Was bleibt, wenn alles verschwindet (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1., Originalausgabe
367 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-76898-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Was bleibt, wenn alles verschwindet - Hermien Stellmacher
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Beste Freundinnen seit über dreißig Jahren: Ruth und Susanne haben alles miteinander geteilt, doch nun wird ihre Freundschaft nicht mehr dieselbe sein. Susanne zeigt erste Anzeichen einer Demenz, die Gedächtnislücken und Aussetzer häufen sich, und sie spürt, dass ihr Leben ihr immer mehr entgleitet. Während Ruth, unterstützt von ihrem Mann und Freunden, alle Hebel in Bewegung setzt, damit es ihrer Freundin auch in Zukunft an nichts fehlen wird, quält die noch eine ganz andere Sorge: Es ist höchste Zeit, Ruth ein gut gehütetes Geheimnis zu offenbaren, das ihrer beider Leben seit langem schicksalhaft miteinander verknüpft. Doch dieses Geständnis könnte die Freundschaft für immer zerstören ...

Ein berührender Roman über die Kraft der Freundschaft und zwei starke Frauen, die dem Schicksal mutig die Stirn bieten.



<p>Hermien Stellmacher, geboren 1959, wuchs in Amsterdam auf. Im Alter von 15 Jahren zog sie nach Deutschland. Sie illustrierte zahlreiche Kinder- und Jugendb&uuml;cher. Seit einigen Jahren schreibt sie haupts&auml;chlich f&uuml;r Erwachsene, zum Teil unter dem Pseudonym Fanny Wagner. Wenn sie nicht gerade in der Provence weilt, lebt sie mit ihrem Mann und zwei Katern in einem kleinen Dorf in der Fr&auml;nkischen Schweiz.</p>

2.


Der Wochenauftakt ließ zu wünschen übrig: Es regnete in Strömen, und Ruth hatte schlecht geschlafen. Müde schloss sie die Tür zum Lehrerzimmer auf. Der Bereich der Pädagogen war dreigeteilt: das eigentliche Lehrerzimmer, die Kaffeeküche mit Bistro-Tischen und Kopierer sowie eine Bibliothek, die neben Büchern der jeweiligen Fachgebiete auch einige PCs beherbergte. Ruth stellte die Tasche auf ihren Platz und grüßte in die Runde.

Die Tische waren in Hufeisenform aufgestellt, die unten eine Lücke aufwies. In der Mitte stand eine weitere Reihe, sodass es von oben betrachtet wie ein riesiges W aussehen musste. Das W von Widerstand ist zwecklos. Oder der erste Buchstabe des Satzes Wir schaffen das!. Ein Motto, das ihnen noch jeder Direktor entgegengerufen hatte, wenn Krankheits- und Schwangerschaftsvertretungen sich häuften. Wobei das Kollegium die Zusatzarbeit zu stemmen hatte, nicht er. Seit ihrem ersten Tag saß Ruth am oberen rechten Ende dieses W, gleich an der Tür. Strategisch gesehen ein hervorragender Platz: Man war schnell bei seinem Stuhl, und noch viel wichtiger: ratzfatz wieder draußen.

Erleichtert, dass der Vertretungsplan keine Zusatzstunden für sie bereithielt, ging Ruth zur Kaffeemaschine. Während ihre Tasse sich füllte, betrachtete sie die Wartenden vor dem Kopierer. Mathe-Olaf vollzog einen Balztanz mit der langbeinigen Referendarin; Thea erzählte Horrorstorys über ihre Schwiegermutter und Harald zog über die Schüler einer ihm verhassten Klasse her. Nur Isa hielt schweigend ihren signalroten Aktenordner vor den Babybauch, als wollte sie das Ungeborene vor dem Geschwätz schützen.

Das brummende Gerät spuckte ein Blatt nach dem anderen aus. Doch jedes abweichende Geräusch ließ die Wartenden sofort aufhorchen. Alle wussten, wie launisch dieser Apparat war und welche Auswirkungen ein Papierstau auf die vorbereiteten Unterrichtsstunden haben konnte.

