Kafka gelesen (eBook)

Eine Anthologie

Sebastian Guggolz (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
272 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491906-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kafka gelesen -
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»Kafka gelesen« versammelt 27 zeitgenössische Autorinnen und Autoren, die über ihr Verhältnis zu Franz Kafka und seinem Werk schreiben. Persönlich, künstlerisch, anekdotisch, bewegend oder lustig. Als Franz Kafka vor 100 Jahren starb, war die Welt eine andere. Doch bis in unsere Gegenwart des 21. Jahrhunderts haben seine Romane, Parabeln, seine Tagebücher und unvergleichlichen Briefe nichts von ihrer originellen oder verstörenden, berührenden und immer auch tröstlichen Wirkung eingebüßt. Im Gegenteil: Dass seine Werke, sein Leben und sein Blick auf die Welt gerade in dieser Gegenwart, in der wir leben, eine Menge über uns selbst erzählen und dass Franz Kafka für heute Schreibende ungebrochen ein Fixpunkt der Moderne ist, zeigt dieser Band.  27 deutschsprachige und internationale Autorinnen, bildende Künstler, Denkerinnen und Lyriker schreiben über das, was in ihren Augen das Überzeitliche, das drängend Aktuelle dieses jüdischen, deutschen Jahrhundertschriftstellers aus Prag ausmacht.

In ihrer Vielfältigkeit beweist die Sammlung, dass wir mit Kafka noch lange nicht fertig sind

[...] veranschaulichen die unterschiedlichen Sichtweisen und zeigen, dass Kafkas Werke bis in unsere Gegenwart nichts an Aktualität und Wirkung eingebüßt haben [...].

[...] eine Anthologie, die diese Vielfalt der Wirkungen in den Stimmen gegenwärtiger Autoren wiedergibt.

Sie verführen dazu, den Prager Schriftsteller neu und wieder zu lesen.

Dieser große Effekt, den Kafka auf viele denkende und schreibende Menschen hat.

Jeder Leser wird sich daher diese breit angelegte Sammlung mit Gewinn zu Gemüte führen.

Patricia Görg

Ins Endlose


»Aller Nebel war schon verschwunden, in der Ferne erglänzte ein hohes Gebirge, das mit welligem Kamm in noch ferneren Sonnendunst führte.«

(Der Verschollene)

Auf dem Fußboden einer fast unmöblierten Hamburger Wohnung sitzt 1983 Danièle Huillet, neben ihr auf einem Stuhl ihr Partner Jean-Marie Straub. Die beiden Filmemacher proben »trocken«, mit wenigen, nur näherungsweisen Requisiten, zwei Szenen aus Kafkas Romanfragment Der Verschollene. In der anderen Ecke des Zimmers hockt Harun Farocki mit einer Bierflasche in der Hand als Gauner Delamarche auf dem Boden – und lässt, selbst Filmemacher, nebenbei eine laufende Kamera jene Probenarbeiten dokumentieren.

Straub und Huillet fordern ihren Darstellern sehr viele Wiederholungen ab, bis sie einigermaßen einverstanden sind mit dem entstehenden Sprachkörper. Denn das ist ihr Markenzeichen: Literatur absolut ernst zu nehmen, indem sie Schau-Spiel und psychologisierendes Fleisch, das sie beglaubigen soll, eliminieren oder aufs Zeichenhafte reduzieren, während Sprache ihren starken physischen Auftritt hat. Sowohl mit Profis als auch mit Laien erarbeiten sie einen je eigenen Sprechrhythmus, oftmals aus dem Atemrhythmus der jeweiligen Person – was zu ungewohnten, nicht nach gängigen Erwartungen betonten Sequenzen und ebenso irritierenden Zäsuren im Text führt. Eine Art Sprechoper scheint den Stoff zu überformen. Wie findet man sich da zurecht? »Statuarik!«, »Künstlichkeit!« lauten die Formeln der Ablehnung. Statt des üblichen Erzählkinos, programmiert wie ein Massagesessel für Emotionen, erlebt man bei Straub/Huillet ausgenüchterte, verdichtete Szenen, lange Einstellungen und eine Deklamation, die befremdet, weil sie die Verhältnisse selbst zum Sprechen bringen soll.

Ihr Schwarzweißfilm, der – zum Glück! – gar keine Verfilmung sein will, heißt Klassenverhältnisse.

 

Zwischen 1912 und 1914, mit längeren Pausen, einmal ganz von vorne ansetzend, schreibt Kafka an seinem Amerika-Roman. Schließlich bricht er ab.

