100 Autorinnen in Porträts (eBook)
592 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99924-3 (ISBN)
Verena Auffermann, geb. 1944 in Höxter, wurde nach einer Buchhandelslehre und einem Studium der Kunstgeschichte neben ihrer Tätigkeit als Dozentin und Herausgeberin vor allem als Kritikerin bekannt. Sie schrieb u.a. von 1981 bis 1996 als freie Mitarbeiterin für das Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Von 1984 bis 2004 war sie Kulturkorrespondentin der Süddeutschen Zeitung. Außerdem arbeitete sie für diverse Feuilletons und Kultursendungen, für den Hessischen Rundfunk, Die Zeit, die Zeitschrift Literaturen und das Deutschlandradio in Köln und Berlin.
Leïla Slimani geb. 1981
Die Botschafterin
Leïla Slimani war 2014 auf einmal da mit einer klaren, harten, fast atemlosen und zugleich berührenden Sprache, mit der sie sofort einen völlig eigenen Ton gefunden hatte. Und sie fiel auf mit einem Sujet, das den Erwartungen zuwiderlief. Die junge französisch-marokkanische Schriftstellerin schrieb in ihrem ersten Roman All das zu verlieren über eine sexsüchtige Frau. Eine, die gar nicht anders kann, als sich immerzu auszuliefern und zu verausgaben, sich zu verletzen und sich verletzen zu lassen, ruhelos, getrieben, die überall mit Männern schläft und immer härter, während sie zugleich ein bürgerliches Leben führt, in Paris als Journalistin arbeitet, mit einem Arzt verheiratet ist, der von ihrer Nymphomanie nichts weiß und mit ihr einen kleinen Jungen hat.
»Warum haben Sie Ihr erstes Buch über eine Nymphomanin geschrieben?«, wurde Slimani gefragt, als sie zwei Jahre später den renommierten Prix Goncourt für ihren Roman Dann schlaf auch du schon gewonnen hatte. Und Leïla Slimani fragte zurück: »Warum nicht?« Von Anfang an habe sie keine Lust gehabt auf »diese Idee der Frau als positive Figur«, sondern habe über eine Frau schreiben wollen, die feige sei und schwach, die lügt und zerstört. »Nur wusste ich lange nicht, was der Motor meiner Antiheldin sein könnte.« Dann habe sie eine Dokumentation über Dominique Strauss-Kahn, den ehemaligen Direktor des Internationalen Währungsfonds, und dessen Sexsucht gesehen. »Und da wusste ich, dass ich über eine Frau schreiben will, die unter diesem Zwang leidet.« Sie habe viel recherchiert, viele Berichte gelesen, mit Betroffenen in Foren gesprochen. Die Verzweiflung dieser Menschen sei entsetzlich. Sie verspürten ständig den Drang, von einem anderen Körper gepackt zu werden, müssten sich fühlen und empfänden dabei am Ende aber überhaupt nichts. »Es ist einfach nie genug, nie.«
Dominique Strauss-Kahn, dem vor seinem Sexskandal im Jahr 2011 sogar Chancen auf das französische Präsidentenamt eingeräumt worden waren, wurde während einer privaten Reise am John-F.-Kennedy-Flughafen in New York wegen des Vorwurfs versuchter Vergewaltigung, sexueller Belästigung und Freiheitsberaubung eines Zimmermädchens des New Yorker Hotels Sofitel festgenommen. Um Vergewaltigung und Freiheitsberaubung allerdings geht es in dem, was Leïla Slimani schildert, nicht. Adèle, wie ihre weibliche Hauptfigur heißt, hat innerhalb des Kontextes, in dem sie arbeitet, keine Machtposition inne und bringt nicht andere unter ihre Kontrolle, indem sie ihnen Gewalt antut (die Strauss-Kahn abstritt und für die er strafrechtlich nicht belangt werden konnte). Vielmehr lässt sich das, was sie vollzieht und was Slimanis Roman seriell schildert, eher in der paradoxalen Figur der versuchten Selbstermächtigung durch Selbsterniedrigung beschreiben: Adèle erobert reihenweise Männer. Aber es ist eben nicht nur der befreundete Kollege, durch den ihr Doppelleben irgendwann auffliegt. Es sind auch bezahlte Männer, von denen sie sich brutal schlagen lässt: »Sie war es, die gesagt hat: ›Das reicht nicht‹, die geglaubt hatte, mehr ertragen zu können. Fünfmal, vielleicht zehn-, hat er ausgeholt und sein spitzes knochiges Knie auf ihre Scheide krachen lassen.« Oder, schon früher, noch bei ihren Eltern, der Nachbar aus dem achten Stock, »der so fett ist, dass Adèle Mühe hatte, sein Glied unter den Falten seines Bauches zu finden. Sein Glied, das schwitzte unter seinem Fett und glühte vom Scheuern der enormen Schenkel«.
