Wie weiter? (eBook)

25 literarische Aussichten zum Ruhrgebiet
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Aufl. 2021
222 Seiten
Eichborn (Verlag)
978-3-7517-1634-5 (ISBN)

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Wie weiter?
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25 Autor:innen wagen einen literarischen Blick in die Zukunft des Ruhrgebiets; ob es die große utopische Vision ist oder eher der Tunnelblick zur nächsten S-Bahn.
Das weit gefasste Thema »Zukunft« wird vielfältig bearbeitet - in Gedichten und Balladen, Geschichten und Comics; ernsthaft, humoristisch, lyrisch, satirisch.


Mit Beiträgen von so unterschiedlichen Fans der Region wie Dirk Kurbjuweit, Lütfiye Güzel, Frank Goosen, Thomas Gsella, Marion Poschmann, Jörg Thadeusz, Nora Gomringer, Feridun Zaimoglu, Marie-Luise Marjan u.v.a.


Wiedergänger


Von Dirk Kurbjuweit

Ich warte, ich schaue auf die Uhr, gleich Mittag, wo bleibt Leo? Ich gehe ins Schlafzimmer, schiebe die Gardine zur Seite, schaue auf die Straße. Es schneit immer noch, ich glaube, es hat die ganze Nacht geschneit. Die Welt ist weiß, aber nicht hell. Niemand draußen, keine Spuren im Schnee, der schräg vom Himmel fällt. Starker Wind offenbar. Zurück ins Wohnzimmer, ich setze mich aufs Sofa, in die Ecke, in der mein Onkel immer saß bei unseren Familienfesten, lange her. Vor ihm auf dem niedrigen Tisch drei Untersetzer, einer für die Bierflasche, einer für das Bierglas, einer für den Schnaps. Wicküler, es gab ausschließlich Wicküler Pils bei meinen Großeltern, Männer wie wir – Wicküler Bier. Ich stehe auf, gehe zum Schrank, öffne die Tür. Kein Schnaps, nur eine angebrochene Flasche Eierlikör. Wir Kinder bekamen immer einen Fingerhut voll Eierlikör. Ich schraube den Verschluss auf, rieche, er scheint noch gut zu sein, nach all den Jahren, in denen niemand mehr in dieser Wohnung war. Soll ich Leo einen Eierlikör anbieten? Erst entscheide ich mich dafür, dann dagegen. Ich schließe die Schranktür, setze mich auf die Sofaseite, auf der mein Vater immer saß; kein Schnaps, kein Bier. Ich muss fahren, sagte er, wenn sein Schwiegervater ihm Getränke anbot. Ihm wurde dann Zitronenlimonade serviert, wie uns Kindern. Sechs Enkel waren wir.

Zurück ins Schlafzimmer, ich stehe wieder am Fenster, halte die Gardine so, dass ich gut nach draußen schauen kann. Meine Oma stand oft hier, hat alles beobachtet. Ich sehe nur Leere, blicke in Düsternis. Der Wind heult. Plötzlich ein Lichtschein, ein Taxi schleicht heran, Schnee türmt sich auf dem Dach, sodass es höher wirkt, als käme es aus einer Zeit, in der die Männer noch Hüte trugen, auch in den Autos. Ein Mann steigt aus, er trägt eine dicke Pelzjacke, dazu eine Pelzmütze, Fellschuhe. Aus der Ferne wirkt er wie ein Bär. Er schaut in meine Richtung, ich winke.

Leo sitzt auf dem Sofa, in der Ecke meines Vaters. Ich habe mich in den breiten Sessel meines Großvaters gesetzt. Wir trinken Wasser. Danke, dass du gekommen bist, sage ich. Wir sind beide befangen, verlegen fast, begegnen uns zum ersten Mal. Ohnehin bin ich es nicht mehr gewohnt, Menschen zu treffen. Leo hat kurz von seinem langen Flug erzählt, er ist erst heute Morgen eingetroffen, wirkt aber nicht müde. Wahrscheinlich ist er Erste Klasse geflogen, denke ich, frage aber nicht, weil das unhöflich wirken könnte, als hielte ich ihn für einen Snob, was mir fernliegt. Plötzlich schäme ich mich für die kleine Wohnung meiner Großeltern, die karge Einrichtung, den Staub der vielen Jahre. Andererseits sieht es hier so aus, wie es bei den Nachbarn aussieht, mit Ausnahme des Staubes, und dieser Gedanke befreit mich aus meiner Scham. Leo kennt das von seiner Großmutter. Er weiß, wie man in Oer-Erkenschwick wohnt.