Es war Ruth schleierhaft, warum nicht schon zahlreiche Doktorarbeiten zum Thema »Biotop Lehrerzimmer« verfasst worden waren. Sie kannte keinen anderen Ort, an dem sich innerhalb kürzester Zeit so viele Daten zu bizarrem Verhalten zusammentragen und verwerten ließen. Die Recherche ließ sich sogar locker neben dem regulären Job erledigen. Mit anderen Worten: Die fertige Promotion lag quasi auf einem Silbertablett bereit.

Sie ging mit dem dampfenden Kaffee zu ihrem Stuhl zurück. Auch Ingrid, die Susannes Platz geerbt hatte, war inzwischen eingetroffen. »Und? Wie war euer Wochenende?« Sie sah Ruth neugierig an. »Wo seid ihr diesmal gelandet?«

»Der Anfang war filmreif.« Ruth erzählte von der geplatzten Revolution im russischen Schwarzwald und den Wanderungen, die sie unternommen hatten.

Ingrid lachte. »Schön, dass es Susanne so gut geht.«

Ruth nickte nachdenklich. Das stimmte durchaus. Doch etwas beunruhigte sie schon seit Längerem. Jeder vergaß mal ein Wort, aber einen Begriff wie Steuererklärung …

»Meinst du, man könnte sie überreden, mal in die Schule zu kommen?«, fragte Ingrid. »Die Schüler der Anti-Mobbing-AG planen einen Aktionstag und möchten Susanne über die Anfänge der Gruppe interviewen. Sie wüssten gern, ob es einen speziellen Grund gab, warum Susanne sie ins Leben gerufen hatte, und welche Probleme damals im Vordergrund standen. Als ihre Nachfolgerin würde mich das auch interessieren.«

»Schick ihr einfach eine Mail und frage sie«, sagte Ruth. »Wenn es sich machen lässt, kommt sie bestimmt.«

Während sie sich auf den Weg zur ersten Stunde machte, erinnerte sie sich daran, wie ungewohnt das erste Schuljahr ohne Susanne gewesen war. Noch immer ertappte sie sich an manchen Tagen dabei, dass sie sich freute, ihre Freundin gleich im Lehrerzimmer zu treffen, hielt auf der Treppe nach ihr Ausschau. Natürlich gab es auch andere Kollegen, mit denen sie ein freundschaftliches Verhältnis pflegte, aber mit niemandem war es so, wie es mit Susanne gewesen war.

Mit diesen Gedanken war sie vor dem Klassenzimmer angekommen und scheuchte zwei Nachzügler hinein. Als sie die Tür hinter sich schloss und ihre Tasche auf das Pult stellte, wurde es ruhig im Raum. Die Arbeitswoche hatte begonnen.

Nach der Doppelstunde Kunst war Ruths Müdigkeit verflogen. Die Arbeit an den Clips hatte sowohl den Schülern als auch ihr großen Spaß gemacht und bestätigte erneut, dass sie den richtigen Beruf gewählt hatte. Geschickt kämpfte sie sich durch die ihr entgegenkommenden Schülerströme, die in Richtung Kiosk und Schulhof unterwegs waren.

Auch im Lehrerzimmer wurde die kurze Pause genutzt, um Hunger und Durst zu stillen. Ein spendierter Kuchen wurde freudig geplündert, dem großzügigen Geburtstagskind gratuliert.

»Eine Tasse Kaffee in der einen und ein Stück Kuchen in der anderen Hand – eine ausgeglichene Ernährung, wie ich sie schätze«, sagte Ruth, nachdem sie ihre Kollegin in die Arme geschlossen hatte.

»Da muss ich Ihnen widersprechen«, sagte Hajo Brose, der schulinterne Gesundheitsapostel. »Zucker ist die Geißel der modernen Gesellschaft. Doch auch ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute, Frau Peetz. Bitte haben Sie Verständnis, dass ich Ihnen nicht die Hand schüttele. Zu dieser Jahreszeit ist mir das Risiko, einen Schnupfen zu bekommen, zu groß. Aber das dürfte Ihnen ja bekannt sein, nicht wahr?«

O ja, das wussten sie seit Langem. Jedes Jahr ritt Brose auf dieser Nummer herum und wohlweislich ging niemand mehr auf seine Ausführungen ein. Bis auf eine unwissende Referendarin, die ihn in eine leidenschaftliche Diskussion über die Kraft der Homöopathie verwickelte. Ruth wusste, dass diese es später bereuen würde, denn Brose verpasste keine Gelegenheit, über das Für und Wider von Schul- und Alternativmedizin aufzuklären und seinen Standpunkt mit zig kopierten Zeitungsartikeln zu untermauern.

