Tal der Herrlichkeiten (eBook)

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2021 | 1. Auflage
260 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-0045-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tal der Herrlichkeiten -  Anne Weber
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In einer kleinen Hafenstadt am Nordatlantik lebt Sperber, ein Mann mittleren Alters, ein einsames und tristes Leben. Während er eines Morgens am Kai entlanggeht, erscheint wie aus dem Nichts eine Fremde, die ihn kommentarlos auf die Lippen küsst und sogleich verschwindet. Dieses Ereignis reißt Sperber aus seinem Alltag, erweckt eine Sehnsucht, die ihm nichts anderes übrig lässt, als sich sofort auf die Suche nach dieser mysteriösen Frau zu begeben. Schließlich wird er sie in Paris finden. Ihr Name ist Luchs, ihr fehlt ein Finger und sie arbeitet im Hôtel-Dieu. Viel mehr erfährt er nicht über sie, doch die Liebe, die an den Ufern des Atlantiks ihren Anfang nahm, überwältigt ihn. In einer unvergleichlichen Intensität erleben die beiden Liebenden die nächsten Tage miteinander. Doch dann geschieht das Unvorstellbare und Sperber bleibt aufs Neue allein zurück. Anne Webers großes Buch über den Verlust und die Hoffnung öffnet den Weg zu einem Universum, zu dem wir nur dank der Fantasie und der Liebe Zugang haben.

Anne Weber, 1964 in Offenbach geboren, lebt seit 1983 als freie Autorin und Übersetzerin in Paris. Sie hat sowohl aus dem Deutschen ins Französische übersetzt (u. a. Sibylle Lewitscharoff, Wilhelm Genazino) als auch umgekehrt (Pierre Michon, Marguerite Duras). Ihre eigenen Bücher schreibt sie sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache. Ihre Werke wurden u. a. mit dem Heimito von Doderer-Literaturpreis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literaturpreis, dem Johann-Heinrich-Voß-Preis und dem Solothurner Literaturpreis 2024 ausgezeichnet. 2024 erhielt sie außerdem den Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis. Für ihr Buch Annette, ein Heldinnenepos wurde Anne Weber mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet.

Die Schriftstellerin und Übersetzerin Anne Weber wurde 1964 in Offenbach geboren und lebt seit 1983 in Paris. Sie hat sowohl aus dem Deutschen ins Französische übersetzt (u.a. Sibylle Lewitscharoff, Wilhelm Genazino) als auch umgekehrt (Pierre Michon, Marguerite Duras). Ihre eigenen Büchern schreibt sie sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache. Ihre Werke wurden u. a. mit dem Heimito von Doderer-Literaturpreis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literaturpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis ausgezeichnet. Beim S. Fischer Verlag sind u.a. erschienen: Luft und Liebe, Ahnen und Kirio. Bei Matthes & Seitz Berlin sind ihre Übersetzungen der Werke von Georges Perros erschienen: Luftschnappen war sein Beruf und Klebebilder. Für ihr Buch Annette, ein Heldinnenepos wurde Anne Weber mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet.

3


Die Kirchturmglocke läutete, als wäre der Glöckner betrunken oder als fiele ihm jemand ständig in den Arm und wollte ihn daran hindern, am Glockenstrick zu ziehen: erst zweimal zögernd, dann nach einer kleinen Pause dreimal hintereinander, worauf ein einzelner Schlag folgte, dann vier stolpernde und schließlich noch zwei. Es war zwölf Uhr mittags. Eine Männerstimme überschlug sich: Ici! Ici!, das zweite i ein Nadelstich, doch der Hund sprang weiter auf Sperber zu, der vor Hunden keine Angst hatte und ungerührt den Kai entlangging, wobei er bei jedem Schritt, wenn ein Fuß in der Luft schwebte, Daumen und Zeigefinger der rechten Hand dreimal kurz aneinandertippte. Auch von den Rhythmusstörungen der Glocke hatte er sich beim Gehen und Fingertippen nicht beirren lassen. Von Jugend an hatte er solche Ticks gekannt, von denen das Nicht-auf-die-Ritzen-zwischen-den-Pflastersteinen-Treten einer der ersten und harmlosesten gewesen war. Schon lange hatte er aufgehört, gegen diese Zwänge anzukämpfen, so wie er schon lange nicht mehr versuchte, seine Gedanken von bestimmten Gegenständen, Menschen oder Orten fernzuhalten. Stattdessen hatte er eine Strategie entwickelt, mit deren Hilfe er zumindest die Illusion aufrechterhielt, seinen inneren Zwängen nicht gänzlich ausgeliefert zu sein, sondern eine gewisse Herrschaft über sie auszuüben. Indem er manche von ihnen bevorzugt behandelte, schläferte er die übrigen ein. Anders gesagt: Während er beim Gehen mit den Fingern tippte, brauchte er nicht die nackten und die von Tauwerk umschlungenen Poller zu zählen. Insgeheim nannte er das den »Sade-Trick«, weil er einmal gelesen hatte, der Marquis de Sade habe in einem der Gefängnisse, in denen er im Laufe seines Lebens eingesessen hatte, vielleicht in der Bastille, ein Schloss an der Innenseite seiner Kerkertür befestigen lassen. So konnte er zwar nicht aus seinem Gefängnis hinaus, aber solange er es nicht gestattete, konnte auch niemand zu ihm herein. Diese Entscheidung besaß eine komische Größe. Sie schien zu sagen: Innerhalb der Gefängnismauern des Lebens kann ich mir eine gewisse Freiheit ertrotzen. Ihr mögt diese winzige Freiheit lächerlich finden. Mir aber macht sie die Existenz erträglich.

