Der schwarze Winter (eBook)

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2021 | 1. Auflage
352 Seiten
Harpercollins (Verlag)
978-3-7499-5079-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der schwarze Winter - Clara Lindemann
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Zwei Schwestern kämpfen im Hungerwinter 1946/47 gemeinsam ums Überleben
Die eisige Kälte hat ganz Deutschland im Griff, und Silke Bensdorf und ihre Schwester Rosemarie müssen von dem Bauernhof fliehen, auf dem sie untergebracht waren. Die beiden jungen Frauen schlagen sich bis nach Hamburg durch, in der Hoffnung, dort Arbeit zu finden. Aber die Stadt liegt in Trümmern, und die Briten haben einen Zuzugsstopp verhängt - an eine Unterkunft und Essensmarken kommen sie nur noch über den Schwarzmarkt. Schnell begreifen sie: Auch hier ist das Leben rau, jeder sich selbst der Nächste. Sie schaffen es kaum, genug Lebensmittel aufzutreiben, um nicht zu verhungern. Bis die Schwestern zunehmend Erfolg im Schwarzmarkthandel haben und Silke sogar eine Bar für britische Soldaten eröffnet. Der fragile Erfolg droht jedoch zu kippen, als die Schwestern auf Händler treffen, denen die Frauen in ihrem Geschäft ein Dorn im Auge sind ...

»Akribisch recherchiert und mit zwei vielschichtigen Heldinnen im Zentrum des spannenden Plots, überzeugt Lindemanns Schmöker auf ganzer Linie.« Grazia, 28.10.2021



Clara Lindemann wurde 1967 in München geboren. Die Geschichten von Diktatur und Verfolgung und Krieg, von Zwangsarbeitern, Bomben und Städten in Ruinen, die sie als Kind erzählt bekam, prägten sie fürs Leben. Mit 20 verließ sie Deutschland, um im Ausland zu studieren und zu leben, überzeugt, der beste Schutz vor Nationalismus sei das tiefe Verständnis anderer Länder und Kulturen. Inzwischen lebt sie wieder in Deutschland und engagiert sich für die Gleichberechtigung und Diversität, wenn sie nicht gerade an einem Roman arbeitet. Sie lebt mit ihrer Familie in München.

Fünf Monate zuvor
Oktober 1946, Wulfskate


1


Silke zog an der verdorrten Pflanze und legte sie zur Seite. Die Kartoffeln darunter schob sie auf einen Haufen, wühlte in der Erde nach mehr und befreite sie vom groben Schmutz. Erst dann warf sie die Knollen in den Kartoffelkorb. Aber nicht alle. Nie alle. Eine, manchmal zwei Knollen pro Pflanze beließ sie in der gelockerten Erde, gerade so tief, dass sie geschützt waren vor Licht, vor Tieren und vor den Augen des Bauern.

Ein Tropfen benetzte ihre Hand. Sie blickte zum Himmel. Dunkle Wolken zogen gen Norden. Mehr als einen kurzen, heftigen Schauer würden sie nicht hergeben. Viel zu wenig für das vertrocknete Land, jedoch genug, um ihre Kleider zu durchnässen und sie die nächsten Stunden jeden Zentimeter des nassen Stoffes auf ihrem dürren Körper spüren zu lassen.

Die Tropfen fielen nun schneller, sie prasselten auf ihren Kopf, ihren Rücken, auf die Erde um sie herum. Die Wolle ihrer groben Arbeitsbluse sog sich unerbittlich voll und klebte schwer und kratzig auf ihrer Haut. Sie stieß die Harke zurück in den bereits gelockerten Boden und spürte, wie der Regen ihn verdichtete. Spürte die feuchte, lehmige Erde, roch den schweren, modrigen Dunst. Schon erwachten in ihr die Bilder, die sie jeden Morgen so sorgsam wegsperrte wie früher die Tageseinnahmen nach Ladenschluss.

Unaufhaltsam marschierten die Toten vor ihrem inneren Auge. Alte, Junge, Kinder, so viele Kinder, links und rechts der Straße, zurückgelassen, schutzlos der Natur übergeben, ohne Sarg, ohne Priester, ohne ordentliches Grab, oft nackt auf dem brachen Boden der wüsten Äcker. Sie sah die wachsig-gelben Hände des Vaters, so real, als beugte sie sich gerade erst über ihn, um auf immer Abschied zu nehmen.

Sie verharrte in ihrer Bewegung, das verdorrte Kartoffelkraut in ihrer Hand wie einen Blumenstrauß.

»Silke? Was ist los?« Rosemarie ließ ihre Grabgabel ebenfalls ruhen. »Schmerzt dein Rücken? Soll ich alleine weitermachen?«

Silke schüttelte den Kopf. Natürlich schmerzte ihr Rücken. Aber wie sollte sie genug Kartoffeln beiseiteschaffen, wenn sie jetzt aufhörte? Wovon sollte sie dann die Extraportionen bezahlen, ohne die sie nicht überleben würden?