Leïla Slimani wuchs mit ihren beiden Schwestern in Rabat auf. Ihre Mutter, eine Elsässerin mit algerischen Wurzeln, war Ärztin. Ihr Vater von 1977 bis 1979 Wirtschaftsminister von Marokko, später leitete er eine Bank. Im Elternhaus wurde Französisch gesprochen. Nach der Schule ging sie zum Studium nach Paris an die Eliteuniversität Sciences Po und berichtete als Journalistin für die Zeitschrift Jeune Afrique über nordafrikanische Themen. Als sie ihren ersten Roman veröffentlicht hatte, ging sie auch auf Leserreise nach Marokko. Damals kamen Frauen auf sie zu und erzählten ihr von ihrem Verhältnis zum Sex. Obwohl sie in den Städten lebten und emanzipiert waren, fühlten diese Frauen sich nicht frei. Es gibt immer noch Gesetze, nach denen Menschen für vor- oder außerehelichen Sex eingesperrt werden können. Sie werden selten angewandt, aber sie sind da. Und so berichteten ihr die Frauen, wie sie unter dem ständigen Versteckspiel litten. Manche hatten sich sogar ihre Jungfräulichkeit zurückbilden lassen, um einen Ehemann zu finden.
Sex und Lügen heißt das Buch, das Leïla Slimani aus diesen »Gesprächen mit Frauen aus der islamischen Welt« gemacht hat. Sie hat darin auch auf Adèle Bezug genommen. Denn für sie steht ihre weibliche Hauptfigur, die im Roman maghrebinische Wurzeln hat, für Marokko und seine Schizophrenie. Das Ehe-, Familien- und Erbrecht beruht noch immer auf der Scharia. Zugleich sind die Marokkaner große Pornokonsumenten. Abtreibungen sind verboten. Slimani zufolge werden davon täglich aber um die 600 vorgenommen. »Mein erster Roman«, schreibt sie in Sex und Lügen, »ist deshalb keine Ausnahmeerscheinung. Ich würde sogar sagen, es ist kein Zufall, dass ich eine Frau wie Adèle erschaffen habe: eine frustrierte Frau, die lügt und ein Doppelleben führt. Eine Frau, die von Gewissensbissen und ihrer eigenen Unaufrichtigkeit zerfressen ist, die Verbote umgeht und keine echte Lust empfindet. Adèle ist in gewisser Weise eine etwas überspannte Metapher für die Sexualität junger Marokkanerinnen.«
Dass ihr erster Roman dennoch sehr wohl eine Ausnahmeerscheinung ist, liegt an diesem schnellen, direkten Slimani-Ton, der auf Umschweife gerne verzichtet. Es ist eine Sprache, für die sie 2016 für Dann schlaf auch du – das Buch verkaufte sich in Frankreich über eine Million Mal und wurde in 40 Sprachen übersetzt – den Prix Goncourt bekam. Diesmal allerdings ging es nicht um Sex, sondern um Mord: »Das Baby ist tot«, lautet der erste Satz des Romans, ein paar Absätze weiter erfährt man, dass auch die Schwester des Babys ihren Verletzungen erliegen wird. Zwei Kinder sterben, erstochen von ihrer Nanny auf den ersten drei Seiten. Dann geht Slimani in der Zeit zurück, erzählt vom sehr normalen Alltag einer ganz normalen Familie: Paul und Myriam sind »Bobos«, wie man sie treffender nicht beschreiben könnte. Sie sind beide Mitte dreißig, Paul ist Musikproduzent, Myriam Juristin, sie leben im 10. Arrondissement in Paris. Als sie Kinder bekommen, suchen sie eine Nanny – und finden Louise.
Den Plot für ihren Roman hatte Slimani einige Jahre zuvor in einer Zeitung gefunden: 2012 erstach eine Nanny in der Upper East Side die beiden Kinder, auf die sie aufpasste. Ohne Motiv und ohne Grund. Sie hatte Geldprobleme und fühlte sich in eine Sackgasse gedrängt. Leïla Slimani erinnerte die Meldung an Emmanuel Carrère und seinen Non-Fiction-Roman Amok, in dem ein Mann eines Tages seine gesamte Familie niedermetzelt, nur dass Slimani ihre eigene Perspektive fand – als Frau, Ehefrau, Mutter und Schriftstellerin. Sie erzählt die Kindsmordgeschichte vor dem Hintergrund der Klassenfrage und verarbeitet Anspielungen auf »Nanny-Geschichten« der Film- und der Literaturgeschichte: von der amerikanischen Filmproduktion »Die Hand an der Wiege« bis hin zu Pamela Travers’ Mary Poppins.
Ende 2017 ernannte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron Slimani – nachdem sie einen Posten als Ministerin für Kultur abgelehnt hatte – zu seiner persönlichen Beauftragten zur Pflege des französischen Sprachraums. Dabei sollte sie »das Verhältnis zwischen Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien verändern und es auf Augenhöhe heben«. Macron hatte bereits auf der Frankfurter Buchmesse, deren Gastland Frankreich 2017 war, Slimanis Namen exemplarisch für seine Überzeugung genannt, »dass Lesen und Literatur einer Gesellschaft dabei helfen können, sich besser zu verstehen«. Die Schriftstellerin, die sich parteipolitisch nicht engagiert, hatte Macron und seine Bewegung »En Marche« im Wahlkampf gegen den rechten Front National unterstützt und der Delegation um Macron angehört, die Marokkos König Mohammed VI. und dessen Familie einen Freundschaftsbesuch abstattete.
...Erscheint lt. Verlag | 14.10.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Frauenliteratur • Kanon • Kanon der weiblichen Literatur • Klassiker der Weltliteratur • Leseempfehlung • Literarischer Kanon • Schriftstellerinnen • weiblicher Kanon • Weibliches Schreiben |
ISBN-10 | 3-492-99924-7 / 3492999247 |
ISBN-13 | 978-3-492-99924-3 / 9783492999243 |
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