Wollen wir dann, frage ich und erhebe mich. Ich bringe ihm den Pelzmantel und die Pelzmütze, beides nicht so edel, wie ich es bei ihm erwartet hätte, eher derb. Wir fahren mit der Straßenbahn, sage ich, die Haltestelle ist gleich um die Ecke, bei der Kokerei. Also da, wo früher die Kokerei war. Sie wurde abgerissen, danach war die Luft besser, und wir konnten das Gemüse essen, das mein Großvater in seiner Gartenparzelle angebaut hat. Vorher war es oft schwarz und schmeckte, soweit ich mich erinnere, bitter, selbst wenn es gründlich gewaschen war.

Wir stehen an der Haltestelle und warten. Wir warten schon eine ganze Weile. Es ist kalt, minus acht Grad, habe ich in meiner Wetter-App gesehen. Zum Glück hat der Wind nachgelassen. Stille, eine tiefe, unheimliche Stille beherrscht die Straße, kein Auto, kein Passant. Der Schnee liegt einen halben Meter hoch. Wir stehen geduckt, verkrümmt, kleiner, schmaler als sonst, als könnte uns das vor der Kälte schützen. Wenn die Straßenbahn in fünf Minuten nicht da ist, rufe ich uns ein Taxi, sage ich. Das wäre schade, weil meine Mutter damals, in den Fünfzigerjahren, auch mit der Straßenbahn gefahren ist, von Oer-Erkenschwick nach Recklinghausen, wo sie bei Karstadt gearbeitet hat. Und ich möchte, dass wir, Leo und ich, es genauso machen wie damals meine Mutter. Mit der Straßenbahn nach Recklinghausen und dann zu Karstadt. Heute eröffnen sie wieder, endlich, nach so langer Zeit, kann man wieder bei Karstadt in Recklinghausen einkaufen. Es gibt ein kleines Fest, und Leo wird ein paar Worte sagen. Meine Eltern werden auch da sein. Ich habe sie lange nicht mehr gesehen.

Die Straßenbahn kommt nicht. Ich schaue noch einmal auf den Fahrplan, der im Wartehäuschen hängt, und jetzt fällt mir auf, dass hier nur von einem Bus die Rede ist, als gäbe es keine Straßenbahn mehr. Es kommt aber auch kein Bus. Ich ziehe meine Fäustlinge aus, hole mein Handy aus der Jackentasche und will die Taxi-App öffnen, aber meine Hände sind zu kalt, zu steif, trotz der Handschuhe, um irgendetwas mit dem Handy anfangen zu können. Ich reibe sie eine Weile aneinander, bis es mir gelingt, in die Taxi-App zu schauen. Die Straßen seien, lese ich, derzeit nicht befahrbar, der Betrieb sei vorübergehend eingestellt.

Ich muss zu Karstadt nach Recklinghausen, seit Monaten freue ich mich auf diesen Termin. Der Gedanke, dass das Haus wieder aufmacht, hat mich durch den Winter getragen, durch diese trübe, leere Zeit. Weil ich dieses Ereignis so ersehne, weil es so existenziell wichtig für mich ist, habe ich mich überwunden und Leo eine Mail geschrieben, über seine Agentur, habe von unseren Müttern berichtet und einen Scan eines handgeschriebenen Briefes seiner Mutter Irmhild an meine beigefügt. In Bremerhaven hat sie ihn abgeschickt, kurz bevor sie mit einem Schiff nach Amerika abgedampft ist. Mir ist das schwergefallen, weil sich bestimmt viele Leute mit einer Bitte an Leo wenden, aber wegen unserer Mütter, dachte ich schließlich, kann ich vielleicht auf Wohlwollen rechnen. Und so war es auch. Jetzt ist er hier, und nicht zuletzt weil er hier ist und an der Wiedereröffnung teilnehmen wird, gibt es diese Wiedereröffnung überhaupt, glaube ich. Das Haus erlangt damit vielleicht einen Weltruf, so wie das KaDeWe in Berlin.

Es tut mir leid, aber wir müssen laufen, sage ich zu Leo, der im Stehen trippelt, um sich warmzuhalten. Es ist nicht weit bis Recklinghausen, sage ich, ungefähr neun Kilometer, das schaffen wir in zwei, drei Stunden, dann sind wir noch rechtzeitig da. Am besten wir gehen gleich los. Mir ist das sehr unangenehm, aber da er diesen dicken Pelz trägt, halte ich den kleinen Marsch trotz des widrigen Wetters für zumutbar. Meine Eltern sind diese Strecke auch schon gelaufen, in die entgegengesetzte Richtung allerdings, wenn sie, nach einer Betriebsfeier zum Beispiel, die letzte Straßenbahn verpasst hatten. Sie liefen zusammen bis Oer-Erkenschwick, dann verabschiedeten sie sich vor dem Haus, in dem ich eben Leo empfangen habe, und mein Vater zog alleine weiter nach Datteln, wo er damals bei seinen Eltern lebte. Es war undenkbar, dass er bei meiner Mutter übernachtete. Meine Oma war sittsam und streng.