»Alles gut.« Sie spürte Rosemaries prüfenden Blick. »Alles gut, habe ich gesagt!« Unwirsch bohrte Silke die Harke in den Boden.

Rosemarie zuckte die Schultern und drückte die Grabgabel hoch. Summend lockerte sie die Erde um die nächste Kartoffelpflanze, die immer gleiche Bewegung, das immer gleiche Geräusch. Nur die Melodien, die Rosemarie vor sich hin summte, wechselten. Stetig arbeiteten sie weiter. Ein eingespieltes Team. Schwestern, die niemand für Schwestern hielt.

Silke, blond, blauäugig, schmallippig, die Ältere, die seit ihrem sechzehnten Lebensjahr im elterlichen Betrieb gearbeitet hatte, die erste und letzte Frau, die den Familienbetrieb führte, die immer alles unter Kontrolle hatte, sogar den Diebstahl erdiger, mickeriger Kartoffeln, denen der Hitzesommer die Kraft geraubt hatte.

Und Rosemarie, dunkelhaarig und braunäugig, mit ihren vierundzwanzig Jahren fast zwölf Jahre jünger. Die Singende, die jeden Tag so nahm, wie er eben kam.

Silke hob den Kopf und beobachtete ihre Schwester. Sie beneidete Rosemarie um die Leichtigkeit, mit der sie die Grabgabel bediente, obwohl sie genauso hungrig und müde und unterkühlt sein musste wie sie selbst. Es wirkte, als wöge die Gabel kaum mehr als ein paar Gramm, als wäre die Erde federleicht und locker. Alles wirkte bei Rosemarie leicht und locker und spielerisch. Selbst die nassen Strähnen, die sich aus ihrem dichten Zopf gelöst hatten und ihr Gesicht umrahmten, als wären sie Teil einer besonders extravaganten Frisur.

»Wie es Anna jetzt wohl geht?«, fragte Rosemarie unvermittelt.

Anna. Ob Rosemarie jemals aufhören würde, sich diese Frage zu stellen?

»Wir hätten sie nicht dieser schrecklichen Frau überlassen dürfen.« Rosemarie zog eine Grimasse.

»Mit vierzehn kann sie nicht für sich selbst sorgen«, sagte Silke. »Diese Frau hat nur ihre Pflicht getan. Und wir ebenso. Anna gehört ins Waisenhaus.«

»Pflicht!« Rosemarie spie das Wort regelrecht aus. »Ich kann es nicht mehr hören! Wir erschießen Menschen und sagen, es ist unsere Pflicht als Soldat, wir verraten Freunde und sagen, es ist unsere Pflicht als Patriot, wir schicken verängstigte Kinder zu schrecklichen Frauen in noch schrecklichere Heime und sagen, es ist unsere Pflicht. Pfeif auf die Pflicht! Sie bringt nichts als Elend!«

Silke presste die Lippen zusammen. Was sollte sie darauf auch sagen?

»Du hättest sie als deine Tochter ausgeben können.«

»Rosemarie!« Silke erhob sich. Ihre Knie knackten, ihr Rücken war so steif, dass sie ihn nach dem langen Bücken kaum strecken konnte. »Du weißt nicht, was du da sagst!«

»Ich hätte es getan.« Rosemarie stieß die Grabgabel bis zum Stiel in den Boden. »Du bist sechsunddreißig, du könntest ihre Mutter sein. Ich nicht.«

»Es wäre nicht recht gewesen.« Silke sah zu Boden. Es stimmte. Sie hätte Anna als ihr Kind ausgeben können, zumal das Mädchen keine Sekunde gezögert hätte, um sie als Mutter zu bestätigen. Sie hätte nur sagen müssen, dass sie die Papiere auf der Flucht verloren hatte. Hätte … Aber sie hatte nicht. Weil es nicht recht gewesen wäre? Weil sie Angst gehabt hatte, für noch eine Person mehr verantwortlich zu sein? Oder war es die harsche Autorität der resoluten Frau in dem strengen Kostüm aus derbem Leinen gewesen? Silke nickte, als müsste sie es sich selbst bestätigen. Keinen Moment hatte sie daran gezweifelt, dass es richtig war, Anna in ihre Obhut zu geben, so wie es das Gesetz vorsah.

