vorsehung -  Antonio Scurati
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»Der zweite Teil des beispiellosen literarischen Unterfangens von Antonio Scurati.« La Stampa Antonio Scurati setzt sein weltweit gefeiertes Epos über den Faschismus fort: Zu Beginn des Jahres 1925 siecht Benito Mussolini seinem Ende entgegen. Das jahrelange Tauziehen um den obersten Posten des Landes fordert offenbar seinen Tribut. Doch der jüngste Premierminister in der Geschichte Italiens weigert sich, an einem einfachen Magengeschwür zu verenden. Das Bild des glorreich siegenden Duce, der sich den Mord an Matteotti wie einen Verdienst ans Revers geheftet hat, scheint in weite Ferne gerückt. Zur Befriedung der Zänkereien zwischen seinen Gefolgsleuten setzt er andere ein; die ungestüme Tochter Edda verheiratet er kurzerhand mit Galeazzo Ciano; Badoglio und Graziani werden mit der afrikanischen Mission betraut, die im Grauen von Giftgas und Konzentrationslagern mündet. Antonio Scurati schreibt den Weg von »M. Der Sohn des Jahrhunderts« auf beeindruckende Weise fort: Mit Hilfe der Verflechtung von Erzählung und Originalquellen entreißt er die Schlüsselfiguren und -ereignisse der Jahre 1925 bis 1932 dem Vergessen und findet einen ebenso intimen wie transparenten Zugang zur Person Mussolini. Der Roman endet mit dem zehnten Jahrestag der Revolution, als M. das gespenstische Denkmal für die faschistischen Märtyrer errichten lässt, das mehr noch als an vergangene Tote an heraufziehende Katastrophen zu gemahnen scheint.

Antonio Scurati, 1969 in Neapel geboren, ist Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Mailand und schreibt für die Zeitungen Corriere della Sera and El País. Seine Romane sind in viele Sprachen übersetzt und wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Premio Mondello und dem Premio Campiello. Sein großes Romanprojekt zum Aufstieg des Faschismus in Europa machte ihn international berühmt. Alle drei erschienenen Bücher standen auf Platz eins der italienischen Bestsellerliste. Für »M. Der Sohn des Jahrhunderts« erhielt den wichtigsten Literaturpreis Italiens, den Premio Strega; »M. Der Mann der Vorsehung« wurde mit dem Prix du Livre Européen ausgezeichnet.

Antonio Scurati, 1969 in Neapel geboren, ist Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Mailand und schreibt für die Zeitungen Corriere della Sera and El País. Seine Romane sind in viele Sprachen übersetzt und wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Premio Mondello und dem Premio Campiello. Sein großes Romanprojekt zum Aufstieg des Faschismus in Europa machte ihn international berühmt. Alle drei erschienenen Bücher standen auf Platz eins der italienischen Bestsellerliste. Für »M. Der Sohn des Jahrhunderts« erhielt den wichtigsten Literaturpreis Italiens, den Premio Strega; »M. Der Mann der Vorsehung« wurde mit dem Prix du Livre Européen ausgezeichnet. Verena von Koskull, geboren 1970, studierte Italienisch und Englisch für Übersetzer sowie Kunstgeschichte in Berlin und Bologna. Seit 2002 ist sie als Literaturübersetzerin tätig, außerdem übersetzt sie für die Wochenzeitung DIE ZEIT.

Quinto Navarra, Benito Mussolini
Rom, 23. März 1925


»Hört ihr, der erste Applaus gilt immer Navarra.«

Mit der Hand weist Benito Mussolini auf Quinto Navarra, seinen Amtsdiener. Die Funktionäre lachen. Chiavolini, Federzoni und die anderen faschistischen Parteigrößen, die den Duce bei seinem ersten öffentlichen Auftritt nach der Krankheit begleiten, lachen über seinen Scherz. Aus voller Kehle. Im Halbdunkel des Siegessaales im Palazzo Chigi brechen die Schwarzhemden in schallendes Gelächter aus. Sie schütten sich aus vor Lachen über die geistreiche Bemerkung dieses Mannes, der Musik liebt, Gesang jedoch hasst, der gern auf der Geige fiedelt und sich auf Volksfesten sogar zu einem Tänzchen mit »seinen« Bäuerinnen hinreißen lässt, der aber nur selten einen Witz macht und den noch niemand hat singen hören. Der Duce zeigt sich höchst geschmeichelt und kann seine Befriedigung nur mühsam verbergen.