Ruth nippte an ihrem Kaffee und dachte an eine Konferenz zurück, in der Susanne Brose in Angst und Schrecken versetzt hatte. Sie hatte ihm lange die Hand geschüttelt und unter dem Siegel der Verschwiegenheit von einer hochansteckenden Krankheit berichtet, die gerade in ihrer Familie grassierte. Was es genau gewesen war, wusste Ruth nicht mehr. Wohl aber, dass Brose, der sonst zu ausufernden Kommentaren zu den einzelnen Schülerfällen neigte, die Schule an diesem Tag nicht schnell genug verlassen konnte.

Als die meisten Kollegen wieder in ihre Klassen verschwunden waren, setzte Ruth sich in die Bibliothek. Der Raum war leer, bis auf Huber, der verbissen auf die Tastatur einhackte. Statt ihren Gruß zu erwidern, brummte er wilde Verwünschungen Richtung Bildschirm. Ruth überlegte, ob sie ihm zur Besänftigung ein Stück Kuchen hinstellen sollte, doch sie verwarf die Idee. Menschen wie Huber waren unberechenbar. Es kam durchaus vor, dass er sich freundlich benahm. Doch meistens tat er so, als würde die gesamte Last der Menschheit auf seinen Schultern ruhen und nur er etwas arbeiten.

Aus diesem Grund beachtete Ruth ihn nicht weiter. Sie nahm einen Stapel Deutschaufsätze aus der Tasche und begann mit den längst fälligen Korrekturen. Es war jedoch schwer, sich zu konzentrieren, denn Huber redete immer ausfälliger auf den Monitor ein. Bis er mit Schwung eine Taste anschlug und auf den Drucker starrte. Nichts passierte.

»Das gibt es doch nicht!« Er fuhr so schnell hoch, dass sein Stuhl nach hinten umfiel. »Nie funktioniert hier etwas, wenn man in Eile ist!« Wieder schlug er auf die Taste ein. »Nie!«

Ruth dachte an ihre These zur Doktorarbeit. Sie machte sich nichts aus so einem Titel, aber wäre es nicht doch einen Versuch wert? Sie müsste hier nur etwas mehr Zeit verbringen und mitschreiben.

»Ist der Drucker überhaupt eingeschaltet?«

Ihre Frage ließ Huber herumfahren. »Ob der Drucker eingeschaltet ist?«, fauchte er. »Für wie dumm halten Sie mich denn? Dieser Drucker ist immer an! Immer!«

Ruth stand auf und besah sich das Gerät. Dann drückte sie einen Knopf an der Seite. Sekunden später war ein Brummen zu hören, und es dauerte nicht lange, bis mehrere Blätter im Ausgabefach lagen. Ohne Kommentar setzte sie sich wieder an ihren Platz. Huber griff sich die Seiten und rannte wütend zum Kopierer.

...

Erscheint lt. Verlag 18.7.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alter • Altern • Alzheimer • Arno Geiger • Berührend • beste Freundinnen • Bettina Tietjen • Brief • Cottage mit Kater • Demenz • Der Geschmack von Apfelkernen • Der vergessliche Riese • Die Katze im Lavendelfeld • einfach unvergesslich • Elizabeth wird vermisst • Emma Healey • Emotionen • Erinnerung • Frauenfreundschaft • Frauengeschenk • Frauenliteratur • Frauenroman • Freundinnen • Freundschaft • Gefühle • Geheimnis • Geschenke für Frauen • Geschenk für Frauen • Geschenk für Großmutter • Großeltern • insel taschenbuch 4852 • IT 4852 • IT4852 • Krankheit • Liebe • Menschen • Nicholas Sparks • Rowan Coleman • Rührend • Schicksal • Solange am Himmel Sterne stehen • Starke Frauen • Still Alice • the notebook • unter Tränen gelacht • Vergessen • Wie ein einziger Tag
ISBN-10 3-458-76898-X / 345876898X
ISBN-13 978-3-458-76898-2 / 9783458768982
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