Tiptiptip, linker Fuß auf dem Boden, tiptiptip, rechter Fuß auf dem Boden. Er ging nicht schnell, hatte Muße, die Bewegungen der Meeräschen zu verfolgen, die in trägen, glanzlosen Schwärmen das Hafenwasser durchforsteten.

Als er eine Hand auf seinem Arm spürte, drehte er verwundert den Kopf; er hatte die Frau nicht nahen sehen, wusste nicht, wo sie so plötzlich hergekommen war. Sein erster Blick erfasste sie nun ganz aus der Nähe, und auch das nur einen Atemzug lang; dann näherten sich ihre Lippen den seinen zum Kuss. Er wich weder zurück, noch neigte er sich vor, für einen Augenblick lagen ihre Lippen aneinander, nicht geöffnet, aber auch nicht fest geschlossen, weich und trocken. Als sie sich löste, drehte sie noch fast im selben Moment den Kopf, und wieder sah er ihr Gesicht nur flüchtig, oder flüchtend, aber ohne Hast, und gleich darauf schon nur mehr ihren kleinen, schnell noch kleiner werdenden Körper, den gleichmäßigen, ruhigen Gang, die schmalen Schultern und darüber, sanft schaukelnd, die Krone einer byzantinischen Königin.

Sperber zögerte, er blickte der Erscheinung nach, und einen Schritt lang sah es so aus, als wollte er ihr folgen, aber noch bevor sie hinter einer Hausecke verschwunden war, wandte er sich ab und ging weiter, wie zuvor zwei Fingerkuppen aneinandertippend, wenn ein Fuß in der Schwebe war. Er versuchte, sich ihr Gesicht zu vergegenwärtigen. Welche Form hatte es gehabt? Waren ihre Augen rund oder schmal, war ihre Stirn flach oder gewölbt gewesen? Er wusste es nicht. Es war, als hätte ihm jemand schalkhaft ein Bild vor die Nase gehalten und sofort wieder weggezogen oder als wäre das Frauengesicht von einem Blitz erhellt gewesen und wieder in der Dunkelheit verschwunden. Mit Bestimmtheit hatte er nur zwei Farben behalten: das fast schwarze Grün der Augen und den Glanz, wie von altem Gold, der Haare. Ein dicker, leuchtender Haarring hatte ihren Kopf umgeben, nicht geflochten, sondern nach außen umgeschlagen, eine Haartracht, wie sie schon lange keine junge Frau mehr trug. Und jung war sie doch gewesen? Noch nicht einmal das wusste er mit Gewissheit zu sagen. Jedenfalls nicht alt?

An der eisernen Fußgängerbrücke angekommen, die den bei Ebbe fast wasserlosen Fluss überquerte, blieb er stehen. Wie kam diese goldbekränzte Person dazu, unvermittelt und auf offener Straße, beinahe schon auf offenem Meer, einen ihr völlig fremden Mann zu küssen, der sie in keiner Weise zu solcher Zärtlichkeit ermutigt, ja ihr nicht einmal zugelächelt hatte, sondern vollauf mit der Freiheit in der Unfreiheit und den schattenhaften Bewegungen der Hafenfische beschäftigt gewesen war? Er war sich nicht sicher, ob er diese Berührung als spontanes Kompliment oder als Aggression, ja geradezu als Vergewaltigung auffassen sollte. Dreist war er in jedem Fall, dieser Kuss, und Sperber nahm sich vor, jenem blonden Geschöpf, sollte es sich auch bei näherem Hinsehen als von betörender Schönheit zeigen, diese Unverschämtheit heimzuzahlen.