Quinto Navarra tritt als Erster vor die Menge, die unter dem Balkon an der Ecke Via del Corso und Piazza Colonna auf die Ansprache des Duce wartet. Nachdem er die Fenstertür geöffnet hat und die Stoßwelle des Jubels von der Straße über ihn hinweggerollt ist, zieht er sich in eine Ecke des Saales zurück. Dies ist sein Platz: der Schattenkegel versteckter Flure. Die weit geöffnete Fenstertür indes lässt das Frühlingslicht des römischen Spätvormittages ein. Die Menschenmenge ist nicht zu sehen, sie ist nur Geräusch. Von der westlichen Brise gebläht, tanzen die Vorhänge ins Zimmer, der leere Balkon erwartet ihn.

Er ist noch rekonvaleszent. Seit Wochen beratschlagen die Ärzte über die beste Therapie: Einige neigen zu einem chirurgischen Eingriff, andere zu eiserner Diät und absoluter Ruhe. Kaum zwei Tage zuvor hat sich eine weitere Koryphäe der Medizinerschar angeschlossen. Auf Drängen Margherita Sarfattis hat sich Bellom Pescarolo, namhafter Neuropathologe jüdischer Herkunft, Experte für bösartige Tumore und Hausarzt der königlichen Familie, heimlich in die Via Rasella begeben. Bei seiner ersten persönlichen Begegnung mit dem Duce trat Pescarolo einem sichtlich kranken Mann gegenüber. Benito Mussolini erschien ihm ausgemergelt, von den Durchfallattacken dehydriert, geschwächt von der fast ausschließlich auf Milch basierenden Diät. Der Arzt riet von jeglicher Anstrengung ab.

Doch heute jährt sich die Gründung der faschistischen Kampfbünde zum sechsten Mal, der ergebene Quinto Navarra hat die Fenstertür weit geöffnet, und Benito Mussolini muss zu der Menge sprechen. Bloß nicht die Herrschaft über die Massen verlieren: Das lange Schweigen zwischen der Menge und ihren Anführern schadet Letzteren enorm.

Sich von der Lobhudelei der Parteifunktionäre aufrichten lassen, die behaupten, er habe »den Schwung jugendlicher Schlankheit« zurück? Unwahrscheinlich. Sich am Zauber des Anfangs, an der Erinnerung jener ersten Versammlung im halbleeren Saal des Industrie- und Handelsverbands an der Piazza San Sepolcro in Mailand im März 1919 festhalten? Unmöglich. Kaum sechs Jahre sind vergangen, und doch sind diese knapp hundert aufgekratzten Heimkehrer, die den Faschismus gründeten, zu einer jubelnden Menge, ist diese verstiegene, wenige Hundert Anhänger starke Bewegung zu einer Partei mit mehr als einer halben Million Mitgliedern angewachsen. Dieser bei den sozialistischen Genossen von einst verhasste, von den Spießbürgern gefürchtete und von allen abgeschriebene Glücksritter der Politik ist nun der Regierungschef einer ihm zu Füßen liegenden Nation.

Wo also die Kraft hernehmen, um nach den Ohnmachten, dem Durchfall, den blutigen Brechanfällen wieder zum Dialog mit der Menge zu finden? Ein Blick in die Runde ist keine Hilfe: Die faschistische Revolution dümpelt im Grau in Grau der Unsicherheit. Der einzige entschlossene Schritt während der Wochen seiner Genesung hatte darin bestanden, die Führungsriege des Nationalen Frontkämpferbundes abzuservieren, die sich in den Monaten zuvor der faschistischen Gewalt entgegengestellt hatte. Ansonsten setzte der Genesende auf taktisches Lavieren: Das Projekt zur Reform der Streitkräfte ging zurück an den Senat, mit der Wahlrechtsreform wurde ein Ältestenrat betraut, und selbst das entschlossene Durchgreifen von Minister De Stefani beim Börsensystem ließ der Duce trotz des deutlichen Widerwillens der Industrie durchgehen. Sogar der unerhörte, ausgerechnet von faschistischen Gewerkschaftern – die doch für sozialen Frieden sorgen sollten – organisierte Streik der Metallarbeiter in Brescia, angeführt von diesem eifrigen Provinzsekretär, scharfsinnigen Journalisten, glühenden Idealisten und meisterhaften Fechter Augusto Turati, der den Fabrikanten von Brescia Antipatriotismus vorwarf, weil sie eine Lohnerhöhung verweigerten – selbst der wurde toleriert.