»Ein Kind vor dem Heim zu bewahren ist also falsch, dem Kind seine Eltern zu nehmen Soldatenpflicht.« Rosemarie schüttelte verächtlich den Kopf. »Es wäre nur eine winzige weitere Lüge in dem Meer von Lügen gewesen, in dem wir seit Jahren schwimmen.« Ihre Augen wurden feucht. »Aber du hast dich ja so gerne belügen lassen! Du hast ihm sogar noch zugejubelt, diesem Verbrecher und seinen Verbrecherschergen!«

Silke umklammerte die Grabgabel. Ja, Rosemarie hatte recht. Sie hatte Hitler und den Seinen zugejubelt, war stolz gewesen, wenn die Frauen der hohen Nationalsozialisten zu ihnen ins Geschäft kamen. Sie hatte den Führer gefeiert. Als Erlöser aus der Not, als Retter vor den immer dreister werdenden Annexionsdrohungen der Polen, als Befrieder des Chaos, das die Roten in der Stadt anrichteten. Sie hatte ihm geglaubt, ihm und Reichsminister Dr. Goebbels, als er ihnen unter wehenden Fahnen bei der Feier der Gaukulturwoche im Juni 1939 auf dem Theaterplatz Zuversicht gab. Sie hatte Fahnen geschwenkt bei dem alle Herzen ergreifenden Freudenfest, als Danzig heimkehrte ins Deutsche Reich, und auch, als der Führer zu Besuch kam. Es war einer der aufwühlendsten Momente ihres Lebens gewesen, nie würde sie seine Worte vergessen: »Danzig war deutsch, Danzig ist deutsch geblieben, und Danzig wird von jetzt ab deutsch sein, solange es ein deutsches Volk gibt und ein Deutsches Reich.« Und nun, am Ende all dieser großen Ereignisse, die sie als richtig und gut empfunden hatte, stand schließlich die Katastrophe? Was war nur falschgelaufen, dass die Heimat nun verloren war?

»Silke?«, unterbrach Rosemarie ihre Gedanken.

»Niemand hat gewusst, niemand konnte wissen, dass sie am Ende das Gegenteil dessen bewirken, was sie uns versprochen hatten.«

»Silke, du bist den Nazis gram, weil sie den Krieg nicht gewonnen haben. Wann wirst du endlich einsehen, dass sie ihn gar nicht hätten beginnen dürfen? Wann gibst du endlich zu, dass sie Verbrecher sind, dass sie Millionen unschuldige Menschen auf dem Gewissen haben?«

Silke seufzte. Nein, das wollte sie sich einfach nicht vorstellen. Rosemarie war noch nie gut auf die Nazis zu sprechen gewesen, und das konnte doch nicht sein. Das hätte sich doch herumsprechen müssen! Hinter all diesen glücklichen Fügungen, hinter den Feierstunden des Reiches und der pompösen Fassade der Hakenkreuzbanner und der jubelnden Massen sollten unfassbare Gräueltaten verübt worden sein? »Nein, Rosemarie, ich kann mir das einfach nicht vorstellen. Das hätten wir doch wissen müssen. Niemand hat das gewusst.«

Rosemarie lachte verächtlich auf. »Noch so eine Lüge, die uns so leicht über die arischen Lippen kommt.«

»Ich habe es wirklich nicht gewusst.«

»Weil du es nicht wissen wolltest. Es wäre zu unbequem gewesen, dein Gewissen damit zu belasten – oder hättest du Gauleiter Forster und seine Frau auch so angehimmelt, wenn du gewusst hättest, wie viel Blut an ihren Händen klebt?«

»Ich weiß es nicht.« Silke trat einen Schritt auf Rosemarie zu. »Aber du hast recht, ich wollte es nicht wissen. Ich habe weggesehen, als immer mehr unserer jüdischen Kunden ausblieben. Das war eben so, und mit all den Geschichten über die Juden … Rosemarie, du weißt, ich habe noch nie einen Menschen beschimpft oder schlecht behandelt, auch keine Juden, aber nach allem, was man über sie gehört hat, waren sie mir auch nicht mehr ganz geheuer.«

Rosemarie sah sie spöttisch an. »Nicht ganz geheuer? War es nicht vielleicht eher praktisch, dass die jüdische Konkurrenz plötzlich einfach weg war und Vater ihre Bestände billig bekommen konnte?«

»Das … Das …« Silke rang um die richtigen Worte. »Hätte Vater sie der Konkurrenz überlassen sollen? Nicht er hat die Läden der Juden geschlossen. Als hättet ihr es besser gewusst, du und Malte. Habt ihr etwa geahnt, was...

Erscheint lt. Verlag 21.9.2021
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1945 • 1946 • bücher für frauen • bücher historische romane • Der Angstmann • Die geliehene Schuld • Frauenroman • Hamburg • Historienroman • Historische Romane • historische romane bücher • historische romane neuerscheinungen • Historischer Roman • historischer roman buch • Hunger • Hungerwinter • Nachkriegszeit • Roman • Roman Frauen • Schwarzmarkt • Schwestern • Trümmerkind • Überleben • Winter • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-7499-5079-2 / 3749950792
ISBN-13 978-3-7499-5079-9 / 9783749950799
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