Mit raschen Schritten ging er die gleiche Strecke wieder zurück und merkte, als er die Stelle erreicht hatte, wo er geküsst worden oder der Küsserin zum Opfer gefallen war, dass er den ganzen Rückweg über ohne Fingerkuppentippen und Pollerzählen ausgekommen war. Natürlich war die Frau nirgends zu sehen, war sie doch gleich nach vollbrachter Tat verschwunden. Er ging weiter, mit den Augen scheinwerfergleich die Bürgersteige und Hauseingänge durchfegend, bis er vor seiner Haustür angelangt war. Unschlüssig und ratlos blieb er stehen, und statt zu seinem Zimmer hochzusteigen, machte er sich daran, den Ort nach der frechen Blonden abzusuchen, und zwar systematisch, Straße für Straße, Gasse für Gasse, wobei er sich von den beiden fast nebeneinanderstehenden Kirchen, der mittelalterlichen und der neugotischen, in mehr oder weniger spiralenförmigen Kreisen entfernte.

Die Stadt war nicht groß. Doch war sie immerhin groß genug, um die Suche nach einer Frau, von der man lediglich die Haar- und Augenfarbe kannte und deren Gesichtszüge man sich mangels Zeit nicht hatte einprägen können, zu einer schon nach der ersten halben Stunde aussichtslos scheinenden Angelegenheit zu machen. Und wie sollte man sich in einem Laden nach jemandem erkundigen, den man nur so unzulänglich zu beschreiben wusste? Getrieben von der immer dringlicher werdenden Begierde, die Frau wiederzufinden, überwand Sperber seine Redescheu und begann, in verschiedenen Geschäften nach ihr zu fragen. Da er sie in der Stadt vorher noch nie gesehen hatte (und auch jetzt hatte er sie noch nicht wirklich gesehen), hielt er sie für eine Urlauberin, eine wahrscheinlich aus der Hauptstadt Angereiste, die ein paar Tage am Meer verbrachte, und so fragte er zuerst im Zeitungsladen nach ihr, wo sie Postkarten oder eine Illustrierte gekauft haben konnte. Er stellte sich vor, dass Frauen, vor allem im Urlaub, Zeitschriften lesen, aber war eine Frau, die fremde Männer belästigte – Sperbers Ärger über den Vorfall steigerte sich im selben Maße wie sein Bedürfnis, die Frau möglichst bald ausfindig zu machen –, wohl mit sogenannten weiblichen Eigenschaften ausgestattet?

Er versuchte, sich an ihre Kleidung zu erinnern, aber auch hier versagte sein Gedächtnis, als wäre er, während sich die Frau entfernt hatte und er doch eigentlich Gelegenheit gehabt hätte, sich ihre Erscheinung einzuprägen, mit etwas ganz anderem beschäftigt gewesen. Ihm schien, sie habe Hosen getragen, jedenfalls konnte er sich nicht daran erinnern, ihre Beine gesehen zu haben. Dunkel war sie gekleidet gewesen. Oder hatte er nur das Dunkle, Faserige seiner eigenen Sinne wahrgenommen?

Wassertropfen schwebten jetzt in der Luft, die von allen Seiten, auch vom Boden her zu kommen schienen und so winzig und fein waren, dass sie das Wort Tropfen kaum ausfüllen konnten. Mit jedem Schritt atmete Sperber diesen kalten Wasserstaub ein, der ihm die Lungen beschwerte wie Sägemehl.

Wie die meisten männlichen Bewohner dieser regnerischen Gegend besaß er keine wasserdichte Kleidung, stattdessen eine hüftlange Jacke aus eng gewobenem, festem Tuch, das die feindlichen Sprühregenangriffe lange abwehrte, aber am Ende doch aufgeben musste und, einmal vollgesogen, schwer wie Leder wurde. Aber der Regen hatte gerade erst eingesetzt, noch war es nicht so weit.

Der Zeitungsverkäufer wusste nichts, die Apothekerin hatte mehrere Kunden zu bedienen und schüttelte, als Sperber an die Reihe kam, nur den Kopf. Er trat in die Bäckerei ein, und um der Bäckerin nicht erzählen zu müssen, dass er nach einer Unbekannten suchte, erfand er eine kleine Geschichte, wonach er meinte, vorhin am Kai aus der Ferne seine Schwester erblickt zu haben.

Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen, erklärte er, und ich glaube, sie weiß auch gar nicht, wo ich heute lebe....

Erscheint lt. Verlag 12.8.2021
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bretagne • Euridyke • Frankreich • Leben nach dem Tod • Liebe • Liebesroman • Mythos • Orpheus • Romantik • Sterben • Tod • Unterwelt • Verlust
ISBN-10 3-7518-0045-X / 375180045X
ISBN-13 978-3-7518-0045-7 / 9783751800457
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