Die Erinnerung an unbekannte Städte (eBook)

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2021 | 1. Auflage
272 Seiten
Verlag Antje Kunstmann
978-3-95614-470-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Erinnerung an unbekannte Städte -  Simone Weinmann
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Nathanael ist fünfzehn, als seine Eltern ihn aus der Schule nehmen, obwohl er ein so begabter wie wissbegieriger Schüler ist und unbedingt Arzt werden möchte. Aber seine Mutter hat eine Laufbahn als Prediger für ihn vorgesehen, und Universitäten gibt es nicht mehr. Oder doch? Nathanael hat von einem Polytechnikum in Italien gehört und beschließt, dorthin aufzubrechen. Auch Vanessa, eine Mitschülerin, will weg aus der Enge des Dorfs. Bei Nacht und Nebel brechen sie gemeinsam auf. Als man ihre Abwesenheit entdeckt, wird ihnen Lehrer Ludwig nachgeschickt. Anders als die Jugendlichen erinnert er sich noch an die Zeit vor der Katastrophe und hofft auf keine Besserung mehr. Seine Schüler aber kann er nicht im Stich lassen, und der Weg durchs gesetzlose Gebiet ist gefährlich. In ihrem spannenden dystopischen Roman erzählt Simone Weinmann von einer Welt, die nur noch entfernt der unseren ähnelt: Worauf werden die Menschen bauen, wenn sie den technischen Fortschritt verlieren, wenn es keinen Strom mehr gibt? Werden sie sich an den Glauben klammern oder von Wissensdurst getrieben ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen? Leise und tastend, aber umso eindringlicher schildert Simone Weinmann ein archaisches Leben, in dem der Verlust gesellschaftlichen und technischen Fortschritts erschreckend deutlich wird.

Simone Weinmann hat in Zürich bei Prof. Ben Moore in Astrophysik promoviert und einige Jahre am Max-Planck-Institut München und an der Sterrewacht in Leiden gearbeitet. Heute unterrichtet sie Physik und lebt mit Mann und Kind in Zürich. 2017/2018 war sie Stipendiatin des Roman-Seminars am Literaturhaus München bei Günther Eisenhuber und Annette Pehnt. 'Die Erinnerung an unbekannte Städte' ist ihr erster Roman.

Simone Weinmann hat in Zürich bei Prof. Ben Moore in Astrophysik promoviert und einige Jahre am Max-Planck-Institut München und an der Sterrewacht in Leiden gearbeitet. Heute unterrichtet sie Physik und lebt mit Mann und Kind in Zürich. 2017/2018 war sie Stipendiatin des Roman-Seminars am Literaturhaus München bei Günther Eisenhuber und Annette Pehnt. "Die Erinnerung an unbekannte Städte" ist ihr erster Roman.

I


WINTER


 

Anatomie


Augenlieder mit ie. Schon wieder ein Rechtschreibfehler im heiligen Text. Nathanael blickte zwischen der Vorlage und seiner Abschrift hin und her. Er hatte das Wort unwillkürlich richtig geschrieben. Er schüttelte den Kopf über sich selbst. Jetzt würde er die letzten Buchstaben mit dem kleinen brüchigen Gummi ausradieren müssen, was schwierig war, weil das Papier leicht zerriss. Erst ein paar Zeilen weiter oben hatte er eine der Markierungen korrigieren müssen und beinahe ein Loch ins Papier gemacht. Eine fehlplatzierte Unterstreichung, und der Text war entweiht, weil der Vorleser dann an der falschen Stelle die Hände zum Himmel hob. Aber warum man auch die Schreibfehler beibehalten musste, hatte er nie verstanden.

Nathanael legte den Stift und den Radiergummi hin, stand auf und streckte sich. Durch das kleine Fenster des Dachzimmers sah er auf die verschneite Straße. Sie war voller Fußspuren, aber menschenleer. Schnee lag auf den Dächern und zwischen den Mauern der verfallenen Häuser. Im ersten Stock des Hauses gegenüber bewegte sich hinter den Fenstern ein schwaches Licht. Jemand war mit einer Kerze unterwegs, obwohl es bald Mittag sein musste, so trübe war der Tag. Vielleicht Sarah. Ob sie die Öllampe auf seinem Pult auch flackern sah?

Nathanael hörte die schnellen Schritte der Mutter auf der Treppe, dann klopfte es. Bevor er antworten konnte, öffnete sich die Tür. Die Mutter trug eine weiße Schürze über ihrem langen dunklen Kleid. Vom Kochen hatte sie Flecken auf den Wangen.

»Bist du fertig? Das Essen ist gleich so weit.«

»Noch nicht.«

»Erst auf Seite 38? Was stehst du da am Fenster und trödelst?«

Nathanael schwieg.

