Im Menschen muss alles herrlich sein (eBook)
384 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76956-0 (ISBN)
In ihrem gefeierten Roman erzählt Sasha Marianna Salzmann von Umbruchzeiten, von der »Fleischwolf-Zeit« der Perestroika bis ins Deutschland der Gegenwart. Sie erzählt, wie Systeme zerfallen und Menschen vom Sog der Ereignisse mitgerissen werden. Bildstark, voller Empathie und mit großer Intensität.
»Was sehen sie, wenn sie mit ihren Sowjetaugen durch die Gardinen in den Hof einer ostdeutschen Stadt schauen?«, fragt sich Nina, wenn sie an ihre Mutter Tatjana und deren Freundin Lena denkt, die Mitte der neunziger Jahre die Ukraine verließen, in Jena strandeten und dort noch einmal von vorne begannen. Lenas Tochter Edi hat längst aufgehört zu fragen, sie will mit ihrer Herkunft nichts zu tun haben. Bis Lenas fünfzigster Geburtstag die vier Frauen wieder zusammenbringt und sie erkennen müssen, dass sie alle eine Geschichte teilen.
Sasha Marianna Salzmann ist Theaterautor:in, Essayist:in und Dramaturg:in. Salzmanns Theaterstücke, die international aufgeführt werden, wurden vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Kunstpreis Berlin 2020 und dem Kleist-Preis 2024. <em>Außer sich</em>, Salzmanns Debütroman, wurde 2017 mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung und dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Er ist in sechzehn Sprachen übersetzt. Für den zweiten Roman, <em>Im Menschen muss alles herrlich sein</em>, ebenfalls für den Deutschen Buchpreis nominiert, erhielt Salzmann den Preis der Literaturhäuser 2022 und den Hermann-Hesse-Preis 2022.
Steinehüpfen
Natürlich wollte ich wissen, was passiert ist. Was überhaupt passiert ist, bevor Edi im Hof zusammengeschlagen wurde. Sie lag auf der Wiese, ihre Haare ganz bleich und schmutzig. Meine Mutter kniete neben ihr, Tante Lena brüllte die beiden zusammen. Alle drei gestikulierten, als vertrieben sie Geister. Als sie mich sahen, fingen sie an zu weinen, eine nach der anderen, wie eine Matroschka: aus den Tränen der einen wurden die Tränen der Nächsten und so weiter. Zuerst legte meine Mutter los, dann stimmten die anderen mit ein, ein Kanon an Jammerlauten, ich konnte das, was sie von sich gaben, überhaupt nicht auseinanderhalten.
Gut, warum meine Mutter nach der langen Funkstille feuchte Augen bekam, als sie mich da stehen sah, ist mir klar, aber die beiden anderen hatten wohl was miteinander auszufechten. Mutter und Tochter, die eine lag auf dem Boden, als wäre sie ein Schatten, den die andere warf. Und andersrum schien die eine aus den Füßen der anderen hochzuwachsen wie ein Strauch mit gebrochenen Zweigen. Tante Lena hatte einen grünen Hosenanzug an, der um ihren Körper schlackerte, ich hätte sie fast nicht erkannt. Ich habe die Strampler ihrer Tochter getragen, ich habe an ihrem Küchentisch für Klassenarbeiten und Prüfungen gepaukt, ich habe mitten in der Nacht an ihrer Tür geklingelt, wenn ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten habe, aber das ist lange her, und einen Moment lang war ich mir nicht sicher, ob es tatsächlich Lena war, die ihr auf dem Boden zusammengekrümmtes Kind anblaffte: »Warum treibst du dich hier draußen herum, was machst du nur?«
Edi sah ramponiert, aber nicht betrunken aus, sie behauptete allerdings im vollen Ernst, im Hof zwischen den Plattenbauten eine Giraffe gesehen zu haben. Die soll hier herumspaziert sein, mit der Schnauze ins Gras gepickt und in die Fenster der anliegenden Häuser gelinst haben. Das ist vielleicht der Osten hier, aber Giraffen haben wir, soweit ich weiß, keine, so ein Vieh gibt es hier nicht.