Hier hat mein Opa unter Tage gearbeitet, sage ich zu Leo, als wir die Zeche entlanggehen. Auch sie ist längst stillgelegt. Mein Opa, erzähle ich, hatte vor dem Krieg einen Job bei der Reichsbahn, er schloss sich dann der SA an, weißt du, was die SA war, frage ich Leo, der mir zu nicken scheint, soweit ich das im Schnee erkennen kann, der nun dichter fällt. Dann war er Soldat, Frankreich, Russland, er lag vor Moskau, Jugoslawien, wieder Russland, dann Gefangenschaft, ein paar Jahre Sibirien, und 1948 kam er zurück, wurde aber nicht entnazifiziert, weshalb er nicht mehr bei der Bahn arbeiten durfte. Weißt du, was das bedeutet, Leo, nicht entnazifiziert, frage ich und bleibe stehen, ungefähr auf Höhe des Zechentors. Er muss schlimme Dinge getan haben, sage ich, ohne auf Leos Antwort zu warten, grauenhafte Dinge, denn die meisten Deutschen wurden entnazifiziert, auch wenn sie Nazis gewesen waren. Mein Opa aber nicht, und deshalb musste er auf der Zeche arbeiten, um seine Frau und seine beiden Töchter zu ernähren. In tausend Meter Tiefe, in einem engen Streb. I don’t know the English word for Streb, sage ich. Like a tight tunnel, sage ich, very tight, Leo. Dort hat mein Opa mit einem Hammer Kohle abgebaut, und dabei haben sie ihn eines Tages vergessen, als sie eine Sprengung machten. Er wurde verschüttet, viele Knochen gebrochen, das Gesicht zerschlagen, er hat’s überlebt, aber arbeiten konnte er danach nicht mehr. Komm, Leo, wir müssen weiter, sage ich und laufe weiter, biege nach links ab in die Fußgängerzone.

Für den Wind ist der breite Weg eine willkommene Schneise, eine Rennbahn. Er rast uns entgegen, wirft uns die Schneeflocken ins Gesicht, und das, was sonst so zart und weich ist, trifft uns wie Geschosse. Mit einem schnellen Griff rette ich meine Mütze, die sonst unwiederbringlich verloren wäre. Ich halte sie am Kopf fest, aber bald sind meine Hände eisig, und jetzt weiß ich nicht mehr, was ich tun soll. Halte ich die Mütze fest, frieren meine Finger ab, lasse ich die Mütze los, wird mein Kopf eiskalt. Plötzlich blitzt ein Messer neben mir auf, Leo hat es offenbar aus seiner Tasche gezogen, ein großes Messer mit einem Griff aus Holz. Damit zeigt er auf meinen Kopf. Mich überfallen zwei Gedanken gleichzeitig: Warum hat er so ein großes Messer dabei? Warum ist es auf meinen Kopf gerichtet? Noch ehe ich Antworten finde, reißt mir Leo die Mütze vom Kopf und schneidet zwei Schlitze hinein. Mit einem Lächeln gibt er sie mir zurück. Ich setze sie auf, ziehe sie tief nach unten, dass sie mein Gesicht bedeckt wie eine Maske, und richte sie so aus, dass ich durch die beiden Schlitze schauen kann. Der Wind kann mir die Mütze...

Erscheint lt. Verlag 30.9.2021
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Original-Titel Wie weiter?
Themenwelt Literatur Anthologien
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 100 Jahre • Anthologie • Bergbau • Bochum • BVB • Dirk Kurbjuweit • Dortmund • Duisburg • Essen • Feridun Zaimoglu • Förderturm • Frank Goosen • Fritz Eckenga • Fußball • Gelsenkirchen • Heimat • Jörg Thadeusz • Jubiläum • literarische Unterhaltung • literaturgebiet.ruhr • Marie-Luise Marjan • Marion Poschmann • Mühlheim • Oberhausen • Olga Grjasnowa • Recklinghausen • Ruhrgebiet • Ruhrpott • Sammelband • Schalke • Trinkhalle • Zechen • Zukunft • Zukunftsvisionen
ISBN-10 3-7517-1634-3 / 3751716343
ISBN-13 978-3-7517-1634-5 / 9783751716345
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