Sein Protagonist Karl Roßmann ist bis dahin im Land der begrenzten Möglichkeiten einem Schicksals-Mahlstrom erlegen, der ihn Umdrehung für Umdrehung in ähnliche Situationen bringt, dabei aber immer weiter nach unten zieht. Obwohl ihm der vorgeblich wohlmeinende Onkel schon am Anfang einbläut, er solle »lernen, seine Stellung zu begreifen«, erweist sich diese als äußerst fragil. Im Laufe der Handlung verliert er das einzige Foto seiner fernen Eltern, den Militärkoffer des Vaters mitsamt den wenigen Habseligkeiten und sogar seine Restfreiheit, denn er gerät in quälende Gefangenschaft. Was ihm bleibt, ist Kafkas schlackenlose, einzigartige Sprache, von einem Verhängnis ins nächste führend, ein angelesenes Amerika ausmalend, in dem der Mensch ins System eingepasst ist wie das Rädchen einer Maschine – natürlich stets ersetzbar durch Bauteile gleicher Machart.

Karl kommt nirgendwo zur Ruhe, auch nicht nachts: »Er wählte also eine beliebige Richtung und machte sich auf den Weg.«

 

In den Harburger Bergen, auf langmähnigem Gras, drehen Straub/Huillet eine Episode, die sie ausgiebig im Zimmer geprobt haben. Sie spielt während der Nacht. Der Darsteller des Karl Roßmann kniet vor seinem aufgebrochenen Koffer, sagt: »Ich kann die Photographie nicht finden.« Zwei Repliken weiter beteuern die Gauner Delamarche und Robinson: »Jeder Irrtum ist ausgeschlossen, in dem Koffer war keine Photographie.« Pechschwarzer Wald, aus dem die Stämme alter Bäume schimmern, liegt rings um das Geschehen. Durchs Scheinwerferlicht torkeln immer wieder Falter, werden aus dem Bild gewedelt. Obwohl es sich um Außenaufnahmen handelt, obwohl Jean-Marie Straub die Crew anweist, mit dem nächsten Take zu warten, bis das Geräusch einer entfernten Eisenbahn verklungen ist, wirkt die Szenerie wie im Studio nachgebaut. Sie ist dermaßen aufs Elementare rückgeführt, dass die darin auftretenden Personen sofort zu Figuren werden: Die beiden lagernden Gauner erscheinen als das lungernde, lauernde Böse, ein Kellner als helfende Hand, Karl vor dem geöffneten Koffer als Parzival seines Geschicks.

Straub/Huillet sparen nicht an Filmmaterial. Sie investieren um die 13 Takes pro Szene, weil sie wissen, dass sich ihr Kern, eine lakonische, stahlharte Wahrheit, erst nach so vielen Versuchen herauszuschälen beginnt, man sie erst dann sehen und hören kann.

Karl, einmal mehr damit beschäftigt, seine Haut zu retten, wandert in die nächste Falle.

 

Kafkas Schreiben, von scheinbar einfacher Klarheit, ist atemberaubend enigmatisch. Noch jeder verirrt sich in seinem Labyrinth aus unaufgelöster Schuld, in der Untergründigkeit dessen, was selbst nach mehrmaligem Lesen nicht deutlicher, sondern nur immer bodenloser wird.

Der Verschollene macht in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Im düsteren Dreigestirn der unvollendeten Romane ist er jedoch derjenige, dessen darin herrschendes »Gesetz«, normalerweise stets das Gesetz des eigenen Untergangs, nicht an halb mythische Instanzen wie das Gericht oder einen Schlossherrn gekoppelt ist. Auch wenn Karl Roßmann von Anfang an als Verstoßener eingeführt wird, wirkt an ihm, durchaus greifbar, die Verwertungslogik des Kapitalismus. Es ist beileibe kein Lapsus, wenn Kafka in der Eingangsszene, in der das Schiff des Fortgeschickten in den New Yorker Hafen einfährt, die Freiheitsstatue mit einem Schwert statt einer Fackel schildert.

Abgesehen vom fast grotesk märchenhaft aufgestiegenen Onkel und seinem Umfeld bevölkern abgearbeitete, einsame Menschen, Überflüssige und Ausgesetzte den Roman. Sie werden eingepasst in die Abläufe oder ausgeschieden, und getreu der amerikanischen Devise, den individuellen Traum niemals aufzugeben, bemüht sich auch Karl, wieder auf die Füße zu kommen, solange die Verhältnisse ihn nicht gänzlich bezwungen haben. Sie spielen allerdings mit ihm, wie die Katze mit der gefangenen Maus spielt, gaukeln ihm vor, es gäbe noch ein Entrinnen.