Die Gerüchte über die Komplotte Federzonis, Farinaccis und wessen sonst noch alles machen weiter die Runde, die verzweifelten Lügen der Sozialisten, die ihn für tot erklären, gären vor sich hin, die faschistischen Metallarbeiter streiken wie die Kommunisten, die Freimaurer intrigieren, die Spekulanten spekulieren, die Aktienmärkte sind im Sinkflug, die Sparer befällt Panik, das Misstrauen in die Lira beschleunigt die Kapitalflucht. Woher also jetzt die Kraft nehmen, um zu dieser anbetenden Menge zu sprechen?

Ganz klar: aus der Kraft selbst. Woher sonst?

In dem Artikel, den er für die Februar-Ausgabe der Zeitschrift Gerarchia verfasst und der Sarfatti gegeben hat, steht es klar und deutlich. Der Faschismus ist eine Religion, und in sämtlichen Religionen existiert seit jeher nur ein einziges heiliges Wort: gehorcht! Wenn er an die schweren Prüfungen denkt, die er seiner Gefolgsschar in diesen sechs Jahren und erst recht in den letzten Monaten auferlegt hat, wenn er an die zahllosen ihm trotz allem entgegengebrachten Verehrungsbezeigungen denkt, ist alles verraucht: Die Bitterkeit ob des Verrats, der Schwäche des Fleisches, selbst die erbärmliche Arglist von Anhängern und Widersachern ist dann verraucht. Es bleibt der Stolz des Anführers, der getreu dem ehernen Gesetz des Krieges Gehorsam übt und Gehorsam erntet.

Aus ihnen, seinen Nachläufern, hirnlos und unermüdlich wie Schlittenhunde, wird er seine Kraft schöpfen. Politik ist beileibe keine Wissenschaft, Politik ist Kunst, blinde Wahrsagerei. Jenseits der Politik zu leben, ist reinstes Vegetieren, doch für ihn bedeutet leben etwas ganz anderes. Für ihn bedeutet es Kampf, Risiko, Beharrlichkeit.

Zackig setzt sich Benito Mussolini in Bewegung und tritt auf den Balkon hinaus. Der Menge, die ihn zur Mittagsstunde des 23. März 1925 an der Ecke Via del Corso und Piazza Colonna auftauchen sieht, kann seine kränkliche Magerkeit, sein abgezehrter Kiefer nicht entgehen. Doch sie erblickt ihn lebend, nachdem sie schon seinen Tod befürchtet hat, und das lässt sie jubeln. Eine Welle schierer Begeisterung rollt gegen die Renaissancefassade des Palazzo Chigi.

»Schwarzhemden Roms! Ich kann dem Bedürfnis, euch meine Stimme hören zu lassen, nicht widerstehen. Nicht nur, weil euch dies erfreuen wird …«

Rufe der Menge: Ja! Ja!

»… sondern auch, um zu zeigen, dass die Krankheit mich nicht hat verstummen lassen.«

Rufe der Menge: Gut!

Mit einer sachten Handbewegung bittet der Redner die Menge um Ruhe. Er hat wenig Zeit und will noch ein paar Worte loswerden:

»Meine Gegenwart auf diesem Balkon lässt ein Kartenhaus aus lächerlichen ›es heißt‹ und kläglichen ›man munkelt‹ mit einem Streich zusammenfallen. Ich aber will euch sagen, dass es Frühling ist und nun das Schöne beginnt. Das Schöne für mich und für euch ist die totale, allumfassende Fortsetzung der faschistischen Aktion, immer, überall und gegen jeden.«

Rufe der Menge: Ja! Ja!

»Wollt ihr das?«

Die riesige Menge stößt einen einzigen gewaltigen Schrei aus: Ja!

Der Präsident lächelt, hebt dankend die Hand. Er wirkt tatsächlich zufrieden: In großen historischen Krisen wollen die Völker klare Ansagen, sie scharen sich um die Fahnen, die am kräftigsten leuchten.

Ehe er sich zurückzieht, wirft Benito Mussolini eine Frühlingsblume auf den Platz. Sie wird von einem jungen Avanguardista gefangen, wie die Regimepresse später berichtet.

Mit einem schnellen, diskreten und...

Erscheint lt. Verlag 18.9.2021
Übersetzer Verena von Koskull
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Faschismus • Feldzug • Italien • Krankheit • Lybien • Machtergreifung • Mussolini • Populismus • Propaganda
ISBN-10 3-608-11659-1 / 3608116591
ISBN-13 978-3-608-11659-5 / 9783608116595
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