»Ich werde dir das Mittagessen beiseitestellen.«

»Kann ich nicht nachher weiter abschreiben?«

Zwischen den Brauen der Mutter erschien eine steile Falte. »Nein. Die Prophetin zählt auf uns.«

Die Prophetin kümmerte es bestimmt nicht, ob Nathanael die Abschrift heute oder morgen fertigstellte. Sie hatte sich in den Wald zurückgezogen, und wer wusste schon, was sie dort tat. Aber er hatte sich vorgenommen, der Mutter zu gehorchen oder zumindest so zu tun.

Die Mutter schloss die Tür wortlos. Nathanael setzte sich ans Pult und nahm den Stift in die Hand, legte ihn dann aber doch wieder weg. Er streifte seinen rechten Schuh ab, krallte seine Zehen in den Griff der untersten Schublade und zog sie auf. Hier hatte er das Buch aufbewahrt.

Auf dem Titelbild war ein Mensch ohne Haut abgebildet gewesen, mit braunen Muskeln und blauen Adern. Aber am besten hatte ihm die Doppelseite über das menschliche Herz gefallen. In der Mitte prangte ein schön gezeichnetes rosafarbenes Herz, das vom Seitenfalz durchteilt wurde. Eine kleine Fotografie unten links zeigte eine Operation am offenen Herzen. Die Chirurgen trugen Kittel und Kappen in blassem Grün und enge Handschuhe. Durch Brillen mit kleinen aufgesteckten Zylindern blickten sie in die klaffende Wunde, die mit einem Metallgestell offen gehalten wurde. Ein Chirurg tippte mit einem Stift in die Mitte der Wunde, als setzte er dazu an, ein Wort ins Herz zu schreiben.

Wenn er nur das Bild noch einmal anschauen könnte. Aber er würde das Buch nie wieder in die Hände bekommen. Als die Mutter damit zur Schule geeilt war, war Nathanael ihr gefolgt. Sie war wie von unsichtbaren Fäden gezogen die Treppe hinaufgestiegen, Nathanael hatte kaum mit ihr Schritt halten können. Dann hatte sie die Tür zum Lehrerzimmer aufgerissen und Gruber das Buch vor die Füße geworfen wie etwas Verseuchtes, das sie in ihrem Haus gefunden hatte. Nathanael schob die Schublade mit dem Fuß wieder zu. Er hatte sich für die Mutter geschämt, wie sie Gruber angeschrien hatte. Der Lehrer hatte ihr ruhig zugehört, ohne das Gesicht zu verziehen. Schließlich hatte die Mutter tief durchgeatmet und gesagt, dass ihr Sohn keinen Tag länger in die Schule gehen würde.

Nathanael legte das Handgelenk an sein rechtes Ohr, die Ohrmuschel war kalt. Er trug einen Schal und zwei Pullover. Trotz der niedrigen Temperaturen, die im Dachzimmer herrschten, war er immer gerne in diesem wenig benutzten Raum gewesen, um Hausaufgaben zu machen, hier hatte er seine Ruhe vor Samuel und Elias. Aber heute wollte er nur nach draußen, auf die Straße, eisige Winterluft einatmen, die im Hals schmerzte.

Am Abend, nachdem die Eltern ihn aus der Schule genommen hatten, war Nathanael übel geworden. Es hatte sich angefühlt, als hätte er sich zwischen Bauch und Rippen etwas eingeklemmt. Zwei Tage lang hatte er im Bett gelegen und keinen Bissen heruntergebracht. Es hatte ihm Angst gemacht, aber er hatte kein Fieber und die Mutter machte sich keine Sorgen. »Gott wirkt in dir«, sagte sie. Nathanael ärgerte sich so sehr darüber, dass er sich vornahm, nicht mehr mit ihr zu sprechen. Schließlich hatte er doch wieder damit angefangen, und auch das schrieb sie natürlich Gottes Einfluss zu.

Gott, dachte Nathanael. Er macht, dass mir übel ist und dass ich wieder mit der Mutter spreche. Aber Rahel wollte er nicht retten.

»Als ich jung war, hat kaum jemand an Gott geglaubt«, hatte Gruber einmal gesagt. Nathanael konnte sich das nicht vorstellen. Er nahm den Stift wieder in die Hand und las die nächsten Zeilen im Evangelium.

Schulzimmer


»Die Oortsche Wolke«, sagte Ludwig Gruber. »Da kommen die Kometen her. Das haben wir doch gestern alles besprochen.«

Seine Klasse schlief so früh am Morgen noch, sie war ganz still, auch wenn die meisten Augen täuschend weit geöffnet waren. Draußen dämmerte es.