Kafka wäre nicht Kafka, würde sich das Herauslesbare darin erschöpfen. Er schafft zusätzlich einen ungreifbaren, magischen Mehrwert: die allgegenwärtige Fremdheit, einen Schwindel der Existenz, in dessen Strudel wir mitgerissen werden, ohne zu wissen, wohin.

 

Vielleicht das Schönste an Straub/Huillets Film sind seine leeren Räume. Wenn Karl in einer Schiffskajüte auf den Heizer und seine Klagen trifft, ihn zum Aufstand bewegt und sie zusammen die winzige Kammer verlassen, bleibt die Kamera einfach da, fasst ruhig, mit unverwandtem Blick, jene nur von Relikten des Menschen bevölkerte Szene ins Auge, die sich nicht empört.

Aufgerichtete Wände bleiben. Eine karierte Tischdecke bleibt, eine erkaltete Pfeife, ein Seesack. Ein Ventilator an der Wand, falls es zu heiß hergeht. Die geöffnete Tür und zwei Lichtschalter. Man hört, wie Karl und der Heizer eine Treppe hochsteigen, sich entfernen.

Manchmal pausiert die Kamera auch bei Nebenfiguren, während die Hauptfiguren sich weiter durchs Labyrinth des Lebens winden: Das Küchenmädchen Line sinnt ihnen rauchend nach.

Später ist eine verwaiste Kaimauer im Bild, mit einer tapferen Pflanze an ihrem Rand. Zuvor schritten der Onkel und Karl dort entlang, der Onkel seine Mär vom Aufstieg aus dem Nichts vortragend.

Ebenso ragt der Park des Bankiers Pollunder als Überhang in den Film, sich selbst überlassen, nachdem Pollunder und Karl in ihm angekommen und ins Haus gegangen sind. Wind streichelt Bäume. Sie wollen nichts von Dramen wissen. Eine ungewöhnliche Einstellung.

Sie zeigt: Die Verhältnisse bleiben bestehen, während die Figuren sich zwischen ihnen bewegen.

 

Kafka, so gut wie nie zufrieden mit seinem Schreiben, empfand auch den Verschollenen als Unglücksprojekt. Zwar breitet er die ganze Pracht des Versagens in einem fiktiven Amerika aus, aber etwas in ihm weiß wohl, dass die Gelegenheiten seines Protagonisten, zu scheitern, so unbegrenzt und riesig sind wie das echte Land Amerika.

Zur Erklärung, warum er an diesem Roman nicht mehr weiterarbeite, dient die Aussage, er führe »ins Endlose«.

 

Die Spekulationen über den geplanten Schluss des Verschollenen, befeuert von Max Brods Erlösungshoffnungen, haben lange das scheinbar paradiesische Kapitel des »Großen Theaters von Oklahama« als positive Utopie und letztliche Rettung des Karl Roßmann sehen wollen. Dies ist jedoch durchaus nicht sicher. Weder weiß man, an welcher Stelle das Phantombild eines Unternehmens, das angeblich »jeden brauchen kann«, eingefügt worden wäre, noch sind die zynischen Untertöne zu überhören, die mit schräg Trompete blasenden, varietéhaften Werbeengeln anheben und während einer Musterung der spärlichen Interessenten, ausgerechnet auf einer Rennbahn, nicht enden. Dass die Angeworbenen dann mitten im Willkommensessen aufgescheucht und verladen werden, um Gott weiß wohin gebracht zu werden, vervollkommnet die Zweifel.

Wie kann man die offene Struktur der vorhandenen letzten, fragmentarischen Passagen darstellen?, müssen sich Jean-Marie Straub und Danièle Huillet gefragt haben.

Ihr Film ist eine Parallele zum Roman, und da Parallelen sich im Unendlichen schneiden, gelingt ihnen genau dort, in jenem Fluchtpunkt Kafkas, seine verblüffend großartige Widerspiegelung:

Karl, unerklärlich wie durch ein Wurmloch seinem Gefängnis entkommen, liest an einer Hauswand das Werbeplakat derer, die jeden willkommen heißen, untermalt von Johann Sebastian Bach, der einzigen externen Musik des ganzen...

Erscheint lt. Verlag 13.3.2024
Zusatzinfo Mit 33 sw-Schnitten
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Anthologien
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anspruchsvolle Literatur • Anthologie • Ein Buch von S. Fischer • Franz Kafka • Gegenwartsliteratur • Jahrhundertschriftsteller • Kafka-Lektüre
ISBN-10 3-10-491906-2 / 3104919062
ISBN-13 978-3-10-491906-5 / 9783104919065
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