Edi war lange nicht hier gewesen, das merkte man an ihren Haaren, und an den Klamotten, an denen vor allem. Ich hatte mit ihr ohnehin wenig zu tun gehabt, auch als sie noch bei ihren Eltern wohnte, obwohl ich an deren Küchentisch Hausaufgaben machte. Ich war zu jung für sie, außerdem kam sie nie herein, um sich ein Brot zu machen oder einen Tee, wenn ich da war. Die Tür zu ihrem Zimmer hatte einen milchigen Glaseinsatz, durch den ich sehen konnte, wie sie das Licht an- und ausknipste, grundlos, am Tag oder am Abend, an und aus, an und aus. Irgendwann war das Glas zerbrochen, da ragten nur noch ein paar Zacken aus dem Rahmen, niemand sagte etwas dazu, ich fragte nicht nach, und bald gab es ein Ersatzglas, als sei nie etwas vorgefallen. Edi war damals ziemlich unauffällig, schwarze Haare, schwarze Jeans, schwarzes Shirt. Würde ich sie heute auf der Straße treffen, würde ich an ihr vorbeilaufen, so bunt gekleidet ist sie mittlerweile. Ich erkannte sie nur, weil ihre Mutter neben ihr stand und sie anbrüllte. Und weil es meine Mutter war, die versuchte, den Streit zu schlichten. Wieder und wieder ging ein Reigen an Beschuldigungen los, Tante Lena fauchte meine Mutter an: »Warum verheimlichst du mir – weißt du nicht –?«, und meine Mutter zurück: »Es geht niemanden etwas an, wenn ich sterbe.«
Blöder Zeitpunkt für mich, in das Gespräch einzusteigen, sie war noch mitten im Satz, als ihre Augen an mir hängenblieben, und dann wurde sie plötzlich ganz steif, als habe die Zeit einen Sprung gekriegt. Zack. Sie sieht mich an, ich sehe sie an.
Sie hat graue Haare bekommen, irgendetwas wirkte ganz gequetscht in ihr, auch wenn sie versuchte, schick auszusehen. Sie färbt sich die Haare, seit einer Weile schon, die waren am Anfang des Abends bestimmt noch ordentlich frisiert gewesen, aber jetzt waren die Strähnen zerzaust, und man sah den silbernen Ansatz. Ihre Tränensäcke wölbten sich vor, aber das konnte auch daran liegen, dass ich über ihr stand, aus dieser Perspektive sieht jeder schräg aus. Sie wirkte klein, an ihrem Scheitel vorbei sah ich auf ihre Hände, in dem Netz der Linien war Dreck, vermutlich hatte sie versucht, Edi auf die Beine zu stellen.
Ich war nicht überrascht, dass sie in der Stadt war, Onkel Lew hatte mir zugesteckt, dass sie zur Fete in die Jüdische Gemeinde kommen würde, das heißt, eigentlich kam er ganz offiziell, um es mir mitzuteilen und eine Versöhnung einzufordern, eine ganz feierliche Familienzusammenführung, er kam im frischen Hemd, seine Nasenflügel blähten sich, er hatte die besten Absichten, aber ich musste ihn enttäuschen. Als er sah, dass seine Versuche nichts brachten, wollte er mir ein schlechtes Gewissen machen, mit der eigenen Mutter breche man nicht, man habe sie zu lieben, ganz egal, was ist, aber ich denke, ich muss sie weder lieben noch nicht lieben, sie ist meine Mutter, und mehr ist dazu nicht zu sagen. Die Sache ist, wie sie ist.
Ich war einfach so an dem Abend draußen gewesen, schaute mir die Abendspaziergänger an, nichts Besonderes. Der Geruch der Straßen verändert sich in der Dämmerung, wird säuerlicher, ich mag das, aber an dem Abend roch ich verbrannten Zucker, hörte Schreie und dachte, ich sehe mal nach.