Aus dem Dorfbrunnen war heute kein Wasser gekommen. Ludwig hasste das Gefühl von ungewaschenen Händen, er wischte sie zum wiederholten Mal an den Seiten seiner Hosen ab. Er schwieg, die Klasse schwieg. Niemand schien sich an dem Schweigen zu stören. Ludwig blickte auf seine Schuhe. Das Leder war von der Kälte rissig geworden, und an einer Stelle begann sich die Sohle zu lösen.

»Nehmt das Buch heraus«, sagte er.

Sekunden verstrichen, bevor der erste Schüler sich rührte, die anderen folgten ihm traumwandlerisch. Wenn sie eine Bewegung nachahmen konnten, mussten sie keine Worte verstehen. Die Bücher waren alt, eines fiel beim Öffnen auseinander. Der Schüler, dem es gehörte, bückte sich ächzend nach den losen Seiten und begann zu husten. Schon den ganzen Winter lang hustete er so.

Während die Schüler das Kapitel lasen oder die aufgeschlagene Seite anstarrten, schaute Ludwig aus dem Fenster. Der Himmel begann von unten hell anzulaufen, es sah aus, als stiege ein Licht hinter einer milchigen Scheibe auf. Ludwig wandte sich zurück zur Klasse, sein Blick fiel auf den leeren Platz am verkratzten Pult vorn links, wo Nathanael gesessen hatte.

»Es ist so langweilig«, flüsterte Sarah ihrer Banknachbarin zu und schaute Ludwig aus trüben Augen an. »Beim Dorffest werden wir …«, und dann wurde ihre Stimme so leise, dass er sie nicht mehr verstand. Immer dieses Dorffest. Es war das Einzige, was die Schüler in der Winterzeit aus ihrer Lethargie zu reißen vermochte. Sie waren schon vierzehn oder fünfzehn Jahre alt und würden die Schule bald für immer hinter sich lassen.

Eine leise Unruhe erfasste die Klasse und ging zwischen den Pulten umher wie eine Person. Ludwig räusperte sich. »Wer fertig ist, beginnt mit den Hausaufgaben. Schreibt eine Seite über Kometen.« Jemand seufzte laut.

Es knallte. Vanessa hatte Peter mit einem zusammengerollten Heft auf den Kopf geschlagen und huschte zurück an ihren Platz. Einige schrieben jetzt mit kratzenden Geräuschen. Peter lächelte, als wäre er glücklich über Vanessas Angriff. Dabei hielt er den Mund geschlossen, sodass seine schiefen Zähne nicht zu sehen waren. Ludwig machte ein paar Schritte auf Vanessas Pult zu und blickte auf ihr Papier. Sie hatte einen Satz geschrieben, ließ aber jetzt ihren Bleistift zwischen zwei Fingern hin- und herwippen und gab vor, Ludwig nicht zu bemerken. Ihre weißblonden gelockten Haare fielen ihr über die Schultern wie ein Umhang, sie sahen ungekämmt aus.

Sarah hatte noch gar nichts geschrieben, sie hatte den Kopf auf die Bank gelegt und die Augen geschlossen. Er ging zu ihr hin und berührte mit der Hand ihre Schulter. Sie zuckte zusammen und sah ihn fragend an. »Du musst mitarbeiten«, sagte er leise.

Als er sich wieder ans Lehrerpult setzte, sah er, dass Sarah sich aufgerichtet hatte und ihn immer noch fixierte, als versuche sie sich zu erinnern, was der Auftrag war. Dann schaute sie aufs Blatt und begann etwas zu kritzeln, das sie mit ihrer Hand vor seinem Blick schützte, wahrscheinlich zeichnete sie etwas.

Ludwig schaute wieder aus dem Fenster. Mittlerweile hatte der Himmel die Farbe angenommen, die er an wolkenlosen Tagen hatte, das gebrochene Weiß eines Mehlteigs. Der Schulhof darunter sah aus wie neu, die Risse im Asphalt waren unter dem Schnee verschwunden.

Es dauerte nur eine kurze Weile, bis die Klasse merkte, dass seine Aufmerksamkeit nicht mehr bei ihnen war. Die Schreibgeräusche erstarben. Jemand kicherte. Ludwig dachte an die Kometen, die weit weg ihre stillen Bahnen durch das Weltall...

Erscheint lt. Verlag 15.9.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2045 • archaisch • Bauern • Belletristik • Blackout • Debüt • Debütroman • Die Erinnerung an unbekannte Städte • Dorf • Dystopie • Fortschritt • Gesellschaft • Glaube • Jugendliche • Katastrophe • Roman • Schüler • Simone Weinmann • Spannung • Strom • Stromausfall • Suche • Technischer Fortschritt • Universität • wissensdurst • Zukunft
ISBN-10 3-95614-470-8 / 3956144708
ISBN-13 978-3-95614-470-7 / 9783956144707
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