Im ersten Moment war ich froh, dass es nicht meine Mutter war, die da vermöbelt im Gras lag, dann merkte ich, dass ich nicht mehr fühlte als das. Lebe. Lass mich in Ruhe.
Vor kurzem schien es hier noch ein kleines Feuer gegeben zu haben, wir standen neben einem Haufen von verbranntem Papier, gewellte, zusammengeschnürte Bündel, überzogen mit Ruß, ganz schön eigentlich, ich glaube, es roch nach Cola, nach bitterem Karamell, der Geruch kitzelte in der Nase, Tante Lena kriegte einen Niesanfall. Wer auch immer hier zwischen den Häusern ein kleines Picknick hatte veranstalten wollen, war entweder vertrieben worden oder hatte schnell aufbrechen müssen, und was Edi damit zu tun hatte und warum die halbe Mischpoche der Jüdischen Gemeinde im zweiten Stock aus den Fenstern hing und zu uns heruntergaffte, war nicht aus den Frauen herauszukriegen. Sie weinten, wollten sich aber trotzdem keine Blöße geben. Sozialistische Manieren: Wenn man Gefühle hat, zeigt man der ganzen Welt, wie sehr man verletzt ist, aber versucht, sich zu beherrschen.
Wir standen umrahmt von Balkonen, an deren Geländer die immer gleiche Fahne flatterte, als würden ihre Besitzer vergessen, wo sie sich befänden, wenn sie nicht das Stück Stoff draußen im Wind wehen ließen. Das ist vor allem deshalb witzig, weil bei vielen der Bewohner, zumindest bei denen, die ich kenne, die Fahne am Gitter nichts mit dem Wappen auf dem Umschlag ihrer Pässe zu tun hat.
Keine der drei wollte zurück auf die Party, im Hof liegen lassen konnte man sie auch nicht, die eine dreckig, gebleicht, verbeult, die andere mit verheultem Gesicht und dann noch meine Mutter, mit ihren zerzausten Haaren, die gerade behauptet hatte, dass es niemanden was anginge, wenn sie stirbt. Ich fragte sie, ob sie sich bei mir frischmachen wollen. Es schien mir richtig, ihnen anzubieten, sich an meinem Küchentisch auszuruhen. Wir gingen eilig, wortlos, als hätten wir Angst, dass uns jemand folgt, ich hörte das Gummigeräusch meiner Sohlen auf dem Asphalt.
Zu Hause stürzte Tante Lena gleich zum Spülbecken, hielt einen Lappen unters kalte Wasser und legte ihn Edi auf die Stirn. Ich drückte den Knopf des Wasserkochers und ignorierte die Blicke meiner Mutter, die Art und Weise, wie sie mein Sofa mit geweiteten Augen musterte, in jeder Ritze hängenblieb, als versuche sie, sich alles einzuprägen. Sie war zum ersten Mal hier, sie sah sogar die offenen Chipstüten auf dem Boden liebevoll an. Ich ignorierte die Stimme in meinem Kopf, die zischte, die Wohnung sei dreckig, klein und dunkel. Die einzige freie Wand war behängt mit einem riesigen Path-of-Exile-Poster, auf dem der Himmel düster war und das Blut spritzte. Es roch nach der Barbecue-Soße der Chicken Wings, die neben meiner Tastatur lagen, die Vorhänge waren zugezogen, der Computer lief, auf dem Bildschirm knallten sich Völker ab, das Rauschen des Lüfters füllte mir die Lunge.
Wir sagten eine Weile nichts. Dass Mamas Hände zittrig waren, sah ich an der Oberfläche des Tees, der Wellen schlug, als hüpften winzige Steine darüber, aber sie hatte ein ruhiges Gesicht und ganz große Augen, als glaube sie nicht, dass sie mich sieht. Und ich glaubte ihr auch...
Erscheint lt. Verlag | 12.9.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
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ISBN-10 | 3-518-76956-1 / 3518769561 |
ISBN-13 | 978-3-518-76956-0 / 9783518769560 |
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